jedermensch
 

Jedermensch

Zeitschrift für soziale Dreigliederung, neue Lebensformen und Umweltfragen

Sommer 2002 - Nr. 623


Inhalt

Gewissensbegleitung
Die beiden Treffen, die Anfang Februar 2002 in Amerika stattfanden, hatten Teilnehmer aus unterschiedlichen Kreisen. Politische Häupter und Wirtschaftsführer auf der einen Seite in New York; im südbrasilianischen Porto Alegre trafen sich dagegen Vertreter verschiedenster sozialer und ökologischer Bewegungen zum Welt-Sozial-Forum. Von Jürgen Kaminski

Wenn die Welt ein Dorf wäre
Wenn man die Weltbevölkerung auf ein 100 Seelen zählendes Dorf reduzieren würde

Die Stimme erheben – Volksabstimmung wählen
Aktion zur Bundestagswahl für Nichtwähler und Wähler des omnibus

Keine deutschen Soldaten auf arabische Schlachtfelder
Interessierte Bürgerinnen und Bürger können unterschreiben

(Kein) Friede für den Nahen Osten
Rede von Claudia Haydt – Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - beim Ostermarsch in Stuttgart 30.03.2002

Friedensgruppen in Palästina
Gush-Shalom und Internationales Begegnungszentrum Bethlehem Dar Al-Kalima

Irrsinn ums Landleben
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Der falsche Seuchenumgang der EU
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Bio-Baumwolle bringt in Schwung
Diesen Beitrag von Barbara Wagner können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Verkehrtheiten im Verkehr
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Mysterien des Lebens
Aspekte "männlicher" und "weiblicher" Wissenschaft, von Andreas Pahl

Nachrichten aus dem Eulenspiegel
Diese finden sie ausführlich unter www.eulenspiegel-wasserburg.de

Abschied von Bodensee und Allgäu
Ulle Weber und Traute Nierth, zwei für Anthroposophie und Kunst engagierte Frauen kehren zurück nach Sylt:
Ulle Weber, Regisseurin, bekannt durch den Aufbau der Witthüs-Teestuben auf Sylt, Hamburg am Hauptbahnhof und Witthüs im Hirschpark, Gründungsmitglied des Internationalen Kulturzentrum Achberg und des Humboldt-Kolleg in Achberg/Wangen.
Traute Nierth, Modedesignerin, Mitbegründerin und Schneiderwerkstattleiterin der Wangener Waldorfschule, Rakattlmitarbeiterin, Malerin.
Anlässlich Ihres Abschieds führte Ingrid Feustel mit Ihnen ein Gespräch.

Geboren 1968
Jens Göken  (geboren 1968) Zur Entwicklung und Aufgabe einer Generation

Anthroposophie & jedermensch:
Ein Planet voller Wechselbezüge
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Nachrichten
Eine Fülle von kurzen Nachrichten können Sie in der gedruckten Ausgabe lesen


Gewissensbegleitung

Die beiden Treffen, die Anfang Februar 2002 in Amerika stattfanden, hatten Teilnehmer aus unterschiedlichen Kreisen. Politische Häupter und Wirtschaftsführer auf der einen Seite in New York; im südbrasilianischen Porto Alegre trafen sich dagegen Vertreter verschiedenster sozialer und ökologischer Bewegungen zum Welt-Sozial-Forum. Die Gleichzeitigkeit gegenüber dem nördlichen Welt-Wirtschafts-Forum war gewollt. Die erlesene Crème der Wirtschaftslenker war damit nicht länger allein, sondern bekam ein alternatives Interesse an der Bestimmung und Erörterung von wichtigen Zukunftsfragen an die Seite gestellt.

Bei der vorjährigen Versammlung im schweizerischen Davos hatte es vor den Toren der Konferenz ziemliche Proteste gegeben. Nun, in New York, auch stark unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 stehend, war die Veranstaltung selber deutlich von jenen Appellen geprägt, sich mehr der eigenen wirtschaftlichen Verantwortung zur Linderung von Armut und damit verbundenen Nöten zu stellen.

Die Teilnehmer mußten sich, doch recht ungewohnt, einiges anhören. Vom südafrikanischen Erzbischof Tutu kam beispielsweise der Satz: „Wenn die Welt jetzt nichts lernt, kann sie Friede und Stabilität vergessen.“ Senator Leahy von den Vereinigten Staaten fand den Umfang eigener Entwicklungshilfe nur „lächerlich“. Der bekannte Ökonom Jeffrey Sachs mahnte an, daß unzählige Menschen in der dritten Welt unnötig sterben. Man könnte dies recht einfach verhindern. Einen beginnenden Einsatz dafür zeigt auch der reichste Mann der Erde. Bill Gates gründete mit seiner Frau eine eigene Stiftung, in die bereits etliche Millionen geflossen sind, um vor allem der Aids-Katastrophe in Afrika etwas entgegen zu setzen.

Gegenüber dieser doch recht überraschenden Ausrichtung des Welt-Wirtschafts-Forums gerieten die üblichen Konjunkturbetrachtungen und sonstigen Wirtschaftsthemen etwas ins Hintertreffen. Daran hatte sicher auch Anteil, daß gleichzeitig 50 Vertreter verschiedener Religionen eingeladen waren, die mit den anderen Anwesenden ins Gespräch kamen. Das Schlußwort vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, war deutlich. Unter anderem wies er auf die Landwirtschaftssubventionen der Vereinigten Staaten wie auch der Europäischen Union hin, woduch entsprechende Waren aus den südlichen Ländern vom Markt verdrängt werden. Die Entwicklung ärmerer Regionen wird dadurch verhindert. Kofi Annan zog auch die Verbindung zu Porto Alegre. Man müsse sich den Vorwürfen stellen und sie durch eigene Taten zu entkräften versuchen.

Dort in Brasilien waren etwa 60 000 Menschen aus 2100 Gruppierungen versammelt. Sie vertraten soziale und Menschenrechtsthemen sowie auch ökologische Probleme. Die globalisierungskritische Bewegung erwies sich als bunt und breit gefächert. Wie ein lebendiges Organ gegenseitiger Wahrnehmung ergab sich das Treffen der ansonsten in der Welt ausgebreiteten Aktivitäten. Das Wichtige war, hieraus wieder neue Impulse zu bekommen, ohne das Ganze zu stark in eine einzelne Richtung pressen zu wollen. So gab es auch kein einheitliches Schußdokument. In dieser lockeren weltweiten Zusammenkunft liegt wohl auch gerade die Kraft, eine wirkliche Ausstrahlung auszuüben, die jedenfalls schon den Kreis mächtiger Wirtschaftsführer erreicht hat.

Jürgen Kaminski
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Wenn die Welt ein Dorf wäre... 

Wenn man die Weltbevölkerung auf ein 100 Seelen zählendes Dorf reduzieren würde und dabei die Proportionen aller auf der Erde lebenden Völker beibehalten würde, wäre dieses Dorf folgendermaßen zusammengesetzt: 

57 AsiatInnen
21 EuropäerInnen
14 AmerikanerInnen (Nord-, Zentral- und Südamerika)
8 AfrikanerInnen

Es gäbe 

52 Frauen und 48 Männer
30 Weiße und 70 Nichtweiße
30 ChristInnen und 70 NichtchristInnen
89 Hetero- und 11 Homosexuelle
6 Personen besäßen 59 % des gesamten Reichtums und alle 6 kämen aus den USA
80 lebten in maroden Häusern
70 wären AnalphabetInnen
50 würden an Unterernährung leiden
1 wäre dabei zu sterben
1 wäre dabei geboren zu werden
1 besäße einen Computer
1 (ja, nur einer) hätte einen Universitätsabschluß. 

Wenn man die Welt auf diese Weise betrachtet, wird das Bedürfnis nach Akzeptanz und Verständnis offensichtlich. 

Du solltest auch folgendes bedenken: 

·                      Wenn Du heute morgen aufgestanden bist und eher gesund als krank warst, hast Du ein besseres Los gezogen als die Millionen Menschen, die nächste Woche nicht mehr erleben werden.

·                      Wenn Du noch nie einen Krieg erlebt hast, in der Einsamkeit der Gefangenschaft, im Todeskampf der Folterung oder Schraubstock des Hunger warst, geht es dir besser als 500 Millionen Menschen.

·                      Wenn Du zur Kirche gehen kannst, ohne Angst haben zu müssen bedroht, gefoltert oder getötet zu werden, hast Du mehr Glück als 3 Milliarden Menschen.

·                      Wenn Du Essen im Kühlschrank, Kleider am Leib, ein Dach überm Kopf und einen Platz zum Schlafen hast, bist Du reicher als 75 % der Menschen dieser Erde.

·                      Wenn Du Geld auf der Bank, in Deinem Portemonnaie oder sonstwie in Reserve hast, gehörst Du zu den privilegierten 8 % Menschen dieser Welt.

·                      Wenn Du diese Nachricht liest, bist Du zweifach gesegnet: zum einen, weil jemand an Dich gedacht hat, und zum anderen, weil Du nicht zu den 2 Milliarden Menschen gehörst, die nicht lesen können.

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Bürgerrechtler und Künstler rufen auf
Volksabstimmung wählen

Aktion zur Bundestagswahl für Nichtwähler und Wähler

Der Omnibus für Direkte Demokratie ist täglich auf Marktplätzen und in Fußgängerzonen für die Einführung der Volksabstimmung unterwegs. "Immer mehr Menschen wollen das eigenmächtige Treiben der Parteien nicht mehr mit ihrer Stimme legitimieren," berichtet Brigitte Krenkers, Geschäftführerin des Omnibus von ihren Erlebnissen. Selbst treueste Wähler kämen ins Zweifeln über die Kompetenzen der Parteien.
Stummes Nicht-Wählen sei aber sinnlos. Deshalb sammelt der Omnibus nun die Stimmen der Nichtwähler, um sie für die Einführung der Volksabstimmung zu bündeln. Brigitte Krenkers: "Wenn Sie nicht mehr wählen wollen, dann schicken Sie dem Omnibus für Direkte Demokratie Ihre Wahlbenachrichtigungskarte."

Die Aktion richtet sich auch an Wähler. Wer wählen will, solle seine Stimme nicht bedingungslos abgeben, sondern den Abgeordneten oder die Partei dazu verpflichten, sich für faire Volksabstimmungen einzusetzen. Das Motto lautet "Stimmabgabe nur mit Volksabstimmung." Der Omnibus hat entsprechende Absichtserklärungen vorbereitet.

Zur Aktion "Volksabstimmung wählen" rufen Künstler wie der Liedermacher Reinhard Mey und der Entertainer Christoph Schlingensief und Bürgerrechtler wie die Autorin Freya Klier, der Pfarrer der Nikolaikirche Leipzig Christian Führer und Hans-Jürgen Fischbeck auf.

Im Juni 2002 lehnte der Bundestag in Berlin die Einführung von bundesweiten Volksbegehren und Volksentscheiden ab. Die Grünen und die SPD hatten einen Gesetzentwurf eingebracht, CDU/CSU und FDP war aber dagegen, so daß die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit nicht zustandekam. Somit bleibt die Ausübung der "Staatsgewalt" durch das Volk darauf beschränkt, im starren Rhythmus der Legislaturperioden Parteien anzukreuzen. "Doch die Parteien sind so in ihren Eigeninteressen verstrickt, daß wir uns nicht zu wundern brauchen, wenn wir in den großen Fragen der Zeit nicht weiterkommen", bemerkt Werner Küppers, der Busfahrer, der den Omnibus das ganze Jahr hindurch begleitet. "Die gewählten Repräsentanten können bestenfalls den Status quo verwalten. Die entscheidenden Impulse für die gesellschaftliche Entwicklung müssen vom Souverän (d.h. von uns allen) gegeben und vor allen Dingen auch verantwortet werden. Dafür brauchen wir die Volksabstimmung!"

In der Bevölkerung gibt es eine stabile und parteienübergreifende Mehrheit für Volksabstimmungen. Eine Umfrage des Forsa-Instituts im September 2000 hat ergeben, daß die Frage "Sind Sie für Volksabstimmungen?" von 77% der SPD-Wähler, 68% der CDU-Wähler, 69% der Grünen-Wähler, 75% der FDP-Wähler und 75% der PDS-Wähler mit Ja beantwortet wird. Trotz dieses klaren Wählerauftrages findet die Einführung der Volksabstimmung im Bundestag keine Mehrheit. Brigitte Krenkers: "Stummes Ankreuzen von Kandidaten und Parteien reicht dafür nicht aus. Nehmen wir also die Bundestagswahl zum Anlaß, mit unserer Stimme unmißverständlich unseren Willen auszudrücken, direkt verantwortlich in die Ausgestaltung der Demokratie einzugreifen."

Die Volksabstimmung sei eine Frage des Gewissens. Die jüngste Vergangenheit habe gezeigt, daß leichtfertig abgegebene Stimmen auch als Ermächtigung zum Führen von Kriegen gedeutet werden können. Spätestens hier würde deutlich, so Werner Küppers, daß Wählen immer die Dimension einer Gewissensentscheidung habe. Da man Gewissensentscheidungen aber nur selber treffen könne, helfe hier nur die Entwicklung direktdemokratischer Instrumente aus diesem Dilemma.

Die Omnibus gGmbH arbeitet seit 15 Jahren an der Verankerung der Volksabstimmung. Der Omnibus mit Goldkrone ist in ganz Deutschland als rollende Heimat der Idee „Direkte Demokratie“ unterwegs. Neben den Aktionen für die Einführung der bundesweiten Volksabstimmung startet und unterstützt die Omnibus gGmbH vor allem Volksbegehren in den Bundesländern.

Kontakt: Omnibus für Direkte Demokratie, Öschstr. 24, 87437 Kempten
Tel. 0831-57 07 689, Fax 0831-58 59 200,

info@omnibus.org, www.omnibus.org

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Aufruf:

Keine deutschen Soldaten auf arabische Schlachtfelder - Mit Fuchs und Flotte in den Krieg?

Interessierte Bürgerinnen und Bürger können unterschreiben

Die Anzeichen verdichten sich, dass der Krieg über Afghanistan hinaus ausgeweitet wird. Iran, Irak, Nordkorea, aber auch Somalia und Jemen sind im Visier der USA. Deutsche Soldaten sind in diese Kriegspolitik eingebunden.

Deutsche Soldaten dürfen nicht in den Krieg geschickt werden. Die Militäreinheiten müssen sofort zurückgeholt werden. Das ist die zentrale Forderung eines Aufrufes namhafter Persönlichkeiten und verschiedener Friedens- und Menschenrechtsorganisationen in Deutschland. Die Unterzeichner rufen die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, ihren Widerstand gegen die eingeleitete Kriegspolitik in allen geeigneten gewaltfreien Formen zum Ausdruck zu bringen.

Erstunterzeichner des Appells sind unter anderem Professor Hans-Peter Dürr, Professor Andreas Buro, Professor Horst-Eberhard Richter, Professor Dorothee Sölle, Peter Rühmkorf, Professor Klaus Staeck, Oskar Lafontaine, Horst Schmitthenner und Franz Alt sowie zahlreiche NGO`s wie Pax Christi, Attac Deutschland, Bund für soziale Verteidigung, Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Komitee für Grundrechte und Demokratie, Versöhnungsbund – Landesgruppe Baden-Württemberg, Lebenshaus Schwäbische Alb etc.

In dem Aufruf, der im Internet zu finden ist, heißt es unter anderem:

 "Die Last des Krieges tragen die Völker. Ein neuer Krieg gegen den Irak kann voraussichtlich zu einem dreifachen Massenmord führen: An der kurdischen Bevölkerung im Norden und den Schiiten im Süden, (...) und unter der irakischen Bevölkerung (...).

Der 11. September 2001 ist kein Freibrief für Krieg. (...) Kollateral-Tote sind wie die Opfer des 11.9. Menschen, denen das Menschenrecht auf `Leben, Freiheit und persönliche Sicherheit´ (...) geraubt wurde. Wir sagen deshalb: Die Durchsetzung von Menschenrechten erfordert menschenrechtliche Mittel. Die Herstellung von Gerechtigkeit verlangt die Verwendung von gerechten Mitteln. Friedenspolitik bedarf der friedlichen, zivilen Mittel zu ihrer Verwirklichung.

Eine zivile Friedenspolitik ist möglich. Für den Irak ist der UNO ein Verhandlungsmandat zu erteilen mit dem Ziel, neutrale Waffeninspektoren zuzulassen und das Embargo, verantwortlich für Hunderttausende von Toten, aufzuheben. Im türkisch-kurdischen Konflikt kann vom Westen im Sinne präventiver Politik viel zu einer politischen Lösung in der Türkei beigetragen werden. Im israelisch-palästinensischen Konflikt gilt es, die Waffenhilfe zu stoppen, internationale Überwachung durch Dritte durchzusetzen und unmissverständlich für die Verwirklichung der UN-Beschlüsse einzutreten, die einen eigenständigen Staat der Palästinenser vorsehen."

Dieser Aufruf kann jetzt von interessierten Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet werden (Unterschriftenlisten bei: Lebenshaus Schwäbische Alb e.V., Postfach 1145, 72497 Gammertingen, Tel. 07574-2862, Fax 07574-91110, E-Mail info@lebenshaus-alb.de, Internet: http://www.lebenshaus-alb.de)

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 (Kein) Frieden für den Nahen Osten?

In den letzten Wochen und Monaten war nur wenig Ermutigendes aus Israel und den besetzten Gebieten zu hören: Ultimaten für Waffenruhen, Attentate und "Vergeltung", Vergeltung für die Vergeltung - eine immer schneller eskalierende Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die immer weiter von möglichen Lösungen wegführt.
Mehr als 1600 Tote, ca. 1200 Palästinenser und knapp 400 Israelis, viele Kinder, zahllose Zivilisten.
Und nun die gezielte Zerschlagung der Autonomiebehörde? Die Ausschaltung Arafats - was auch immer das bedeuten mag?
Der vorgebliche Kampf gegen Terrorismus ist nun im wahrsten Sinne des Wortes zum Totschlag-Argument geworden.
"Wer jetzt noch etwas zu sagen hat, der trete vor und schweige."
Wer empfindet bezüglich des Nahostkonfliktes nicht oft so, wie es Karl Kraus vor Ausbruch des ersten Weltkrieges formulierte. Es ist doch eigentlich schon alles gesagt, das Unglück nimmt seinen Lauf, der einzig mögliche Protest ist das Schweigen.
Aber dürfen wir wirklich schweigen angesichts der zahllosen Opfer auf beiden Seiten?
"Es wäre ein neues Verbrechen, wenn die deutsche Friedensbewegung still ist und dadurch die israelische Regierungspolitik unterstützt, die direkt in den Abgrund führt. Was wir jetzt brauchen sind Menschen mit Gewissen und mit Mut." (Beate Zilversmidt, Adam Keller, Uri Avnery; Gush Shalom / Israel)
Es ist heute notwendig, sowohl historische Verantwortung zu zeigen als auch den Mut zu haben die verfehlte israelische Regierungspolitik gegenüber den PalästinenserInnen zu kritisieren.
Mir scheint es wichtig, dass all jene die in Deutschland völlig kritiklos hinter der israelischen Regierungspolitik stehen, darüber nachdenken, ob sie so nicht deutsche Verantwortung auf dem Rücken der PalästinenserInnen "entsorgen".
Kein Vergeltungsschlag macht auch nur ein Opfer von Selbstmordattentaten wieder lebendig - das Gegenteil ist der Fall - jeder Vergeltungsschlag provoziert wieder neue Attentate.
Kein Selbstmordattentat trägt dazu bei, das israelische Militär zu stoppen - das Gegenteil ist der Fall! Es liefert neue Vorwände für neue Militäreinsätze.
Warum kommen die meisten Selbstmordattentäter aus Flüchtlingslagern?
Wie kann man Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben wegwerfen wollen, mit militärischer Gewalt einschüchtern?
Gegen Menschen, deren Haß und Verzweiflung so groß sind, dass sie den Tod herbeisehnen und dabei nur noch den Wunsch haben so viele wie möglich mit in den Tod zu reißen, gibt es nur eine wirksame Verteidigung: Wir müssen dabei helfen, die Ursachen von Haß und Verzweiflung zu bekämpfen! Wir müssen dazu beitragen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, das Recht auf Selbstbestimmung zu erreichen!
Militärische Antworten sind hierbei der denkbar falsche Weg!
Darum:
Stoppt die Gewalt! Auf beiden Seiten!
Stoppt die Bombardierungen!
Stoppt die Besatzung!
Auch Deutschland trägt seinen Teil dazu bei, Israel auf dem Weg in die militärische Sackgasse zu begleiten. Laut jüngstem Waffenexportbericht, erhält kein Land außerhalb der NATO so große Waffenlieferungen aus Deutschland wie Israel.
Wir fordern einen sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen in die gesamte Krisenregion!
Es gibt keine Alternative zu einer politischen Lösung!
Arafat mag kein optimaler Gesprächspartner sein - aber er ist der einzige den Israel hat, er ist demokratisch gewählt, ist bereit zu verhandeln, und ob nach ihm ein moderaterer Präsident an die Macht kommt - das darf zumindest im Moment bezweifelt werden.
Es wird die Situation noch sehr viel mehr eskalieren, wenn das israelische Militär Arafat tötet oder ihn auf andere Weise handlungsunfähig macht.
Die Gewalt muß enden, aber die Forderung nach einer Waffenruhe vor Gesprächen ist unsinnig. Diese Forderung gibt wenigen Extremisten die Definitionsgewalt über den gesamten Konflikt.
Wer eine Waffenruhe vor Gesprächen fordert, will keine Gespräche.
Es gibt keine Alternative zu Verhandlungen.
Die direkte Gewalt muß enden - auf beiden Seiten. Aber das genügt bei weitem nicht. Auch die strukturelle Gewalt muß beendet werden.
Ohne ein Ende der Absperrungen, der Belagerung, der Ausgangssperren, der allnächtlichen (Kollektiv-) Bombardierungen palästinensischer Siedlungen durch israelisches Militär und ohne ein Ende der Sonderrechte für israelische Siedler im besetzten Gebiet z.B. bei der Straßennutzung, der Wassernutzung und der Landnahme - ohne ein Ende dieser Formen von Gewalt wird es keinen Frieden geben.
Die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten ist sicher eines der Haupthindernisse für eine friedliche Zukunft!
Wenn neben staubigen Flüchtlingslagern Reihenhaussiedlungen mit grünen Vorgärten und Swimmingpool entstehen und die Bewohner dieser Siedlungen auf eigenen Straßen fahren, während die palästinensische Bevölkerung auf Umwegen und zu Fuß mit schweren Lasten bepackt ihr Ziel erreichen muß, dann sind Spannungen kaum zu vermeiden.
Obwohl es Besatzungsmächten verboten ist, ihre Bevölkerung in besetztes Gebiet zu transferieren und obwohl in Oslo eine Friedenslösung vereinbart war, verdoppelten sich die Siedlungen in den letzten zehn Jahren. Und trotz Tennet- und Mitchell Plan sind in den letzten Monaten 34 neue Siedlungen entstanden.
So wird strukturelle Gewalt im wahrsten Sinne des Wortes zementiert und eine friedliche Zukunft sabotiert.
Wenn Militär kollektiv eine ganze Bevölkerung bestraft, wenn es durch außergerichtliche Liquidierungen Völkerrecht bricht und Lynchjustiz übt, wenn es Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser zerstört, dann muß dieses Militär und seine politische Führung sich fragen lassen, ob nicht auch dies terroristische Mittel sind.
Gewalt ist eine Sackgasse!
Terrorismus und Staatsterrorismus sind eine Sackgasse!
Viele israelische Soldaten haben für sich erkannt, dass es keine moralisch vertretbare Möglichkeit gibt, die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens aufrechtzuerhalten.
"Wie sollen wir in einer Armee unseren Dienst leisten, die Häuser zerstört, den Kranken keine medizinische Versorgung zugesteht, die danach strebt, eine ganze Bevölkerung zu demütigen, die Hunger und Armut verursacht?" so Yishai Rosen-Zvi (orthodoxer Sergeant einer Panzereinheit und Mitunterzeichner des Appells von Reserve-Offizieren gegen den Dienst in den besetzten Gebieten).
Auch blinde Solidarität und Verherrlichung der palästinensischen Intifada - mit allen Auswüchsen wie dem fatalen Märtyrerkult und dem Machismus der Gewalt - ist gefährliche Revolutionsromantik und zutiefst unpolitisch.
Notwendig ist die Stärkung des politischen Widerstands der palästinensischen Seite gegen die Besatzungspolitik Israels - und es gibt diesen Widerstand. Er ist wesentlich stärker als unsere durch Medienbilder verzerrte Wahrnehmung glauben macht!
Die Hoffung liegt auch bei der wieder stärker werdenden israelischen Friedensbewegung.
Auch heute wird es wieder eine große Demonstration geben, die das Ende der Besatzungspolitik fordert. Und die Hoffung liegt darin, daß immer mehr israelische Soldatinnen und Soldaten die brutale Besatzungspolitik nicht mehr mitmachen und den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern:
"Wir, die wir verstehen, daß der Preis der Besetzung den Verlust der Menschlichkeit und die Zerrüttung der ganzen israelischen Gesellschaft bedeutet,
- wir, die wir wissen dass die besetzten Gebiete nicht zu Israel gehören, und dass alle Siedlungen am Ende geräumt werden müssen.
- wir erklären hiermit, dass wir in diesem Siedlungskrieg nicht mehr kämpfen werden."
Es wird keine Lösung geben, die nicht auf beiden Seiten der emotionalen Lage und den realen Lebenssituationen Rechnung trägt.
Es gibt im Nahen Osten so etwas wie eine doppelte Traumatisierung:
- das Holocaust Trauma der jüdischen Bevölkerung mit dem daraus resultierenden Bedürfnis nach Sicherheit, und mit der Angst davor, einer Bedrohung schutzlos ausgeliefert zu sein, und
- es gibt bei der palästinensischen Bevölkerung ein Flüchtlingstrauma und ein daraus entstandenes Bedürfnis nach Heimat und Selbstbestimmung.
Ohne eine Perspektive auf ein menschenwürdiges Leben für beide Seiten wird es keinen Frieden geben!
Und es gibt diese Lösung: Kronprinz Abdullah hat sie skizziert: Anerkennung und Sicherheitsgarantien für Israel. Einen Staat für die Palästinenser auf den 1967 von Israel besetzten Gebieten.
"Dieser Frieden wird zustande kommen - weil die einzige Alternative für beide Seiten die Hölle bedeutet" (Uri Avnery)
Eine Friedenslösung ist zum Greifen nah und die totale Eskalation ist zum Greifen nah.
Laßt uns in dieser Situation nicht schweigen!
Stoppt diesen Krieg! Stoppt die Gewalt! Stoppt die Besatzung!

Rede von Claudia Haydt – Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - beim Ostermarsch in Stuttgart 30.03.2002
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Friedensgruppen in Palästina

Gush-Shalom

Gush-Shalom (deutsch: Friedens-Block) ist eine überparteiliche Vereinigung von Menschen, die zu einem friedlichen Zusammenleben des israelischen und palästinensischen Volkes in Eretz-Israel / Palästina entschlossen sind.
Gegründet wurde Gush Shalom 1993, also zu einem Zeitpunkt, da alle damals existierenden Friedensbewegungen (z.B. Shalom Akhshaw) alle Aktionen eingestellt und der Regierung Rabin/Peres bedingungslose Unterstützung zugesagt hatten.

Zentrales Anliegen von Gush-Shalom ist die Einflußnahme auf die israelische öffentliche Meinung, mit dem Ziel Frieden und Aussöhnung mit der palästinensischen Bevölkerung zu erreichen. Gush-Shalom stützt sich dabei u.a. auf die folgenden Prinzipien:

-          Ein Ende der Besetzung, der 1967 von Israel okkupierten Gebiete in der Westbank und im Gazastreifen.
-          Jerusalem als die Hauptstadt beider Staaten
-          Gegenseitige Sicherheitsgarantien und -abkommen
-          Bemühung um regionale Bündnisse und Friedensverträge zwischen Israel und den arabischen Staaten.

Gush-Shalom koordiniert neben der Öffentlichkeits- und Informationsarbeit auch Hilfstransporte (Lebensmittel und Medikamente) in palästinensiche Gebiete, und sie beteiligen sich am Wiederaufbau der Infrastruktur in palästinensischen Gebieten (Krankenversorgung bis Neuanpflanzung zerstörter Olivenhaine). Gush Shalom ist eine der wenigen israelischen Organisationen, die nach wie vor gute Kontakte mit palästinensischen Gruppierungen pflegt und mit diesen immer wieder gemeinsame Aktionen durchführt.

Leider ist es nicht ganz einfach Spenden von Deutschland aus an Gush-Shalom zu schicken:

Die einfachste Variante, ihnen Geld zukommen zu lassen ist ein Scheck an:

Gush Shalom, pob 3322, Tel-Aviv 61033, Israel


Internationales Begegnungszentrum Bethlehem Dar Al-Kalima

Das Internationale Begegnungszentrum bemüht sich um den Wiederaufbau nicht nur von Gebäuden, sondern auch der gesamten Palästinensischen Gesellschaft.

Den Kern der Arbeit bildet die Initiierung und Unterstützung der Menschen vor Ort um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Das Internationale Begegnungszentrum unterstützt aktiv die Herausbildung einer Zivilgesellschaft, indem sie z.B. die Selbst­organisation der Gemeinden fördert und zukünftige Führungspersönlichkeiten (Männer und Frauen) ausbildet.

Als kulturelles Zentrum bemüht sich die Begegnungsstätte um die Stärkung kultureller Identität, Förderung künstlerischer Talente und um die interkulturelle Begegnung, aber auch ganz praktisch um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dazu wurden u.a. eine Galerie, ein Restaurant, Begegnungsräume, ein (bis zum Beginn der jüngsten Intifada) florierendes Geschäft für kunstgewerbliche Produkte eingerichtet, sowie Programme für nachhaltigen "authentischen Tourismus" entwickelt.

Der Verein Dar Al-Kalima betreibt darüber hinaus eine Schule.

Leider wurden große Teile dieser Infrastruktur durch die Invasion der israelischen Armee in Bethlehem zerstört. Besonders das Schulgebäude und der Laden weisen starke Schäden auf. Um der Initiative einen Neuanfang bzw. eine Fortsetzung ihrer Arbeit zu ermöglichen ist jede Spende willkommen.

Internationales Begegnungszentrum Bethlehem

Förderverein Dar al-Kalima
Kontonummer: 419 478
Bankverbindung: EKK Stuttgart, BLZ 60 06 06 06

(steuerlich absetzbar)
ch 

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 Mysterien des Lebens

- Aspekte "männlicher" und "weiblicher" Wissenschaft - 

Inzwischen ist es in die Statistik eingegangen: nach dem 11. September 2001 war nicht nur in den USA ein sprunghafter Anstieg von Empfängnissen zu verzeichnen - ein Phänomen, was immer wieder nach Katastrophen eingetreten ist. Die Erscheinung, die auf den ersten Blick paradox aussieht, weist doch in einer tieferen Schicht auf einen tröstlichen und urbegründeten Willen des Lebens, den Tod und seine Handlanger zu besiegen. Zugleich ist diese Hingabe an die Mysterien des Lebens in gleicher Weise ein Opfer wie der Tod selbst, wie es Friedrich Rückert (nach D. Rumi) in wunderbarer Weise ausdrückte:

Wohl endet Tod des Lebens Not,
doch schauert Leben vor dem Tod.
Das Leben sieht die dunkle Hand -
den hellen Kelch nicht, den sie bot.
So schauert vor der Lieb' ein Herz
als wie von Untergang bedroht.
Denn wo die Lieb‘ erwachet, stirbt
das Ich, der dunkele Despot.
Du lass ihn sterben in der Nacht
und atme frei im Morgenrot. -

Hingabe an das Leben ist - dies kann in Zukunft gelernt werden - in gleicher Weise ein Opfer, eine Selbstüberwindung, wie sie der Tod zwanghaft einfordert. Sie ist mit der Überwindung des Egoismus, der heute noch weitgehend die Welt regiert, intensiv und untrennbar verbunden. Wenn die Welt "ins volle Leben und in die Welt wird zurückgegeben" und mit "einem Male das ganze verkehrte Wesen fort" fällt (Novalis), dann wird deutlich, daß paradoxerweise nicht der Tod, sondern das Ego, der Egoismus des Menschen seinen eigentlichen Tod darstellt. Der natürliche Tod ist hingegen eher eine Art natürlicher Begrenzung des Egoismus, damit dieser nicht zum Schaden aller endlos ausufert.

So läßt sich auch Hugo von Hofmannsthal's "Jedermensch" (der ursprüngliche Namenspatron dieser Zeitschrift) in diesem Sinne vom vorzeitig erschienenen Tod mit Gewinn belehren.

Der natürliche Tod belehrt darüber, daß sich auch die Schöpfung nicht "bewahren" läßt, im Sinne eines musealen Konservierens zu dauerhaftem Genuß, wie es von mancher kirchlichen Seite gefordert wird. Wer bloß "die Schöpfung bewahren" will, um seine ungetrübten Sonntagsspaziergänge in ihr ausführen zu können, um sich bloß genießend an Sonne, Wind und Blumen zu ergötzen, wird auf die Dauer auch nicht von Erfolg gekrönt sein. Er wird übersehen, daß die Schöpfung nicht bloß (auf-)"bewahrt" werden kann, sondern einen lebendigen Dialog fordert, daß sie erkannt und durch dieses Erkennen erst wahrhaft erlöst werden kann durch den Menschen. Die Geschöpfe und vielfältigen Naturformen sind "Worte" des "Demiurgen", die in Wahrheit erst "verstanden" werden können durch eine lebendiges "Lesen im Buch der Natur".  Bei diesem Naturerkennen ist jedoch das Verhältnis vom "Baum der Erkenntnis", der bekanntlich den Tod durch den Menschen in die Welt bringt, zum "Baum des Lebens", der auch im Menschen anwesend ist, aber erst entdeckt werden muß, sorgfältig unterscheidend zu beachten.

Die Menschheit hat in der neueren Naturwissenschaft nun mehrere Jahrhunderte vom "Baum der Erkenntnis" gegessen, derart, daß das Erkannte zugleich Tod in die Welt gebracht hat. Will man die "Früchte vom Baum der Erkenntnis" näher definieren, so kann man in ihnen alle jene Gedankenformen sehen, die in einer bemächtigend-begreifenden (er-greifenden) Art der Welt gegenüber auftreten. Vor allem im Ingenieurswesen, in der Physik und neueren Chemie sieht man diese Gedankenart, die bar jeder Poesie einzig dem Machtzuwachs des Menschen gegenüber den Welterscheinungen dienen soll. Man kann es eine "männliche" Form der Wissenschaft nennen, die zeitgleich mit den Eroberungszügen eines Kolumbus, Pizzarro und dergleichen, mit dem Kolonialismus sich entwickelte. Es ist ein technischer Zugriff auf die Welt, die sich den mechanisch aufbereiteten Bedingungen fügen muß. Mit welchem Recht auch immer, werden Völker, Ureinwohner in Amerika, Afrika, Australien, im nahen und fernen Osten ihres Landes beraubt und unterworfen, werden Besatzungen und Siedlungen durchgeführt, als gehörte einem die Welt. Bald fängt die Plünderung und der Raubbau an "Rohstoffen" an, in einer Weise, daß man denkt, die Welt sei in die Hände von Piraten und Freibeutern gefallen - während die Ureinwohner in "Reservate" wie in Zookäfige eingezwängt werden.

Man kann die Triebfeder dieser Vorgänge nicht anders als die "Weltherrschaftsphantasien des Weißen Mannes" nennen, wobei die Frauen leider nicht ausgenommen werden dürfen. Gestalten wie etwa Kleoptra mit ihrem manisch-unersättlichen Machtbedürfnis fügen sich vollkommen ins Bild. Die Grenze zwischen "männlicher" und "weiblicher" Haltung der Welt gegenüber geht nicht zwischen den physischen Geschlechtern hindurch, sondern ist eine Frage der inneren Einstellung. Sie wird deutlicher, wenn man Urgebärden des dem Mars zugeordneten maskulin-männlichen und des der Venus gewidmeten feminin-weiblichen Prinzip betrachtet. Im astronomischen Symbol zeigt das Mars-Zeichen einen von einem Kreis fortgerichteten Pfeil, eine geradlinige Richtkraft, die Dynamik, auch Aggressivität und Geradlinigkeit zum Ausdruck bringt. Das Zeichen der Venus zeigt hingegen ein unter dem Kreis angehängtes Kreuz - wenn man so will, ein Symbol der Ich/Selbstfindung unter dem den Kosmos symbolisierenden Kreis. Zuweilen wurde auch ein Spiegel darin gesehen in Anspielung darauf, daß Frauen mehr damit zu tun haben (positiv gesehen: der Selbstkontrolle), während sich der klassische Mann mehr unkontrolliert dem "Speer" widmet. Wie gesagt, hat dies nicht mit einer festgelegten Rollenverteilung zu tun, namentlich Künstler haben sehr das in diesem Sinne weibliche Element gepflegt, was z.B. auch Nietzsche dazu bewogen hat, sie in der Tradition des martialischen Kriegers verächtlich mit "Frauen" in einen Topf zu werfen. Daß Künstler Unendliches zur Rettung und Pflege der menschlichen Seele geleistet haben, geht den Militaristen dabei nicht in ihre Betonköpfe.

Das Geltenlassen der "Seele" und des Schönen ist eine klassische Domäne des Weiblichen, dem männlichen Ignoranten gewinnen diese Begriffe meist nur Spott ab. Hier klingt zugleich das Kain-Abel-Motiv mit an. Die geradlinigen Streckungen im männlichen Organismus deuten die in Pfeilrichtung gehende ungebrochene Willenskraft an, die dieses Geschöpf zu einseitiger Vermittlertätigkeit (der gerade Strahl vermittelt stets) und Willensausübung (die in der Kultform der Ekstase gipfelt) prädestiniert. Der weibliche Organismus spiegelt stärker die kosmisch-wässrige Rundung wieder, eine eher in sich ruhende, meditative Form, die stärker Selbstgenügsamkeit zum Ausdruck bringt, welche sich auch in der Nährfähigkeit zeigt. Diese Verzweigung des Menschlichen deutet sich ab der Pubertät an, ja in der frühen Embryonalzeit sind sogar die primären Geschlechtsorgane - obzwar schon deutlich sichtbar - nicht voneinander zu unterscheiden.

Die Verzweigung bringt notgedrungen die Vereinseitigung des Einzelnen mit sich, und wer es noch nicht gemerkt gaben sollte, kann sich klarmachen, daß die Atombombe das Ende des männlichen Zeitalters symbolisiert. Die radiale (strahlig ausgehende) Kraft, hier als Sprengkraft, hat ihr absurd-einseitiges Wesen deutlich dokumentiert und damit angemahnt, daß entweder der Mensch als Ganzes neue Wege einschlagen muß oder er "am Ende aller Kultur" angekommen ist. Würde man dieses letztere so sehen, so würde man damit Beifall zollen, daß die männlich-agressive Weltbewältigung, die ignorante Unterjochung und martialische Barbarendummheit das letzte Wort behält und als End-Denkmal der menschheitlichen Erdenentwicklung anzusehen sei. Wer gegen eine solche Perspektive nicht automatisch rebelliert, dem ist sozusagen auch nicht mehr zu helfen. Er möge seine Lustbarkeit im atomaren Overkill als grandioseste männliche Kulturleistung finden. Immerhin haben offenbar schon Politiker, die nicht selten an der Endausgabe aller Innovationen stehen, begriffen, daß dies nicht die Vervollkommnung menschlicher Entwicklung sein kann und tun das Ihre zu Abrüstungsverträgen. Sie können dies um so freudiger tun, je mehr das rechtliche Gerippe, was sie zustandebringen, gefüllt wird mit echten Innovationen seitens der Bevölkerung.

Immerhin zeichnen sich einige Bewegungen ab, die man als echte "weibliche" anerkennen kann, etwa diejenigen, die die Erde als Lebewesen neu zu sehen und zu erleben trachten, die verschiedenen "Gaia"-Projekte und dergleichen. Hier wären auch zu sehen die Projekte der "Erdheilung", welche von verschiedenen, meist spirituellen Gruppen, angegangen werden, oder Initiativen wie die durch Joanna Macy begründete "Tiefenökologie". Überdies hat sich eine anwachsende Bewegung verschiedener alternativer Heilweisen, die sich auf die bei Asiaten bekannte Lebenskraft "Chi" (oder Qui) beziehen, sowie Feng-Shui- oder geomantische Methoden ausgebreitet.

All diesen Bewegungen ist gemeinsam, daß sie nicht in einer sich bemächtigenden Haltung auf die Erde und ihre Lebewesen zugehen, sondern in einer wahrnehmenden, geschwisterlichen und heilen-wollenden, die man auch im obengenannten Sinne eine "weibliche" nennen kann (ein Buchtitel bezeichnet es „Die sanfte Kraft“).

Sieht man sich nun noch einmal die Urprinzipien des "Männlichen" und "Weiblichen" genauer an, so fällt folgendes auf: Das männlich Radiale (=strahlförmige, d.h. von einem Mittelpunkt geht ein Radius [Strahl]  geradlinig nach allen Seiten aus) spiegelt sich wieder in der Forschungsart: Die Sektion und Analyse, die im Endergebnis zum Atomismus geführt hat, ist eine Gebärde, die strahlig-zerteilend in die Welt hineinfährt. Dabei muß sie notgedrungen zerteilen, zerstückeln, zerlegen: sie tötet dabei Ganzheiten und ihr Analyse-Ergebnis muß notwendigerweise Stückwerk sein! Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob das Skalpell die Vivisektion durchführt oder ein "Gegner" mit dem Schwerte durchhauen wird - die Richtungs-Gebärde ist die gleiche. Ein respektables kolossales Museum von Detailwissen und Anatomie ist auf diese Weise zustandegekommen, ein grandioses "Körperwelten"-Mosaik der Erde, aus dem nur leider alles Leben ausgehaucht ist. Der "Baum des Lebens" läßt sich auf diese Weise nicht erkennen. Die "männliche" Wissenschaft ist überreif und wie alles Überreife beginnt sie, Fäulnis anzusetzen, deren erste Anzeichen die absurden Hervorbringungen gentechnischer Manipulationen sind. Es macht keinen Sinn, sich mit diesen Produktionen, die weniger als nichts sind, überhaupt noch zu befassen. Sie sind die groteske Ausfüllung eines Vakuums, in dem Narren das Feld überlassen wurde, man braucht sich darüber nicht zu wundern. Jede ihnen gewidmete Aufmerksamkeit ist verlorene Liebesmüh‘. Wichtiger wäre, die nunmehr "weibliche" Wissenschaft vom Lebewesen Erde, eine "Gäa-Sophia" (wie eine bereits früher erschienene Zeitschrift hieß) auszubilden, die zugleich eine Wissenschaft des Friedens und des Lebendigen ist. Denn im Bereich des Lebens ist die Zerstückelung aufgehoben - jeder lebendige Organismus ist von Fluidum und von Strömungen durchzogen. Den radialen Sprengstoffen tritt zukunftsfroh die Wissenschaft des Lebendigen entgegen, die im Sein das höhere Gesetz gegenüber dem (herausgreifenden und daher isolierenden) Haben erkennt. Sie repräsentiert die meditative und verinnerlichende gegenüber der ekstatischen Seite der Expansion und des Kriegführens, der Gewalt und Unterjochung. Sie repräsentiert die weibliche Seite der Pflege in den Lazaretten, in denen die von männlich-militanter Dumpfheit Versehrten Trost und Heilung finden. Sie wird gegenüber der Wissenschaft des Stückwerks eine Wissenschaft der Strömungen sein. Sie repräsentiert die keimende Hellsicht für die ätherischen Farbenströme in Menschen, Tieren und Pflanzen, in denen sich das todlose Leben des "Baumes des Lebens" wiederspiegelt. Daher weiß sie auch, daß dieses innere Leben stärker und dauerhafter ist, als der an die Materie gebundene Tod jemals sein kann. -

Andreas Pahl
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Abschied von Bodensee und Allgäu 

Ulle Weber und Traute Nierth, zwei für Anthroposophie und Kunst engagierte Frauen kehren zurück nach Sylt:

Ulle Weber, Regisseurin, bekannt durch den Aufbau der Witthüs-Teestuben auf Sylt, Hamburg am Hauptbahnhof und Witthüs im Hirschpark, Gründungsmitglied des Internationalen Kulturzentrum Achberg und des Humboldt-Kolleg in Achberg/Wangen.

Traute Nierth, Modedesignerin, Mitbegründerin und Schneiderwerkstattleiterin der Wangener Waldorfschule, Rakattlmitarbeiterin, Malerin.

Anlässlich Ihres Abschieds führte Ingrid Feustel mit Ihnen ein Gespräch:

Wie hast Du die Anthroposophie und die Dreigliederungsidee kennen gelernt ?

Ulle: Durch Peter Schilinksi, der von Schleswig nach Sylt kam und den Bund für Volksabstimmung gegründet hatte. Er war 1951 auf einer Reise um Menschen aufzusuchen, die aus der Dreigliederungsidee heraus politisch arbeiteten. Ich empfand diese Idee von der Drei-gliederung des sozialen Organismus als die einzige Möglichkeit dem Chaos nach dem Krieg zu begegnen.

 Du hast den Wiederaufbau politisch interessiert miterlebt ?

Ulle: Von Anfang an. Ich hatte einen hochpolitischen Mann, der Journalist war und im KZ gesessen hatte. Durch ihn und meine dreijährige russische Gefangenschaft war ich politisch wach geworden, habe die Nazizeit als Schauspielerin erlebt, auch den Kommunismus, und konnte zu allem nur "Nein" sagen. Die Dreigliederung war genau die richtige Mitte zwischen diesen Möglichkeiten. Nach dem Tod meines Mannes 1951 mußte ich meinen Lebensunterhalt für mich und meine Kinder selbst verdienen und kam auf die Idee in unserem gepachteten alten Friesenhaus einen Laden einzurichten. Bald kam die Töpfermeisterin Janne Reckert-Cordua dazu, eine Töpferwerkstatt wurde ausgebaut. Da die Leute so gerne im Laden und der Werkstatt waren, richteten wir einen Raum ein, in dem man Teetrinken konnte. Die Witthüs Teestube war geboren. Es wurde ein sehr erfolgreiches Unternehmen bis 1996. Die Dreigliederungsarbeit begann mit Rundgesprächen in der Teestube, und daraus bildeten sich Arbeitskreise. Es kamen immer mehr junge Menschen, die mit uns wohnten und arbeiteten. Im alten Witthüs war unsere erste Kommune. Wir eröffneten Teestuben auch in Hamburg, zum Beispiel Brandsende am Hauptbahnhof. Das war ein heißer Tip für Studenten und Schüler, aber auch politisch wache Arbeiter und Rentner kamen. Es gab politische und unpolitische Rundgesprächsabende. Von Peter und mir immer aus dem Hintergrund der Anthroposophie und Dreigliederung heraus geführt. Ab 1961 wurden diese Rundgespräche hoch aktuell, da z.B. Studenten aus der linken Studentenvereinigung SDS teilnahmen. Hier arbeiteten Rudi Dutschke, Rainer Röhl und viele Andere bis plötzlich große Demonstrationen und Versammlungen begannen.

 Das war die Zeit der APO, der außerparlamentarischen Opposition. Kannst Du etwas zu diesen Aktionen sagen?

Ulle: Wir hatten eine Zeitschrift "Jedermann" (heute:“jedermensch“), die wir selbst mit ganz einfachen Mitteln vervielfältigten, Matrizen wurden getippt und mit einer Handkurbeldruckmaschine abgezogen. Selbst die ersten Ausgaben von "Konkret" hat Rainer Röhl in unserem Keller vervielfältigt. In dieser Zeit wurde das Blatt als Informations- und Kommunikationsmittel äußerst wichtig. Wir machten Straßenverkauf, kamen dadurch ins Gespräch mit den Menschen, die beispielsweise von der Atomgefahr keine Ahnung hatten. 1959 waren die Ostermärsche, die ersten Demonstrationen gegen Wiederbewaffnung, Aufrüstung  und „Achtung Atomgefahr“. Anfang 1961 eröffneten wir die Wenningstedter Witthüs-Teestuben mit Laden, ca. 100 Sitzplätzen. Es kamen immer mehr Menschen zu den Rundgesprächen und zu den täglichen Arbeitskreisen, auch Anthroposophen. Die Zeit zwischen 1965 und 1970 war eine Zeit der Begegnung, die zum Aufbau der Dreigliederungsbewegung führte. 1965 habe ich auf Sylt Traute Nierth kennen gelernt, desweiteren Josef Busch, Wilfried Heidt, Jutta und Fred Lauer, Walter Kugler, Elke und Siegfried Woitinas, Michael Wilhelmi, Klaus und Ursula Grah, Christoph Klipstein. Später Joseph Beuys, der mit seinem Büro für Volksabstimmung in Düsseldorf saß und viele andere.

Unsere Räumlichkeiten in Keitum auf Sylt fassten die Menschen bald nicht mehr. Die republikanischen Clubs entstanden überall. Auch diese waren räumlich beengt, so viele Menschen kamen zu den Veranstaltungen. 1968 zur Zeit des Prager Frühling waren wir in Prag und haben mit fast allen Reformpolitikern Gespräche geführt. Diese Zeit war ein Traum. Die Leute waren vergnügt, offen, gesprächsbereit. Nie habe ich eine offenere Stadt erlebt wie Prag vierzehn Tage vor dem Einmarsch der Russen. Auf Sylt demonstrierten wir sofort und riefen: „Dubzek - Dubzek – Solidarität!"

Traute: Meine erste und letzte Demonstration! Mich traf ein Ei. Die Ereignisse, die jetzt folgten in Berlin, Frankfurt und anderen Städten, machten es noch notwendiger ein Zentrum zu haben, wo für Dreigliederung und Anthroposophie gearbeitet werden konnte. Wir gingen auf die Suche. Nach langem Hin und Her quer durch Deutschland kam auf einen Aufruf im "Jedermann" ein Angebot von dem Bauhaus-Künstlerehepaar Hoffmannlederer aus Esseratsweiler in Achberg. Sie schenkten uns eine Wiese um auf ihr zu bauen.

 Wie kam es zur Gründung des INKA?

Traute: Ganz in der Nähe der Wiese stand ein Hotel zur Versteigerung an. Das sollte die Bauhütte des Projekts Achberg - "Werkstatt einer neuen Gesellschaft" mit Kindergarten, Schule, Instituten, Kolleg, Volksuniversität, einem künstlerischen Zentrum und Wohnungen für alle werden. Es kamen aus ganz Deutschland, Holland, Schweden und Norwegen Menschen, um beim Aufbau zu helfen. Ulle und ich hatten als einzige ein schriftliches Konzept für unsere Arbeit vorgelegt. Wir wollten Kindertheater machen. Aber zunächst richteten wir eine von den anderen geplante Teestube ein und arbeiteten in dem Unternehmen bis zum Sommer 71. INKA bedeutete für uns: Existenzgrundlage ist Privatangelegenheit. Unsere Aufbauhilfe für das INKA war, die Menschen im Humboldt-Haus mit Frühstück zu versorgen und uns um die Tisch- und Bettwäsche zu kümmern. Dann hieß es für uns Kindertheater aufbauen, auch um Kontakt zur Bevölkerung zu bekommen. Drei Jahre haben wir intensiv mit Kindern gearbeitet. Daraus entwickelte sich das Jugendzentrum Lindau, die "Scheune".

Zu der Zeit habt ihr Henning Köhler kennen gelernt?

Ulle: ...und Alfred Wohlfeil und Wolfgang Fricke, der später die "Sieben Zwerge" aufbaute.

Traute: Ja, wir haben sie im Jugendzentrum "Scheune " kennen gelernt. Von dort aus sind sie ins Humboldt-Haus gekommen und so hat sich ihr Leben verändert. Es gibt noch viele, die auf diese Weise einen entscheidenden Anstoß für ihr Leben bekommen haben.

Ulle: Es war eigentlich eine tolle Zeit. Nur diese Ausweglosigkeit - man konnte einfach zu wenig helfen! Die ganzen Drogenprobleme - das war damals ganz schlimm. Wir selber hatten keine Hilfsmöglichkeiten. Einige wenige Jugendliche konnten wir ab und zu bei den "Sieben Zwergen" unterbringen, aber im Grunde konnten wir nicht helfen. Noch lange habe ich Bewährungshilfen gemacht, die teilweise hoffnungslos waren.

Traute: Wir haben auch künstlerisch mit ihnen gearbeitet: Theater, malen, plastizieren. Wir haben gemerkt, wie gut ihnen das tut. Die Jugendlichen waren ja so zugeknöpft, weil sie innerlich so verlassen waren. Sie hatten diese Null-Bock-Stimmung und wussten nicht wohin. Den Teestubenraum hatten wir als seelischen Anwärmraum eingerichtet von dem aus man sehen konnte, was in den angrenzenden Räumen passierte. Da waren Lesungen, dort wurde mit Ton oder mit Papier, gearbeitet, wieder in einem anderen Raum wurden Möbel gebaut. Dann kamen sie, und ihren Fähigkeiten entsprechend versuchten sie mitzumachen. Sie hatten ihre ersten Erfolgserlebnisse und waren schließlich Feuer und Flamme für das Jugendzentrum. Da hatte man einen wunderbaren Stamm, der aufpasste, das die Drogenszene draußen blieb, auch wenn sie selber manchmal Konsumenten waren. Denn sie wussten, daß sie ihr wunderbares Ersatzzuhause riskierten, welches sie selber aufgebaut und eingerichtet hatten. Das war das Konzept, wie wir es der Stadt Lindau vorgestellt hatten: auf keinen Fall ein fertiges Zentrum hinzusetzen. Und doch konnten wir zu wenig helfen und deshalb haben wir aufgegeben. Für die Aussteiger hatten wir nichts anzubieten und bei den Jungen müsste man eigentlich früher anfangen.

Was habt ihr dann weiter gemacht ?

Ulle: Das Humboldt-Kolleg sollte entstehen, eine Ausbildungsstätte für Anthroposophie und Dreigliederung. Beginn war 1977 im Humboldt-Haus. Wir holten viele als Dozenten ans Kolleg, auch aus Dornach. Im Winter Studium, im Sommer praktische Arbeit im Witthüs auf Sylt. Organsisationsformen aus Dreigliederungssicht wurden mit den Studenten entwickelt und umgesetzt.

Traute: Meine Konsequenz aus der Arbeit im Jugendzentrum war, in die pädagogische Arbeit einzusteigen und den Handarbeitsuntericht bei der Schulgründung der Freien Schule Achberg aufzubauen. Ulrich Rösch hatte bereits die Idee einer Schule mit Werkstätten. Ich war ja Schneidermeisterin und durch Erhard Fuckes Vorträge wurde mir die Bedeutung des pädagogischen Elementes klar. So habe ich schließlich die Schneiderei als einen sich selbsttragenden Betrieb mit Lehrlingen unter dem Dach der Schule eingerichtet. Ausgehend von der Frage: Wo braucht die Industrie noch das Handwerk, war für mich die Antwort: In der Musterabteilung.

Wir entwickelten Musterkollektionen mit den Lehrlingen. Unser zweites Standbein war die individuelle Maßanfertigung, drittes Bein war Kleidung für Erwachsene. Nach neun Jahren hatte sich mit den Kollegen auch das Werkstattkonzept verändert. Es war nicht in die Oberstufe integriert. Zwischenzeitlich war 1980 vom Werkstättenbeirat, bestehend aus Eltern und Lehrern, die Kinderkleiderfirma "Rakattl" aufgebaut worden. Die Firma sollte den Werkstätten Arbeit verschaffen und den Vertrieb von Produkten besorgen, die im Schulzusammenhang aus dem pädagogischen Konzept hergestellt wurden. Ich nahm wahr, daß diese Firma sich mehr und mehr verselbstständigte. Zum Schluß brauchte man unsere Werkstatt nicht mehr, nur noch meine Entwürfe. Aus diesen Gründen hatte sich für mich die Werkstatt erübrigt. Sie wurde aufgelöst. Ulle fragte mich in dieser Zeit, was ich machen würde, wenn ich nicht Geld verdienen müsse und ich sagte: Malen. Ich habe eine Ausbildung in Dornach beginnen können. Als ich in Wangen Marianne Berger kennen lernte, die eine Assenza-Richtung hatte und mich nun für zwei Jahre weiterbildete, habe ich meine eigene künstlerische Handschrift entwickeln können. "Von der Farbe zur Form" nannte ich die Kurse, die ich begann selber zu geben. Jetzt habe ich vier Kurse mit insgesamt über dreißig Menschen.  

Ulle, Du hast in den letzten Jahren viel Regie geführt?

Ulle: Zur Zeit des Humboldt-Kollegs gab es zum Abschluß des Jahres ein Schauspiel mit den Studenten z.B. "Antigone”, "Der kleine Prinz". Das führten wir in der Öffentlichkeit auf. Dann kamen Anfragen von vielen Menschen und wir haben Theaterkurse nach dem dramatischen Kurs von Rudolf Steiner erlebt, immer mit öffentlichen Aufführungen: "Das Spiel ist aus“, „Scenen der Liebe", "My fair Lady" ,"So eine Liebe". Die Laienspielgruppe nennt sich "Die Spieleule" .Der Höhepunkt war die "Bauernoper", ein hochpolitisches Stück. Wir haben es fünfundzwanzig mal gespielt, ein riesengroßer Erfolg. Letzte Aufführung war im Burghof der "Waldburg", dem authentisch-historischen Ort. Für viele Menschen, sowohl die gespielt als auch die zugeschaut haben, sind die Erfahrungen lebenswichtig geworden. Es ist etwas in ihnen in Bewegung gekommen. Individuelle und soziale Fähigkeiten werden entwickelt.

 Jetzt geht ihr zurück nach Sylt. Ist die Dreigliederungsarbeit und das künstlerische Tun für Euch zu Ende ?

Traute: Ich hatte immer den Traum auf Sylt zu wohnen und zu malen. Auch da biete ich Kurse an und mache Ausstellungen im "Thee Hüs" in Keitum. Das politische Engagement hat meine Tochter Claudine Nierth übernommen, die sich für "Mehr Demokratie e.V. " einsetzt. Sie war jahrelang mit dem Bus für Volksabstimmung in ganz Deutschland unterwegs.

Ulle: Ich verabschiede mich mit Lesungen im Kornhaus in Wangen und dem Stück "Die Rache der Fledermaus"  frei nach Johann Strauss. Wir werden auf Sylt weiter machen, viele Gespräche führen. Dort sind wir mit offenen Armen aufgenommen worden: Im Thee Hüs werde ich Lesungen halten und habe auch schon wieder eine Theatergruppe, die "Die Irre von Challiot " spielt.

 Ulle Weber ist dabei ihr Leben aufzuschreiben. Man kann mit Spannung auf dieses Buch warten. Wer Lust hat in den Norden nach Sylt zu fahren, kann in der "Alten Schmiede" mit Traute Nierth Malen und mit Ulle Gespräche und Lesungen im Thee-Hüs erleben. Die Fäden werden nicht abreißen.

 Ulle Weber, Traute Nierth

"Alte Schmiede " Terpstich 64, 25980 Morsum / Sylt-Ost Tel. 04651 / 890551

 Dieser Nachdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von „die Welle“, Nr. 20 Ausgabe April – Juni 2002

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 Geboren 1968.  Zur Entwicklung und Aufgabe einer Generation.

1968, da bin ich geboren. Zauberwort achtundsechzig! - Die '68er, das waren schon irgendwie unsere Vorbilder, als wir in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts aus unseren Kinderträumen erwachten. Was für Hoffnungen lebten damals in uns! - Etwa die Hoffnung, daß die 68er-Revolution sich wiederholen würde, aber nun nicht mehr als Kinderei mit „Sex, Drugs and Rock'n'Roll“, mit „Pop und Spuk und alledem", sondern gereifter, spiritueller, aus einem das Geistige anerkennenden Denken heraus. Denn einige '68er waren ja weitergekommen, hatten sich nicht totgefixt oder in die Luft gesprengt, waren nicht senil geworden über ihren materialistischen Abstraktionen, sondern erkundeten inzwischen neue Wege: kündeten nun von einer „Wendezeit", indem sie einen großen geschichtlichen Bogen spannten und die Ursache der globalen Krise dort suchten, wo sie einzig zu finden sein konnte: Im Bewußtsein des Menschen, in unserem Denken, das seit dem 15. Jahrhundert auf eiskalte Abwege geraten war. - Wie jubelte unser Herz, als wir durch Fritjof Capra endlich eine Reihe von wirklich gesunden Gedanken geschenkt bekamen!

Aber da war noch viel mehr! Plötzlich gab es immer mehr Menschen, die ernst machen wollten: Schluß mit dem Atomkraftwahnsinn, Schluß mit der Vergiftung des Planeten Erde, Schluß mit der Entmündigung der Frauen, ja der Menschen überhaupt; wir wollen unser Leben selbst organisieren! - Selbstorganisation, das war so ein Zauberwort der 1980er Jahre! In allen Lebensbereichen wollten sich Menschen selbst organisieren: selber Schulen gründen, selber Politik machen, sich selbst mit Lebensmitteln versorgen. Da gab es die Utopie der „Permakultur", die eine optimale Ausnutzung jeglicher Art von Materie und Energie versprach und uns hoffen ließ, daß mit wenig Arbeit viel Ertrag und damit die Befreiung von der Sklaverei des Geldverdienenmüssens zu gewinnen sei. - Denn es war ja nicht nur so, daß das Geldverdienenmüssen uns von unseren eigentlichen Impulsen abzulenken drohte; man konnte ja kaum eine Arbeit, die angeboten wurde, annehmen, weil alles nur der Ausbeutung und Zerstörung des Menschen und der Erde verschrieben war!

Und eine Volkszählung sollte damals in Deutschland stattfinden, da wollten wir auch nicht mitmachen, denn wir nahmen damals die Bücher, die wir lasen, sehr ernst und hatten George Orwells Warnungen wohl verstanden! - Ziemlich viele Menschen hatten damals ziemlich viel verstanden. Endlich gab es auch eine politische Partei, die man beinahe wählen konnte! Ganz plötzlich, aus der Finsternis der 1970er Jahre heraus, war da eine Partei entstanden, die wirklich einen 3. Weg jenseits von rechts und links zu gehen versuchte. „Nicht links, nicht rechts, sondern vorne", hieß es, oder besser noch: „Wir stehen weder links noch rechts, wir gehen!" Endlich saßen da nicht nur kettenrauchende Verbalrevoluzzer und predigten den Aufstand in allen Ländern der Welt, nur nicht bei sich selber, sondern endlich war da eine politische Bewegung, die vor der eigenen Tür zu kehren bereit war und von ökologischer Verantwortung im Alltag, von einem Gesundheitsbewußtsein nicht nur für das, was weit weg ist, sondern auch für jeden einzelnen Menschen in seinem konkreten Alltagsleben sprach und deren Vertreter manchmal sogar für geistige Werte und Wirklichkeiten eintraten. An der Stelle wurde es zwar schon wieder etwas dünn, aber immerhin: Im Anfang dieser grün-alternativen Bewegung, die es bis zur Gründung einer politischen Partei gebracht hatte, war all das, was wir an Hoffnungen „mitgebracht" hatten, noch angelegt. '68 war vorbei, aber hier war etwas, das hatte das Zeugs, noch größer zu werden. Rudi Dutschke war tot, aber er hatte die neue Bewegung, die da Ende der 1970er Jahre an die Öffentlichkeit drang, noch kurz vor seinem Tod erkannt und war zur Stelle, als die Bremer Grünen in die deutsche Politik einzogen: In den 80er Jahren wäre Rudi Dutschke ein Grüner geworden!

Alles wollten wir damals umkrempeln: angefangen bei uns selbst, bei unserem eigenen Denken, und endend beim Planeten Erde und unserem tätigen Leben in ihm. Wir achteten darauf, wohin wir unser Geld fließen ließen: Überall entstanden Naturkostläden, in denen wir biologisch angebaute statt verseuchte Lebensmittel einkaufen konnten in dem Bewußtsein, auch ökonomisch einen fairen Handel, ein menschenwürdiges Wirtschaftssystem zu unterstützen. Es gab eine Partei, in der Basisdemokratie und ein Rotationsprinzip gepflegt wurden und in der Menschen aus persönlicher Betroffenheit heraus mit Feuer, mit Liebe zur Sache handelten anstelle von Charaktermasken, wie Rudi Dutschke sie genannt hatte, die sich schlau vorkommen, weil sie die „Spielregeln" beherrschen und die große Maschine zu manipulieren verstehen für ihre egoistischen Geld-, Macht- und Ruhmgelüste. Endlich hustete man diesem verlogenen Absurditätenkabinett etwas und brachte seine Kinder mit in den öffentlichen Raum, stillte sie dort womöglich noch; endlich gehörten Frauen und Kinder auch zum „wirklichen Leben“ mit dazu! - Diese Kinder, die wahrlich bessere Schulen verdient hatten als die - inneren wie äußeren - Betonklötze, die man unserer Lego-Generation in den 70er Jahren zugemutet hatte! - Diese Mütter, die eine liebevolle Hebamme und nicht einen anonymen Entbindungsapparat verdient hatten! - Auch die Krankenhäuser, das Gesundheitswesen mußte verändert werden, die unzähligen Anregungen aus der Naturheilkunde mußten aufgegriffen werden; es gab ja auf allen Gebieten Alternativen, und sie strömten uns nur so zu in den 1980er Jahren. Bei jedem Brett, das wir benutzten, fragten wir, wo es herkam, wie es behandelt sei, wer daran verdient hatte. In jeder Wissenschaft, die wir studierten, fragten wir nach den Pionieren ganzheitlicher Forschung. Eine Neue Physik wurde verkündet, die mit der Spiritualität der alten Traditionen vereinbar sei; eine Neue Biologie sprach von Kooperation und Symbiose im Tierreich und von der Vernetzung aller Lebewesen untereinander; und eine Neue Geologie kündete gar von Gaia, dem Lebewesen Erde. Und schließlich winkte sogar eine neue Erkenntnistheorie, die den Abschied vom passiven Erkenntniskonsum proklamierte und unser Erkennen eine individuelle, schöpferische Tat hieß. Paul Feyerabend goß seinen Spott über das langweilige wissenschaftliche Establishment aus und forderte eine „Erkenntnis für freie Menschen": Dies alles und noch viel, viel mehr wollten wir in den 80er Jahren erreichen und folgten dabei vertrauensvoll den Überlebenden und Gereiften der 68er-Bewegung und ihren unmittelbaren Nachzüglern. Die große Utopie waren schließlich die wirtschaftlich unabhängigen, autarken Selbstversorger-Gemeinschaften, die Ökosiedlungen und Ökodörfer, ja: eine Ökostadt, in der nach all den neuen, ganzheitlichen Einsichten gedacht, gelebt, gearbeitet würde und die zum Modell für alle Städte, zum Modell für ein Land Ökotopia, für einen gesunden Planeten Erde werden sollte.

Es schien damals, als ob in den 90er Jahren Ansätze in diese Richtung möglich werden könnten. Was sollte diese Bewegung, die Alternativbewegung wider die Kultur der großen Maschine, noch aufhalten, wo es ihr schließlich sogar gelungen war, kräftig mitzuhelfen, daß der eiserne Vorhang, der unsere politische Weltkultur in zwei Hälften teilte und der symptomatischerweise mitten durch Deutschland hindurchragte, am Ende der 80er Jahre tatsächlich gesprengt wurde! - Was 30 Jahre lang völlig undenkbar war, wurde von heute auf morgen Wirklichkeit: Die Grenzen zum „Ostblock" wurden geöffnet, der Ost-West-Konflikt schien beendet. Und daran war diese Bewegung, die eine weltweite und doch vor allem mitteleuropäisch gegründete war, die grün-alternative Bewegung der 1980er Jahre, ganz stark mitbeteiligt. Für wenige Augenblicke sah es für manchen Optimisten so aus, als gehe nun ganz Deutschland, nachdem die unmittelbare Konfrontation von Ost und West überwunden war, einen 3. Weg der Mitte. - Aber die Fahnen der Freude, die wir am 9.11.1989 noch aus unseren Herzen heraus hißten, wehten in diesen Tagen zum letzten Mal: In den  90er Jahren des 20. Jahrhunderts kam alles ganz anders; ganz anders, als wir es uns erhofft hatten.

Wenn ich mich heute darauf besinne, was in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts passiert ist, dann kommt es mir vor, als habe damals eine Stimme gesprochen: So, danke, das reicht für 's erste; jetzt sind erst einmal wieder die anderen dran. Gerade als es so richtig losging, wurde uns das Ruder wieder aus der Hand genommen und denjenigen Kräften übergeben, die den ganzen Planeten Erde, womöglich unser ganzes Sonnensystem in eine einzige große Maschine verwandeln wollen. Wir können das ungerecht finden, aber es hat seinen guten Sinn; auf eine Phase des Wirkens nach außen muß immer auch eine Zeit der Verinnerlichung folgen, sonst hat man sich eines Tages verausgabt. Und bei allen guten Ansatzpunkten hatte die grün-alternative Bewegung der 1980er Jahre doch eine Verinnerlichung bitter nötig. Die Maxime, alles Materielle nach ökologischen Gesichtspunkten zu gestalten und auf „Lebendigkeit" und „Natürlichkeit" als höchste Werte achtzugeben, erschien schon damals manchem von uns als viel zu primitiv und kurz gegriffen, denn eigentlich wollten wir doch noch auf etwas ganz anderes hinaus. Eigentlich war es in dieser grün-alternativen Bewegung vornehmlich um materielle Fragen gegangen, die auf sehr grobe Weise immerhin bis zur Ebene des Lebendigen erweitert wurden. Aber wir waren doch nicht angetreten, um im Menschen eine höhere Pflanze zu sehen! Wir haben es doch nicht ernsthaft gut gefunden, wenn mancher Utopist dieser grünen Bewegung den Menschen einen „Irrläufer der Evolution" nannte, einen lästigen Störfaktor im irdischen Paradiesgarten, der sich am besten so schnell wie möglich selbst vernichten möge.

Diese und andere Unzulänglichkeiten sind uns später nach und nach bewußt geworden, und dafür waren die Jahre der Verinnerlichung auf jeden Fall notwendig. - Diese Jahre des Rückzugs, der Introspektion; diese Jahre der Therapie, der Seele. Die 1990er Jahre waren wirklich ein Jahrzehnt der Therapien. Recht eindrucksvoll entwickelt hat sich das therapeutische Weltbild in dieser Zeit: Von „Ökotopia" bis zur „Celestine Prophecy" ist es immerhin schon ein bemerkenswerter Schritt! Auch Rudi Dutschke hätte in den 90er Jahren diesen Schritt vollzogen, da bin ich sicher. Und doch: Zuletzt war uns das immer noch zu primitiv; dieses ziellose Herumstochern in der eigenen Seele, der Mensch ein höheres Tier: Bei allen guten Ansatzpunkten war auch das noch nicht, was wir wirklich suchten.

Zunächst jedoch haben die meisten von uns sich auf die eine oder andere Weise zurückgezogen. Jeder Versuch, in den 90er Jahren gemeinschaftlich etwas auf die Beine zu stellen, mißriet in jenen Jahren. Alles wurde so unfruchtbar, so lau; nichts wollte mehr so recht klappen; man lief wieder gegen Wände, wenn es darum ging, auch die äußeren Verhältnisse zu verändern. Die Luft wurde immer dünner, zum Ersticken dünn, und wir wurden schläfrig. Immer seltener trafen wir uns zu gemeinsamem Wirken, immer mehr waren wir nur auf unser eigenes seelisches Überleben bedacht. Manchmal erkannten wir uns kaum wieder, wenn wir uns begegneten, und manchmal erwischten wir uns sogar selber bei etwas, das uns zusammenzucken ließ: „Mensch, was tue ich hier eigentlich?! - Das hätte ich doch vor 7 Jahren um keinen Preis der Welt tun mögen!" Eine lähmende Atmosphäre war entstanden, ein Vakuum gleichsam, in das eine unübersehbare Menge finsterer Geister hineingeschlüpft war, die uns in ihren Bann zogen und einer Spaßgesellschaft zum Tanz aufspielten, während wir darüber zu resignieren drohten. Plötzlich hörte man manchen von uns sagen: „Ach was, zuletzt ist doch jeder sich selbst der Nächste, man muß auch mal an sich selber denken. Alle machen sich ein lustiges Leben, warum soll ich mich immerfort quälen?" Die Last unserer hohen Ideale wurde immer weniger tragbar, und wir begannen, ein Ideal nach dem anderen über Bord zu werfen, bis wir erschrocken feststellten, wohin uns der Sog der Zeit dann wiederum trieb. - Es war eine Gratwanderung, diese Zeit der Selbst-Vertiefung, bei der wir ständig in den blanken Egoismus und Zynismus der Maschinen-Kultur abzurutschen drohten. Nur wenige von uns haben sich halbwegs aufrecht halten können in diesen Jahren; jeder ist zuweilen gestrauchelt und gefallen. Der Druck des Vakuums war einfach viel zu stark. - Aber gerade daran sollten wir wohl lernen, gerade daraus sollten wir gestärkt hervorgehen! Eine Zeit der Prüfungen war das für uns.

Die anderen, die in diesen Jahren am Ruder waren, haben ihre Zeit gut genutzt. Die meisten Menschen verbringen inzwischen einen immer größeren Teil ihres Lebens damit, eine Scheinkommunikation mit einem Apparat zu betreiben. Immer weniger Arbeitsplätze gibt es, die nicht zumindest einen teilweisen Umgang mit dem Computer erfordern. In alle Bereiche unseres Lebens hat sich der Computer hereingedrängt; in Gestalt des mobilen Telephons begleitet er immer mehr Menschen auf Schritt und Tritt und macht auch vor den Kinderzimmern längst nicht mehr Halt. Der mechanische Apparat, dessen sinnvolle Aufgabe es wäre, uns den lebensnotwendigen Umgang mit der Materie zu erleichtern, damit wir frei werden für geistiges Schaffen, hat sich vom Diener zum Herrn aufgeschwungen und schwingt nun seinen gnadenlosen Taktstock immer mehr auch in den Bereichen unserer Kultur, für die wir unseren Geist eigentlich befreien wollten. Der Computer bestimmt, wie etwas gestaltet werden soll; im Alltag ohnehin längst und zunehmend auch im Bereich der Künste. Und indem er konsequent vollendet, was das auf Abwege geratene Denken der westlichen Zivilisation sich als Ideal erträumt hat, tritt er nun diesem Denken gegenüber als Lehrer auf: Immer häufiger müssen wir unser Denken der Mechanik des Computers anpassen, statt daß dieser uns gelegentliche Hilfsdienste erweist. Der Computer ist nicht weniger als eine riesige Spinne, die ihr Netz über den gesamten Planeten ausgeworfen hat und im Begriff ist, jeden Einzelnen von uns fest darin einzuzurren. Statt zu erkennen, was da mit dem Menschen gemacht wird, ist mancher Einsame unter uns vollkommen hereingefallen auf diesen Spuk und feiert das world wide web gar als das globale Bewußtsein Gaias, des Lebewesens Erde, mit welchem die Vernetzungsträume der 1980er Jahre auf eine höhere Weise wahr werden. - Aber so haben wir das mit der Vernetzung gewiß nicht gemeint... - Die anderen haben die Welt der Maschinen bis in den letzten freien Winkel unseres Gesellschaftslebens hereinzwingen können, während wir tatenlos zugesehen oder sogar fleißig mitgetan haben. Andererseits haben sie erfolgreich begonnen, die Natur der Welt der Maschinen anzupassen, indem sie durch Genmanipulation Lebewesen „de-signen", die den mechanischen Anforderungen und Werten der Maschinen-Kultur angepaßt sind. Das empfanden die meisten von uns immerhin auch in den trübsten Tagen als schrecklich, aber wenn das geistige Leben dem Takt der Maschinen gehorcht, können selbstverständlich keine befreienden Gedanken entstehen. Und so darf es uns denn auch nicht wundern, daß in diesen finsteren Jahren zwar die Grüne Partei, die sich ja irgendwie doch einmal unserer Sympathie sicher sein konnte, in die Regierung eingezogen ist, aber dort alles verraten hat, womit wir uns in den 1980er Jahren identifizieren konnten. Im einzelnen braucht das nicht aufgezählt zu werden; die Partei des 3. Weges ist keine solche mehr; nicht zuletzt weil es in den 90er Jahren ohnehin keine zwei Wege mehr gab, sondern nur noch den einen, den der universellen Maschinen-Kultur, und dem hat sich diese Partei, in gemäßigter Form freilich, angeschlossen. Über Strickpullover und stillende Frauen kann man nur noch verächtlich lächeln, solche Kinderkrankheiten sind überwunden; man ist jetzt „professionell" geworden. So wie der Naturkosthandel „professionell" geworden ist und sich immer mehr in Richtung einer auf Hochglanz polierten Bio-Supermarktkultur orientiert, so darf sich jetzt die grüne Politik von den etablierten Parteien beglückwünschen lassen, erwachsen geworden zu sein. Aber während ihr die Hand geschüttelt wird, müssen sich die Glückwünschenden schwer zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten vor Lachen, und wenn man endlich wieder unter sich ist, hat man nur Worte der Verachtung für diese Grüne Partei übrig, die sich so erbärmlich selbst verraten hat. - Es haben also diejenigen, die eine andere Art von Menschheitsentwicklung bevorzugen, ihre Zeit klug genutzt. Obwohl es auch dort immer wieder Aussteiger gibt, erscheint es beinahe so, als ob jede Einsicht in den Zustand unserer Welt, die in den 1980er Jahren in das öffentliche Bewußtsein gehoben werden konnte, wieder zurückgenommen bzw. umgelenkt und korrumpiert worden ist:

Wir leben inzwischen in einer Welt, in der kaum einer mehr versteht, was mit dem Begriff „globale Krise" gemeint sein könnte; in der Waldsterben und Umweltverschmutzung keine Themen mehr sind und in der man im Naturkostladen einkauft, weil die eigenen Kinder Neurodermitis haben oder das Gemüse wirklich leckerer schmeckt, aber nicht weil man etwa die Notwendigkeit einer anderen Land- und Weltwirtschaft überhaupt einsieht. Wegen einer Volkszählung würde heute niemand mehr aufmucken; es stört ja nicht einmal der Plan eines ehemaligen Grünen, den Fingerabdruck in den Personalausweis aufzunehmen. Und schließlich sind Alternativschulen inzwischen eifriger dabei, die Kinder an den Computer anzustöpseln, als es die schwerfälligen Staatsschulen leisten können. - Und keiner mag mehr etwas dagegen sagen! So ängstlich, so sehr in die Defensive gedrängt sind wir inzwischen: so sehr auf den „Realismus" der Maschinen-Kultur und das angebliche „Erwachsen-Sein" getrimmt, daß wir das alles und immer noch mehr und mehr hinnehmen, ohne zu sagen: Moment einmal... Nur manchmal höre ich den einen oder anderen von uns sagen: „Ich komme mir inzwischen vor wie ein Opa, eine Oma, die die Welt um sie herum nicht mehr begreift. Nichts, rein gar nichts scheint mehr übrig zu sein von dem, was wir in den 80er Jahren gewollt haben. - Es ist, als ob ich eine Weile geschlafen hätte und nun in eine ganz andere Zeitepoche hinein aufgewacht bin, mit der mich innerlich nichts mehr verbindet. Während die anderen Leute alle ganz zufrieden zu sein scheinen, komme ich mir völlig fremd vor in dieser seltsamen Maschinen-Welt..." - Ja, merkwürdig ist das: als ob wir eine Generation von Schläfern sind, die in diesen Tagen wieder erwacht und sich erst einmal zurechtfinden muß in einer Welt, die inzwischen von anderen gestaltet worden ist. 

Die hoffnungsvolle Zeit der 1980er Jahre endete mit einem weltpolitischen Ereignis, das am 9.11.1989 wider Erwarten eine Periode des Vakuums einleitete, in der wir beinahe erstickt wären. Die scheinbare Beendigung des Ost-West-Konflikts zugunsten einer totalen West-Kultur drängte die Frage nach einer vermittelnden Kultur der Mitte ins Abseits. Seit dem 11.9.2001 kann diese Frage wieder gestellt werden, denn wir haben durch jene schrecklichen Geschehnisse wieder einen Ost-West-Konflikt, und zwar einen, der sein religiöses Antlitz nur noch halb hinter einer politischen Maske verbirgt.

Seit dem 11.9.2001 ist die Welt nicht mehr dieselbe, die sie vorher war. - Noch bevor wir den Ungeheuerlichkeiten des 11. Septembers auch nur einen klaren Gedanken entringen konnten, schlugen die Medien uns diesen Satz um die Ohren und wiederholten ihn mit der suggestiven Macht eines fernöstlichen Mantrams, bis auch der Letzte ihn im täglichen Gespräch nachbetete. Es war, als hätten die Verkünder dieses Satzes nur darauf gewartet, ihn endlich auf die Welt loslassen zu dürfen. Dabei bestand kein Zweifel, wie dieser Satz gemeint war: Jetzt ist Schluß mit lustig, jetzt ziehen wir die Zügel wieder fester an; weg mit den Schwächlichkeiten des Sozialstaats und der individuellen Freiheit; jetzt kommt der genetische Fingerabdruck, die striktere Überwachung des öffentlichen Lebens und die überfällige Aufrüstung des viel zu schwach gewordenen Militärs. Jetzt kommt der Euro und die neue Rechtschreibung und die totale Online-Welt, die den letzten Resten altmodischer Kultur den Todesstoß versetzen wird; jetzt kommt die totale Gentechnologie und Apparatemedizin, und wer da nicht mitziehen will, der ist eben von gestern. - Jetzt hat die totale Marktwirtschaft das Wort.

Als ob das nicht längst der Fall gewesen wäre! Das ständige Wiederholen dieser Formel hatte etwas von Panik, von Übereilung an sich, so als ob man sich ganz geschwind eines Umstands versichern wolle, der von Grund auf alles andere als unhinterfragbar ist. Es ist, als wäre das Ereignis vom 11. September der letzte Hammerschlag, mit dem das Werk, das die anderen in den 90er Jahren vollbracht haben, seinen letzten Halt bekommt, um ein für alle Male fest dazustehen: „So, das sitzt! Das kann uns keiner mehr nehmen. Von jetzt an ist die Welt nicht mehr dieselbe wie vorher!" - Es sei ihnen gegönnt. Nicht gegönnt sei ihnen hingegen die ebenfalls mit diesem Satz verbundene Hoffnung, daß man jetzt auf der einmal vorbereiteten Grundlage ungebrochen so weitermachen könne wie bisher, ja: daß es jetzt erst richtig losgehe! - So haben wir nämlich nicht gewettet.

Ganz im Gegenteil denke ich, daß jetzt wieder einmal die Reihe an denen ist, die etwas anderes wollen als die totale Maschine. Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie vorher, zweifellos. Aber vielleicht gilt das auch noch in einem anderen Sinne, als diejenigen es gerne hätten, die diesen Satz seit Monaten von den Dächern pfeifen. Vielleicht ist es jetzt an uns zu sagen: „Genug jetzt!" - Vielleicht hat dieses schreckliche Ereignis vom 11.9.2001 ironischerweise das Vakuum durchstoßen, das seit dem 9.11.1989 entstanden war; vielleicht strömt jetzt langsam wieder ein frischer Wind in unsere fatalen Verhältnisse herein, so daß wir durchatmen und wieder ganz zur Klarheit und Tat kommen können!

Und vielleicht ist es, auf diesem so ungeheuer schwierigen zeitgeschichtlichen Kampfplatz, ganz speziell unsere Generation, die hier und heute aufgerufen ist, sich ihres Auftrages zu besinnen. Es ist ja viel von Schläfern die Rede gewesen seit dem 11.9.2001, aber wie so oft ging es ausschließlich um eine perverse Art von Schläfern, die sich in Tötungsmaschinen verwandeln, wenn sie erwachen. Der eigentliche Schläfer hingegen, wie ihn manche Sagen schildern, wacht in einer ihm fremden geschichtlichen Epoche auf und muß sich auf seinen Kern, sein Ich besinnen, um in der ihm fremden Welt zu bestehen. Genau das aber ist unsere Situation: Nach den Jahren der Verinnerlichung, die wir in einem gewissen Sinne auch als Schlaf bezeichnen können, auch wenn sie gerade dem Wachwerden dienten, erwachen wir heute als Schläfer in eine völlig veränderte Welt hinein und sind nun aufgerufen, uns auf unseren Kern, unseren persönlichen geistigen Auftrag zu besinnen - und damit auch auf den Auftrag, der uns gemeinsam als Generation miteinander verbindet.

Es hat einmal jemand gesagt, unsere Generation habe es versäumt, eine Jugendrevolte zu initiieren. Mag sein. Aber vielleicht geschah das aus der Ahnung heraus, daß eine Jugendrevolte immer zum Scheitern verurteilt ist, immer zu kurz greift. Vielleicht war unser Weg nach innen kein lahmer Rückzug, sondern eine notwendige Vertiefung, aus der heraus wir jetzt erwachen, um als Erwachsene in gereifter Form das zu verwirklichen, worauf wir als Jugendliche intuitiv verzichtet haben.

Die 60er und 70er Jahre (vielleicht können wir auch sagen: 1965 - 1977) kannten wir vor allem vom Hörensagen, damals war es vornehmlich um materielle Fragen gegangen.

Die 80er Jahre (bzw. 1977 - 1989), in denen wir zum ersten Mal wach geworden sind, waren unsere erste Lehrzeit, in der es hauptsächlich um Fragen der Natur und des Lebens ging.

In den 90er Jahren (bzw. 1989 - 2001) ging es dann, im Stillen, um unsere Seele.

Und jetzt kommen wir endlich da an, wo wir von Anfang an hinwollten: beim Geist und bei der einzigen wirklichen Wissenschaft vom Menschen-Geist, die unsere Epoche hervorgebracht hat: Rudolf Steiners Anthroposophie. Und nach und nach entdecken wir, daß wir dort alles wiederfinden, was uns in den 80er Jahren ehrlich begeistert hat - und daß das, was wir damals wollten, in den meisten Fällen nicht falsch war, sondern nur noch unausgereift, zu kurz gegriffen. Die Keime aber waren gut und wertvoll; es ist kaum etwas darunter, an das wir nicht sinnvoll anknüpfen könnten: Von dem Gedanken, daß die Erde ein Lebewesen ist, bis hin zu einer völlig neu sich besinnenden Erkenntnistheorie finden wir alle Themen der „Wendezeit" in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners pionierhaft und auf solch ungewöhnliche, kraftvoll-dynamische Weise dargestellt, daß wir all das, womit wir damals angetreten sind, auf ganz frische Weise neu betrachten und bearbeiten lernen. So viel Arbeit wartet auf uns, denn bisher ist es nicht gelungen, diese Pioniertaten einer neuen Kultur wirklich ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu heben, wie es der „Wendezeit"-Literatur und der grün-alternativen Bewegung der 1980er Jahre ja doch immerhin ein Stück weit gelungen war. Die Zeit dafür dürfte jetzt aber - spätestens - gekommen sein, und ich bin sicher: In diesen Jahren - spätestens - wäre Rudi Dutschke Anthroposoph geworden.

Jens Göken  (geboren 1968)

Interessen: Zusammenhang „Außenseiterwissenschaften und Anthroposophie", Biografie Rudi Dutschkes; Archiv-Aufbau „Brücken-Archiv zur Erweiterung und Vertiefung der Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften"

Anschrift: Zum Kalkofen 21, 31867 Messenkamp-Altenhagen II; Tel. 05043/98273

Kontaktaufnahme erwünscht!

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