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Jedermensch

Zeitschrift für soziale Dreigliederung, neue Lebensformen und Umweltfragen

Winter 2002 - Nr. 625


Inhalt

Katastrophales Drohen
Nachdem das vergangene 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege gezeichnet war, die in unmittelbarer Mitwirkung von Deutschland standen, ist das Nein zu einem Waffengang gegen den Irak, zu dem sich die rot-grüne Bundesregierung durchrang, ein wirklicher Wandel. Von Jürgen Kaminski

Das Sozialforum als Grundstein einer europäischen FriedensbewegungDas europäische Sozialforum ( kurz: ESF), das vom 06.11. bis zum 10.11. in Florenz stattgefunden hat, hätte erfolgreicher nicht sein können. Es wird von 50.000 Teilnehmern gesprochen, gerechnet wurde mit 25.000. Auch haben sich doppelt so viele Menschen am Samstag zur Abschlussdemonstration eingefunden, wie von den Veranstaltern zuvor erhofft wurde - selbst die Polizei gesteht mittlerweile eine Zahl von 500.000 Demonstranten ein, während die Leiter der Veranstaltung von einer Million sprechen.

Haben sich die Vereinigten Staaten längst übernommen?
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

„Ich habe die Arbeitslosigkeit abgeschafft“
Dieter Koschek zur aktuellen Politik der rot-grünen Bundesregierung

Zum 10. Todestag von Peter Schilinski

Erinnerungen an Peter Schilinski
Peter ist mein Freund. Ich danke ihm. Von Claus Boysen

Biografisches zu Peter Schilinski
Stichpunkte zum Leben von Peter Schilinski, zusammengestellt von Dieter Koschek

Gibt es Frieden?
aus einer Weihnachtsbetrachtung von Peter Schilinski im „jedermann“, Dez. 1978

Pionier und Rebell
Wahrheit und Liebe verbinden. Im Gedenken an Peter Schilinski
Eine Buchbesprechung von Günter Bartsch

Nachrichten aus dem Eulenspiegel
Diese finden sie ausführlich unter www.eulenspiegel-wasserburg.de

Schwerpunkt: Individualität und Gemeinschaft

Projekt „Familienkultur und Erziehung“
Es müsste gelingen, einen Beruf einzuführen, der die Tätigkeiten zum Inhalt hat, die mit dem Haus, der Familie und der Erziehung der Kinder zusammenhängen. Dieser Beruf würde auch eine vielseitige Ausbildung erfordern. Diese Ausbildung würde dazu beitragen, dass die in Haus und Familie tätigen Menschen die nötige soziale Anerkennung bekommen. Von Heinz Buddemeier

Ausbildung für Eltern
Die Aufgabe, welche Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder übernehmen, ist derart wichtig und für die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend, dass es längst überfällig ist, die Tätigkeit der Kindererziehung und Familiengestaltung als anerkannten Beruf zu etablieren und damit gesellschaftlich aufzuwerten.

Geschieden und trotzdem weiter verbunden
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Individualität und Gemeinschaft
Mit diesem Auf-sich-selbst-Stellen stellt man sich im Grunde aus der Gemeinschaft heraus. Das tut der moderne Mensch immer wieder erneut. Der Standort der Individualität ist nicht in der Gemeinschaft, die Individualität steht auf sich selbst. Dieter Koschek fasst den  Beitrag von Udo Herrmannstorfer im „Rundbrief Dreigliederung“ Nr. 3/2001 „Delegation und kollegiale Führung, am Beispiel der Selbstverwaltung der Waldorfschule“zusammen.

Wie zeigt sich wahre Freundschaft?
Eine Betrachtung von Lothar Brandes

Anthroposophie & jedermensch:
Unzulänglicher Materialismus und zu verwirklichende Religiosität
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

 Nachrichten
Eine Fülle von kurzen Nachrichten können Sie in der gedruckten Ausgabe lesen



Katastrophales Drohen

Nachdem das vergangene 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege gezeichnet war, die in unmittelbarer Mitwirkung von Deutschland standen, ist das Nein zu einem Waffengang gegen den Irak, zu dem sich die rot-grüne Bundesregierung durchrang, ein wirklicher Wandel. Dass von diesem Ort ein entschiedenes Signal zur Mäßigung in dem Konflikt kommt, ist von amerikanischer Seite wohl nicht erwartet worden. Längst war die Kriegspropaganda angelaufen, um eine Betroffenheit über die Attentate vom 11. September 2001 in diese Richtung zu lenken.

Nach der deutlichen Bekundung für ein friedliches Vorgehen von der deutschen Regierung (mit breiter Unterstützung der Bevölkerung) wagten sich auch andere aus der Deckung. Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen wie Frankreich, Rußland und China verlangten eine „entschärfte“ Resolution, die dem Irak wenigstens eine Chance lässt, mit den geforderten Kontrolleuren zusammenzuarbeiten. Erst dann soll über das weitere Vorgehen entschieden werden. Die amerikanische Bush-Regierung entwarf zunächst Formulierungen, die quasi unerfüllbar, eine völlige Selbstentmachtung der irakischen Führung vorsahen. Ansonsten muss eben ein Krieg her. Etwas Ähnliches gab es schon gegenüber Serbien, dem im französischen Rambouillet eine Unterwerfung angetragen wurde. Die Nichtannahme führte dann zur Bombardierung durch den Nordatlantik-Pakt.

Zwar wurden jetzt auch in den Vereinigten Staaten kritische Stimmen vernehmbarer mit zum Teil erstaunlicher Offenheit. Und aus der Bevölkerung war bekannt, dass diese mehrheitlich nur einen Krieg befürwortet, wenn er im Einvernehmen mit den Vereinten Nationen steht. Doch die beiden parlamentarischen Kammern stimmten letzten Endes einer fast unbeschränkten Ermächtigung zu, Präsident George Walker Bush die Entscheidung für einen oder auch mehrere Kriege zu überlassen. Er solle nur im Nachherein das Parlament benachrichtigen.

Dabei äußerte sich sogar der Chef des Geheimdienstes CIA, George Tenet, in dem Sinne, dass vom Irak derzeit keine Gefahr für andere Staaten ausgehe. Dieser ist auch mitnichten ein besonderer Förderer des islamischen Terrorismus. Wobei es allerdings dann gefährlich werden kann, wenn ein Angriff erfolgt mit dem Ziel, das irakische Regime zu vertreiben. Dann könnte es tatsächlich zum Äußersten greifen.

George Tenet war zuvor schon eingehend mit den nah-östlichen Problemen beschäftigt gewesen. Er stand einer Kommission vor, die einen Friedensplan für Palästina ausarbeiten sollte.

In ähnlichem Sinne sprach auch der nun mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete ehemalige Präsident Carter. Es ist nur zu hoffen, dass die US-Regierung von George W. Bush sich von den Mahnungen aus dem eigenen Land beeindrucken lässt.

Viel stärker müsste auch die Welt darauf pochen, dass es sich bei dem Vorhaben um einen verbotenen Angriffskrieg handelt. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass man ein wahrhaft schurkisches Zwangsregime im Blick hat. Davon gibt es mehrere. Aggressives Verhalten gegen andere Staaten zeigten in den letzten fünfzig Jahren ebenfalls die Vereinigten Staaten. Und die verabschiedete Präventiv-Kriegs-Doktrin ist ein Schlag ins Gesicht jeglicher internationaler Vereinbarungen. Kriegführen aus dem Grunde, dass ein anderer genauso Waffen besitzt, die das eigene Land erreichen, wie man selbst den anderen erreicht, heißt den Grundgedanken der Vereinten Nationen zu verletzen. Die Erfahrungen der beiden Weltkriege werden verworfen, weil man sich stark genug fühlt, allein nach eigenem Gutdünken zu walten und letztlich andere zu beherrschen.

Dem sind jede Menge Vertragsbrüche und das Scheitern-Lassen internationaler Vereinbarungen vorangegangen. Fast makaber wirkt der Vorwurf, der Irak besitze unerlaubte biologische und chemische Waffen. Um die eigenen Bestände und Laboratorien nicht offen legen zu müssen, ließen die Vereinigten Staaten vor Jahresfrist gerade ein diesbezügliches Kontrollabkommen scheitern. (An der anfänglichen Ausrüstung vom Irak mit diesen Waffen waren vornehmlich auch die Amerikaner beteiligt. Damals galt Saddam Hussein als Verbündeter, als er gegen den Iran losziehen ließ.)

Die Seiten haben sich gewechselt – und nun soll die ganze Welt glauben, dass es keinen schlimmeren Feind gäbe als den Irak. Das ist sicher nicht die ganze Wahrheit. So sprach die ehemalige englische Nordirland-Ministerin Mowlam davon, dass hier wohl auch Ölinteressen im Spiel sind. Der Irak hat angeblich die zweitreichsten Ölvorkommen der Welt - nach Saudi-Arabien -,  und die Vereinigten Staaten sind der mit Abstand größte Ölverbraucher. Dazu darf man wohl ruhig nehmen, dass die jetzige Regierungsmannschaft hier vordem mit dem Ölgeschäft verbunden war. Dass also da nur selbstlose Interessen walten, die Menschheit von einem Übel zu befreien, mag bezweifelt werden.

Zudem geht es nicht nur um Saddam Hussein. Es geht um technischen Krieg. Das heißt um ein Niedermetzeln ganzer Armee-Einheiten. Meist ohne Möglichkeit, sich zu wehren, würden wieder Abertausende irakische Menschen niedergestreckt. Das war im vergangenen Golfkrieg so, als ganze Schützenlinien mit Bulldozern zugeschüttet und fliehende Soldaten zu Tausenden aus der Luft getötet wurden. Und die unzähligen zivilen Opfer! Selbst ein Bunker, in dem eine verängstigte Bevölkerung Schutz suchte, wurde von oben gesprengt. Das zermürbte Land mit der gezielt zerstörten Infrastruktur wurde anschließend mit einem Embargo belegt, so dass der Aufbau nur mühsam weiterkam. Westliche Hilfsorganisationen berichten, dass dadurch Tausende Kinder und Schwache in den folgenden Jahren starben.

Als weiteres ist zu bedenken, was mit solchem Vorgehen in die Welt gesetzt wird. Rechtliches braucht nicht mehr zu gelten; der Stärkere nimmt sich seinen Teil, notfalls mit Gewalt. Andere Staaten können sich auf dieses „Vorbild“ berufen. Ein Blick auf Israel zeigt, in welche Abgründe jene Haltung führt. Eine wechselseitige Steigerung von Hass und Gewalt ist deren Folge. Sicher sind daran beide Seiten beteiligt. Deshalb muss aber da Einhalt geboten werden, wo man sich vernunftgemäß die möglichen Folgen klarmachen kann.

Fanatisierte Menschen aus dem arabischen Raum haben der westlichen Großmacht einen Stich versetzt, den diese in schlimmster Weise beantwortet. Das ist keineswegs besser, sondern fordert dagegen noch viel mehr Opfer. Schon in Afghanistan mussten mehr Menschen sterben als in den einstürzenden Hochhäusern. Soll sich in Zukunft ein gutes Ost-West-Verhältnis bilden, muss dies als sein schlimmster Gegensatz gelten. Es sind besondere Qualitäten, gedanklicher und auch äußerer Art, die auf der Erde in Einklang zu bringen sind. Das kann am wenigsten mit Machtansprüchen gelingen. Allein die Fragestellung „Was gilt den Menschen als eine Wirklichkeit?“ kann in den verschiedenen Erdregionen zu überraschenden Ergebnissen führen.

Um so mehr sind jetzt Bemühungen um Verständnis und Vermittlung angesagt. Die Kontrahenten müssen zur Mäßigung aufgerufen und Bedingungen des Zusammenlebens Verschiedener entwickelt werden. Das Buch „In Gegensätzen miteinander“ des Anthroposophen Hermann Jülich mag hier ein Leitthema für eine ganze Epoche sein. Was in kleineren Gemeinschaften, auch der anthroposophischen, aufzuarbeiten war, hat den Kreis der ganzen Menschheit erreicht. Soziale Gedanken Rudolf Steiners sollten auch daran überprüft werden, inwieweit sie Hilfen geben, die derzeitigen und zukünftigen Verstrickungen in menschenwürdigem Sinne zu lösen, so dass Freiheit ebenso wie Brüderlichkeit, durch das Zugeständnis an Gleichheit mit dem anderen, Grundbestand unseres gemeinsamen Erdenlebens werden können.

Jürgen Kaminski

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Das Sozialforum als Grundstein einer europäischen Friedensbewegung

Das europäische Sozialforum ( kurz: ESF), das vom 06.11. bis zum 10.11. in Florenz stattgefunden hat, hätte erfolgreicher nicht sein können. Es wird von 50.000 Teilnehmern gesprochen, gerechnet wurde mit 25.000. Auch haben sich doppelt so viele Menschen am Samstag zur Abschlussdemonstration eingefunden, wie von den Veranstaltern zuvor erhofft wurde - selbst die Polizei gesteht mittlerweile eine Zahl von 500.000 Demonstranten ein, während die Leiter der Veranstaltung von einer Million sprechen.
Wir haben also wirklich Grund zur Freude und noch einmal mehr die Hoffnung: eine andere Welt ist möglich. Diese Nachricht wurde mit dem Europäischen Sozialforum auf eine derart pazifistische Art und Weise nach außen getragen, dass die Berlusconi-Regierung, mal platt gesagt, nun wirklich dumm dasteht. Letztere hatte die Bewohner von Florenz, wie alle übrigen Italiener auch, schon Wochen zuvor vor dem „linken Mob“ gewarnt, der käme, um ihre Stadt in Schutt und Asche zu legen. Dieser gefürchtete Mob hat sich allerdings letztlich als eine friedlich singende und trommelnde Versammlung entpuppt, die bunt durch die Strassen von Florenz gezogen sind und deren Bilder am darauffolgenden Tag die erste Seite aller italienischer Tageszeitungen schmückten. Jetzt, wo auch die Florentiner die Fehlmeldung ihrer Regierung erkennen, wollen sie nun die Verluste einklagen, die durch die vorsorgliche Schließung ihrer Geschäfte während des ESF zustande gekommen sind. Mit einem friedlichen Ausgang des ESF hatten auch sie nicht gerechnet.
Eine europäische Friedensbewegung: Wie geht's weiter?
Eine enorme Bewegung hat sich in den letzten Tagen also hier zusammen gefunden, alle mit der selben Forderung: Keinen Krieg im Irak. Auch wenn andere Themen diskutiert und behandelt wurden, die durchaus mit dem Irakkrieg in direkter Verbindung stehen, war doch die eindeutige Motivation des ESF die Mobilisierung einer pazifistischen Bewegung gegen amerikanische, als auch europäische Kriegspläne.
Allerdings muss erkannt und verstanden werden, dass das Sozialforum nur ein Grundstein ist, ein Grundstein, der in den letzten Tagen hier in Florenz gelegt wurde, um den Weg für eine gemeinsame, europäische Friedensbewegung zu bereiten. Dies ist erst der Anfang eines großen Prozesses, der fortgesetzt und weiter aufgebaut werden muss, damit unser Ziel verwirklicht werden kann.
So haben sich gestern Vormittag, einige Stunden vor Beginn der Demonstration, einige Mitglieder verschiedener europäischer Bewegungen, darunter die englische Stop-the-War-Coalition und die deutsche Attac- Organisation, zusammengesetzt um einen gemeinsamen europaweiten Demonstrationstag zu planen. Für diesen gemeinsamen europäischen Demonstrationstag ist der 15. Februar im Gespräch. Ein endgültiger Beschluss des Termins soll am 15. Dezember in Kopenhagen getroffen werden, wo der nächste EU- Gipfel stattfinden wird. Die Idee der Organisationen ist, und darüber waren sich auf dem Treffen am Samstag alle einig, die Friedensbewegung in den einzelnen Ländern zu erweitern und eine gewisse, wenn auch kurzfristige „Demonstrationstradition“ zu etablieren, die ihren quasi Höhepunkt in der europaweiten Demonstration Mitte Februar finden soll.
Bleibt nur zu hoffen, dass die Amerikaner, wie von einigen befürchtet wird, nicht früher los schlagen werden. In diesem Fall werden am ersten Samstag nach dem Tag X Demonstrationen organisiert.
Bis dahin ist aber noch nicht alles entschieden, und die nächste Gelegenheit eines gemeinsamen Protestes bietet sich schon anlässlich der NATO- Tagung vom 20. bis zum 22. November in Prag, wo über die Beteiligung der NATO am Irakkrieg abgestimmt werden soll. Am 16. November hat deswegen in Berlin eine Demonstration stattgefunden.
Es ist zu hoffen, dass die Signale, die das ESF ausgesendet hat, weit in die Länder Europas reichen und dass die Energie und die Hoffnung, mit der die Menschen wieder zurück nach Hause fahren, lange bestehen bleiben und viele zukünftige Aktionen möglich machen werden.
Aber wie es schon die tausende Europäer bewiesen haben, die alle hier für ein und die selbe Sache zusammengekommen sind, ist eine Erweiterung einer gemeinsamen und vor allem erfolgreichen Friedensbewegung möglich. Wir dürfen nur nicht die Hände in den Schoss legen und lediglich auf einen friedlichen Ausgang hoffen. Wir müssen tätig werden und gemeinsam an dem Prozess der europäischen Friedensbewegung arbeiten.
Einen guten Start haben wir schon hingelegt. Bleibt nur noch eins: Weiter machen!

Yvonne Lott


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„Ich habe die Arbeitslosigkeit abgeschafft!“

Entschuldigung, ich wollte niemanden zur Wahl der Grünen verführen oder dazu überzeugen, mein Artikel im letzen „jedermensch“ erschien ja auch erst nach der Wahl. Trotzdem Richtigstellung: Die Wahl der Grünen für den jetzigen Bundestag war nicht besonders klug, denn die ersten Wochen nach der Konstituierung der neuen „rot-grünen“ Bundesregierung zeigen erneut, dass in einer Regierung kein Sachverstand zu erwarten ist (von einer schwarz-gelben erst recht nicht).

Die nun hektisch auf den Weg gebrachten „Reformen“ im Gesundheitswesen und in der Arbeitsmarktpolitik sind eindeutig dem herrschenden Wirtschaftsdenken zu verdanken und zeugen nicht von einer Zukunft.

Das ganze Dilemma, so hört man, entspringt einer Wirtschaftskrise, was heißt: die Wirtschaft wächst nicht so wie so soll. Aber gerade dieses Denken über Wirtschaftswachstum spricht ökologischen und sozialen Gesichtspunkten Hohn. Die westlichen Industrieländer, die nur 20 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, verbrauchen 80 Prozent der Energieressourcen. Die „Grenzen des Wachstums“ wurden schon vor 40 Jahren angemahnt, aber diese Gedanken sind bislang noch nicht zur Regierungsbank in Berlin vorgedrungen. Dort bekommt man täglich in den Nachrichten zu hören, dass die Wirtschaftskrise, das niedrigere Wachstum die Ursache von den Problemen des Staatshaushaltes ist. Gerade dieses Lamentieren ist es, was mich so ärgert. Denn zum einen sind diese Knappheit bzw. diese Defizite selbstgemacht. Durch Verlagerung der Steuern weg von den Vermögenden hin zu den Verbrauchssteuern und Lohnsteuern entstehen selbstverständlich die Probleme bei steigender Arbeitslosigkeit. Und Arbeitslosigkeit ist kein Problem der faulen Arbeitslosen, sondern ein Problem der Steigerung der Arbeitsproduktivität. Hier werden ständig und immer wieder Arbeitskräfte „freigesetzt“. Nicht zuletzt ist dies eine Folge des „neoliberalen“ Denkens, das dem Kapital immer weniger Grenzen setzen will. Die heute bejammerten Entlassungszahlen bei den deutschen Banken oder bei der Telekom waren schon vor 10 Jahren z.B. im Buch „Globalisierungsfalle“ nachzulesen.

Nein, nicht Wachstum und Entgrenzung der Wirtschaft werden die Probleme der Finanzierung unserer Gemeinschaftsaufgaben lösen, sondern eine Neuordnung der Wirtschaft selber. Nicht mehr grenzenloses Wachstum, das nur profit- und börsenorientiert ist, kann das Ziel von Wirtschaft sein, sondern nur eine regionale Versorgung der Bedürfnisse der Menschen. Die Wirtschaft darf per Gesetz und ihrer Natur nach nicht der Bedienung der persönlichen Reichtumsphantasien einzelner dienen, sondern der Versorgung der Menschen mit den Gütern ihres Bedarfs. Dabei dürfen bestimmte Auflagen nicht gebrochen werden und seien es nur Öko-Gesetze oder die allgemein geltenden Arbeitsschutzbestimmungen, Arbeitszeiten und die Form der Bilanzierung. In einer neuen Betriebswirtschaftlehre kann es keine Arbeitskosten mehr geben, sondern nur Verteilungsbestimmung des gemeinsam erwirtschafteten Erlöses. Dies wird sicherlich erleichtert werden, wenn das Eigentumsrecht in der Bundesrepublik Deutschland geändert wird, Grund- und Boden sich ebenso wie Kapital und Produktionsmittel in allgemeinem Besitz befinden, und nur noch Verfügungsrechte darüber zu bekommen sind, wenn eine fachliche Eignung und ein gesellschaftlich festgestellter Bedarf dies begründet.

„Freigesetzte“ Menschen wird es dann meiner Meinung nach immer noch geben, ebenfalls aus den Produktivitätssteigerungen, doch muss man eben dies einsehen, und nicht diese Produktivitätssteigerungen bejammern. Wenn man davon weg kommt, an Wachstum, Vollerwerbstätigkeit, Lohnarbeit u.ä. zu denken, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt dieser „freigesetzten Menschenkraft“ zu ermöglichen, diese Kraft auch in positivem Sinne der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen.

Ja, allein schon das Ausscheiden aus einem immer kleiner werdenden Arbeitsmarkt stellt ja an sich schon eine positive Tat dar. Anstatt die „Arbeitslosen“ zu strangulieren und sie zu quälen, oder noch schlimmer, sie für ihren anscheinend schlimmen Zustand verantwortlich zu machen, ist es notwendig Möglichkeiten zu schaffen, dass diese Menschen in Freiheit einen Entwicklungsweg gehen und rundweg der Gesellschaft nützlich sein können. Der Weg dazu ist in erster Linie die Ächtung des Wortes Arbeitslosigkeit, zweitens eine Grundsicherung aller Menschen ohne eigenes Erwerbseinkommen. Hier gibt es die Modelle des Existenzgeldes. Und des weiteren sind kulturelle Stätten zu schaffen, die die Möglichkeit in sich haben, kreative, bildnerische, handwerkliche und geistige Potenziale zu entwickeln.

Würde auch die heutige Regierung nicht immer das Postulat einer Gesellschaft von Armen und Reichen fördern, sondern eine tatsächliche soziale Gerechtigkeit, dann, so bin ich überzeugt davon, käme ein kulturelles Leben zum Blühen, das einen Reichtum für alle schaffen würde, der nicht der heutigen Notwendigkeit des Geldes bedarf.

Dazu wäre ja eine rot-grüne Regierung eigentlich da: blühende geistige Landschaften zu ermöglichen, dabei nicht auf einen Bereicherungstrieb auf Kosten anderer setzen, sondern im Rahmen der Möglichkeiten Schritte zu gehen, die diese Entwicklung ermöglichen.

Dazu gehören auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes die Umkehrung der Schuldzuweisungen. Arbeitslose zu zwingen irgendwelche Arbeiten anzunehmen, freiwillige Tätigkeiten zu ahnden, sinnlose bürokratische Maßnahmen einzufordern und eine ständige Absenkung des Einkommens gehören abgeschafft. Bei der Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe gehören in einem ersten Schritt armutsverhindernde Untergrenzen einzuziehen, der Arbeitszwang, ja jeglicher Zwang gehört abgeschafft.

Durch die staatliche Förderung freier Initiativen im ökologischen, sozialen und kulturellen Bereich werden einerseits Arbeitsfelder geschaffen und zum anderen an der geistigen Gesundung des Denkens gearbeitet. Allein, wenn die Regierung die Signale der PISA-Studie hören würde, würde durch die Ermöglichung von Alternativen zur Staatschule, einer besseren Lehrerausbildung, einem erweiterten Zugang von „Nicht-Lehrer“ als Lehrpersonal, eine bessere Lehrer-Schüler-Quote usw. Arbeitsmöglichkeiten geschaffen, davon kann Gerhard Schröder mit seinem veralteten Denken nicht einmal träumen. Wenn die Regierung die Arbeitslosen nicht mehr als Problem betrachtet, sondern als eine Chance zur Fortentwicklung dann braucht es auch keine Arbeitslosenstatistiken mehr und Gerhard Schröder könnte tönen: „Ich habe die Arbeitslosigkeit abgeschafft!“

Dieter Koschek


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Erinnerungen an Peter Schilinski

Im Frühjahr 1957 hatte ich in Kiel das Abitur bestanden und an der dortigen Universität mit dem Studium der deutschen und englischen Literaturwissenschaften begonnen. Noch keine 20 Jahre alt, fuhr ich im Sommer desselben Jahres auf dem Rücksitz eines defekten Vespa-Motorrollers mit einem Studienfreund nach Sylt. Wir gingen dort getrennte Wege. Ich stieß auf meinen Streifzügen in Wennigstedt auf ein geducktes, reetgedecktes Haus: Witthüs-Teestuben. Täglich verbrachte ich Stunden in den vier niedrigen, kleinen Räumen. Tee, Kaffee, einfache selbstgebackene Kuchen, Säfte, kein Alkohol. Leise klassische Musik von meist zerkratzten, rauschenden Langspielplatten. Und ganz ungewöhnliche Menschen. Ungewöhnlich, weil sie in einem mir bisher kaum gekannten Maße Eigenwillen und Selbstbewusstsein ausstrahlten. Auf höchst unterschiedliche Weise, ungefiltert, nicht „gestylt“ oder programmiert.

Die Atmosphäre, die sie schufen, zog mich an, machte mich neugierig. Im engen Eingangsflur des Witthüses Aushänge des „Denghooger Kreises“ mit Hinweisen auf „Öffentliche Samstagsgespräche“ und Arbeitskreise über „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ und „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ – eine fremde Welt für mich. Dann das erste Samstagsgespräch, im völlig überfüllten größten Raum (vielleicht 6 mal 9 Meter) des Hauses. Da lernte ich ihn dann kennen: Peter Schilinski.

Es ging in diesem Gespräch um Leidbewältigung. Ich höre mich, den recht selbstgefälligen Jungakademiker argumentieren: „Daß Menschen wie Benn oder Nietzsche nicht so stimmige ‚runde’ Lebensentwürfe wie der angesprochene Goethe hervorgebracht haben, liegt doch wohl daran, dass sie eben tiefer gelitten haben als Goethe.“ Peter antwortete, ohne jeden Anflug von Rechthaberei: “Das ist aber zunächst nur eine Vermutung.“ Ich erinnere mich, dass es nicht so sehr der Inhalt dieser Entgegnung war, was mich hellhörig machte, als vielmehr der Ton, die Haltung, der sie entstammte. Ich empfand, dass ich nicht „abgebürstet“, wegargumentiert worden war, sondern nur auf einen mir nicht vertrauten Weg geführt.

Nach diesem Gespräch und der Teilnahme an einigen Arbeitskreisen war für mich klar, dass ich zu Peter und dieser Lebensgemeinschaft würde zurückkehren müssen. Ich bat Ulle Weber, Peters damalige Lebensgefährtin, mich für den Sommer 1958 als Servierhilfe in der Teestube vorzumerken.

Einen Tag, bevor ich im Sommer 58 nach Sylt reisen sollte, um meinen „Dienst“ anzutreten, sagte mir Ulle in einem Telefongespräch, sie hätten seit Wochen Ost-Wind, die Leute lägen alle am Strand, die Teestube sei sehr schlecht besucht und sie müsse auf meine Mitarbeit verzichten. Da tat ich etwas, das meinem damals eher schüchternen, nachgebenden Wesen überhaupt nicht entsprach: Ich ignorierte Ulles Absage, fuhr am nächsten Tag nach Sylt und stand in ihrem kleinen Zimmer. Hier bin ich! (Ich halte mich nur deshalb so lange bei der persönlichen Vorgeschichte auf, weil mir im Rückblick klar geworden ist, dass meine damalige Entscheidung, zu der ich mit Sicherheit auch geführt worden bin – buchstäblich lebenswichtig -, meinem ganzen Leben seine Richtung gegeben hat). Ich wurde freundlich aufgenommen. Der Sommer mit dieser Menschengemeinschaft um Ulle und Peter gab meinem Leben eine neue, entscheidende Prägung. Ich verließ die akademische Laufbahn und bereitete mich darauf vor, Schauspieler zu werden. Vor allem aber keimte in mir die Ahnung, dass mein Leben selbst etwas von mir zu Gestaltendes sein könne. Peter wurde mein Lehrer und – ich denke – später mein Freund.

Die Begegnung mit ihm veränderte mein Leben nicht schlagartig und spektakulär, aber stetig und nachhaltig. Ihm verdanke ich, dass mein Leben ein nicht endendes Lernen wurde. Es ging nicht mehr darum, Wissen anzuhäufen, um dann besonders gebildet oder schlau zu sein (oder mit einem vermeintlichen Geheimwissen anderen Menschen zu imponieren oder sie gar auszustechen), sondern darum, meinen Gedanken und Vorsätzen Zugang zu meinem Verhalten zu schaffen. Welch ein Ziel! Es ging darum, mich für die Welt nach und nach zu verwandeln. Die 43 Jahre nach diesem Sommer auf Sylt haben mich gelehrt, wie mühsam diese Arbeit ist, wie vieler kleinster Schritte es bedarf, wie herb die Rückschläge sind, wie unsäglich klein die Erfolge erscheinen. Die Euphorie des Anfängers verflog, aber Peter hatte mit seinem feurigen Temperament einen Funken in mir entzündet, eine Begeisterung, die nie erloschen ist.

Die Freude, die er bei der Vorstellung empfand, dass er – seine Fahrt nach Hamburg auf einer Autobahnraststätte unterbrechend – in seinem alten Volkswagen „Wie erlangt man Erkenntnisse ...“ liest, und ich an einem anderen Ort das gleich tue, ist unvergesslich. - Wie klärend und kräftigend war die Dringlichkeit, mit der er mich bei einem seiner Durchreisebesuche in Rendsburg auf einen Vortrag von Rudolf Steiner in „Die soziale Grundforderung unserer Zeit“ hinwies! Wir lasen dann gemeinsam darüber, dass „das meiste, was sich zwischen Menschen als Liebe geltend macht, nichts weiter ist als eine Illusion, eine furchtbare Selbsttäuschung“. Mein Jammern darüber, dass alle Liebesschwüre, die ich seit der Pubertät bis dahin geleistet hatte, Ausfluss eines egoistischen Missverständnisses gewesen sein sollten, wich bald der schmerzlichen, aber stärkenden Erkenntnis, dass es wohl galt, noch einmal neu anzufangen, Fremdes zu verstehen, Unvertrautes zu lernen.

Die Unermüdlichkeit, mit der er regelmäßig an gewissen Tagen bei Wind und Wetter im Dammtor-Bahnhof seinen „jedermann“ schwenkte, wie ein Bananenverkäufer lauthals verkündete: „Die einzige unabhängige Zeitschrift der Bundesrepublik“, sich dem Lächeln, dem Spott oder gar Anpöbeleien der Vorübergehenden aussetzend, blieb für mich in allen Augenblicken des Verzagens und Versagens ein leuchtendes Beispiel, wie mutig und unbedingt man sich für eine Sache einsetzen kann, die einem wirklich am Herzen liegt.

Die Zeit, in der ich seine Aufsätze für den „jedermann“ und seine Kommentare zu Steiners „Die Kernpunkte der sozialen Frage“ korrekturlesen durfte, brachte mich sowohl den Inhalten als auch dem Menschen Peter immer näher. Ich ahnte damals und weiß heute, dass ich mich wegen seiner Widersprüchlichkeiten zu ihm hingezogen fühlte. Er lebte seine Widersprüche, seine Spannungen. Und er rang mit ihnen. Er war eben alles andere als ein selbstzufriedener „wohlausgebildeter“ Modellanthroposoph. Und die Ringenden standen mir allezeit näher als die Runden, Glatten, scheinbar Gelungenen. Wie er mit seinen Spannungen lebte und im Zusammenleben mit anderen Menschen damit umging, machte ihn für mich so glaubwürdig.

Zum Beispiel seine Redseligkeit. Peter war ein wortgewandter, ja wortgewaltiger Mensch und war durchaus in der Lage (so manches Mal im Verein mit mir), Menschen niederzureden (wir steckten damals dafür so manchen Rüffel von Ulle ein). Andererseits habe ich nur wenige Menschen kennengelernt, die wie er hingegeben zuhören konnten. Dann fühlte man sich von ihm zutiefst verstanden.

Und seine Cholerik: Wie oft ließen seine feurigen – sicher auch häufig nicht gerechtfertigten – Zornesausbrüche das kleine Witthüs erbeben. Dann wiederum strahlte er eine Milde aus, die selbst dem Fremdesten, Abseitigsten Verständnis entgegenbrachte.

Peters unbändiger Sinnenfreude stand eine hingebungsvolle Verehrung der geisteswissenschaftlichen Arbeit gegenüber – und sicher auch oft entgegen . Es war eine Wonne, mit ihm zu genießen – ob eine köstliche Mahlzeit, Musik, Bilder, Natur. Wie konnte er sich freuen! Wie konnte er lachen! Ich vergesse nie, wie er, als ich ihn nach einigen  Wochen eifrigen Studiums esoterischen Schrifttums schüchtern fragte, wann es denn nun wohl soweit sei mit dem Wahrnehmen der Aura und so weiter, sich ausschütten wollte vor Lachen, und – sich heftig auf sein steifes Bein schlagend – hervorprustete: „Willst die Heinzelmännchen sehen, was?“ Das war eindrücklich und erhellender als ein langer Vortrag über die Mühseligkeiten beim Ersteigen der Erkenntnisstufen.

In der Arbeit an den Texten war Peter äußerst konzentriert. Er besaß die seltene Begabung, die Worte mit Leben zu erfüllen, scheinbar Abstraktes anschaubar, erlebbar zu machen. Er konnte Menschen für den Geist begeistern. Ihm verdanke ich die Lust geisteswissenschaftlich zu arbeiten und das Gelernte, Erfahrene im Leben zu prüfen.

Es bestand für niemanden, der ihn näher kennen lernte, der geringste Zweifel, dass für ihn die Verbreitung der sozialen Dreigliederung und überhaupt des Gedankengutes von Rudolf Steiner im Mittelpunkt seiner Arbeit und seines Lebens stand. Und obwohl er oft genug unter Existenzängsten litt, hat er im Eintreten für diese seine Lebensinhalte immer Unbestechlichkeit und ungebrochenen Mut bewiesen.

Dieses Ergriffensein von der drängenden Notwendigkeit, die Dreigliederung auszubreiten und an Einfluß gewinnen zu lassen, machte ihn sicher oft ungeduldig. Er hatte die Neigung, Menschen an sich und die Arbeit  zu schnell und zu verpflichtend heranzuziehen. So fühlte sich mancher von ihm überwältigt und unfrei gemacht. Ich habe das nie so erlebt. Bei allem entschiedenen Ernst und aller Unverblümtheit seiner kritischen Auseinandersetzungen mit mir, habe ich dahinter immer sein Wohlwollen, sein Verständnis und seine Bereitschaft, meine Andersartigkeit zu achten, gespürt. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart nie unfrei. Seine Ehrlichkeit und erfrischende Offenheit waren für mich Anstoß zu eigenem Tun.

Mit zunehmendem Alter wurde Peter immer klarer, schnörkelloser. Als wir uns, nachdem wir jahrelang keinen Kontakt gehabt hatten, bei einem Seminar mit Anton Kimpfler in Wasserburg am Bodensee wiedertrafen, sagte er mir nach Ablauf der drei Tage: „Ich habe immer gedacht, Freundschaft bedürfe der ständigen Pflege durch Gespräche, Briefe, fortlaufende Information. Du hast mich gelehrt, daß sie auch ohne das Bestand haben kann.“ Diese Äußerung hat mich beglückt und zutiefst beschämt. Denn ich hatte seine Bedürfnisse nicht nur nicht befriedigt, sondern nicht einmal geahnt oder bedacht.

Er wurde immer direkter, umwegloser. Als ich ihn wenige Wochen vor seinem Tod besuchte, hatte er mich gebeten, ihm etwas vorzulesen. Ich brachte also meinen geliebten Rilke mit und begann, ihm aus den Duineser Elegien vorzulesen. Schon nach wenigen Zeilen unterbrach er mich, griff ins Bücherbord neben seinem Bett und reichte mir einen Novalis-Band. Und so las ich ihm denn aus den geistlichen Liedern vor:

 

Nun weint auch keiner mehr allhie,
Wenn Eins die Augen schließt,
Vom Wiedersehen, spät oder früh,
Wird dieser Schmerz versüßt. 

Es kann zu jeder guten That
Ein jeder frischer glühn.
Denn herrlich wird ihm diese Saat
In schönern Fluren blühn. 

Er lebt und wird nun bei uns seyn,
Wenn alles uns verlässt!
Und so soll dieser Tag uns seyn
Ein Weltverjüngungs-Fest. 

Peter ist mein Freund. Ich danke ihm.

Claus Boysen

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Biografisches zu Peter Schilinski
Stichpunkte zum Leben von Peter Schilinski

Von Ria Schilinski, Regine Koch, Claudia Schilinski, Kurt Thede, Günter Voigt, Lia Maier-Härting, Ulle Weber, Ingrid Feustel und Tatjana Kerl, zusammengetragen und erweitert von Dieter Koschek.

Es sind bislang nur Stichworte geblieben. Die Arbeit an einer „Biografie“ konnte noch nicht getan werden. Es fehlt die Zeit, um die genannten Personen, sofern sie noch leben, und die genannten Orte aufzusuchen, tiefer zu recherchieren und diese mit Peters Erinnerungen, die seine Veröffentlichungen durchdringen, in ein Verhältnis zu bringen.

So ist dieser Beitrag eine Bitte und eine Aufforderung an alle, die Peter kannten, ihre Erinnerungen an ihn und sein Wirken an die Jedermensch-Redaktion in Wasserburg zu senden.

1916
Peter kommt am 23.9 in Berlin zur Welt.
Seine Mutter ist Hedwig Schilinski, ihr Mädchennamelautet Brieger. Sie wurde am 9.11.1884 in Breslau geboren und starb am 22.9.1964 in Hamburg.
Er beschreibt seine Beziehung zu ihr in Mann/Frau
Sein Vater ist Dr. Peter Schilinski. Er wurde am 1.8.1883 in Berlin geboren und starb am 22.8.1932 in Berlin.
Peter hat eine Schwester, Ria, geb. 1909. 

1922
Katholische Volksschule in Berlin 

1926
Werner-Siemens-Gymnasium, Berlin;
Mitglied einer katholischen Pfadfindergruppe;
Beginn der Freundschaft mit Robert Zutraun (Bob)

1932
Tod des Vaters;
Mitglied im Box- und Schwimmverein „Aegir Berlin“;
Marienverehrung;
Erlebnisse in der Bar „Rote Lampe“;
Beginn der Beziehung zu Lena (Pseudonym)
Eine im Berliner Kaufhaus Rudolph Herzog begonnene Lehre brach er zugunsten einer Landwirtschaftslehre in Mecklenburg in der Nähe von Rheinsberg ab. Während dieser Ausbildung stürzte er  

1935
von einer Tenne, wobei er sich schwer verletzte. 13 Operationen in der Klinik Perleberg waren die Folge. Auf Intervention seiner Schwester Ria wurde er in eine Berliner Klinik verlegt. Trotz aller Maßnahmen konnte die Funktionsfähigkeit einer Hüfte nicht wiederhergestellt werden.

1937
erlangt er die Gehfähigkeit wieder.
Beziehung mit Brigitte;
Arbeit als Erzieher im Fürsorgeerziehungsheim „Grünes Haus“ in Berlin-Tegel;
Beziehung mit Corinna (Pseudonym);
Begegnung mit Marxismus und Psychoanalyse;
Mit Professor Jensen, einem alten Herrn, arbeitet Peter, um das Abitur nachzuholen;
Sein Freund Bob flieht nach Prag und stirbt 1945 im KZ 

1941
Hochzeit mit Regine Koch 

1942
Abitur als Externer in Berlin;
Begegnung mit Klara;
Beginn des Philologiestudiums mit den Schwerpunkten Französisch und Geschichte in Berlin und Greifswald;
Es gibt drei für ihn sehr wichtige Professoren, deren Namen bisher nicht bekannt sind, weiß jemand mehr?;
Geburt von Tochter Claudia;
Arbeit als Internatslehrer im Baltenschulinternat Misdroy/Pommern;
Besuch bei Bob in Prag. Verhör durch die Gestapo, der Beamte war ein Schulfreund und ließ beide frei.
Frau und Kind gehen aus Ostpreußen nach Misdroy, von dort dann 1945 weiter nach Schleswig-Holstein. 

1945
In Schleswig, Poststr. 1 trifft sich die Marxistische Studiengruppe, bestehend unter anderem aus Kurt Thede, Götz Pohl, „Tutti(?)“ und Günter Voigt als sein „proletarischer“ Freund. Kennen lernen der „Kernpunkte“ und „Theosophie“. Die Bücher brachte Rosel Lampasiak vom Bücherwagen.
Arbeitskreise und Öffentlichkeitsarbeit in Neumünster und Rendsburg;
Begegnung mit Maria 

1948
Geburt von Sohn Friedemann 

1949
Scheidung von Regine;
Peter initiiert die „Menschlichkeitsbewegung“ zusammen mit Günther Voigt und Anneliese Otto. Durch Gespräche und Aufsätze wirkte Peter für die Initiative.

Zwischen 45 und 52 trampte Peter immer wieder durch Deutschland auf der Suche nach aktiven Dreigliederern. Wer weiß, wen er dabei besuchte? 

1950
lernte er Ulle Weber kennen. Er zieht nach Sylt.  

1951
Gründung der Witthüs-Teestuben, Wennigstedt von Ulle Weber und Janne Reckert-Cordua und weiteren Künstlern, Till, Hänschen, „Die erste und einzige Wohngemeinschaft in Deutschland damals.“
Bürgerinitiative für Volksabstimmung gegen Wiederbewaffnung;
Begegnung mit Lia Maier-Härting. Weitere Namen aus der Zeit: Jürgen und Christa, Ingrid, Helmut mit Frau und Kind, Dietrich B. Schmitt-Seglerm, Gerd P. Wagner 

1956
Kommentare zu Kernpunkten erscheint in kleiner Auflage, getippt von Lia Maier-Härting 

1958
Februar/März Probenummern des jedermann erscheinen; 12. Mai 1958 Gründung des jedermann, Nr. 1 erscheint; Verkauf am Hauptbahnhof mit Kreon (Gerd Wagner)
Kampfbund gegen Atomschäden. Peter war Gründungsmitglied, mit Prof. Bechert und Bodo Manstein;
„Denghooger Kreis“ gegründet mit Walter Hansen, Lia, Ulle Jan Bernd Ems. Aufsätze: Die freie Schule, Die freie Universität, Aufgaben und Grenzen der Volksabstimmung
Menschliche und politische Gespräche im Witthüs auf Sylt, in Hamburg, Bauzentrum? 

1960
Der Denghooger Kreis hat 6 Arbeitskreise in der BRD.
Ab jedermann Nr. 50 fehlt Ulle Weber im Herausgeber-Kreis. Wahrscheinlicher Grund dafür war der Schutz  der gewerblichen Grundlage der Aktivitäten, der Teestuben, vor der Verfolgung durch Staatsschutzorgane oder durch Klagen von Politikern, denn Peter schreckte in dieser Zeit nicht vor erheblichen Beschimpfungen von Politikern zurück.
In Heft 64 Flugblatt gegen Notdienst und Bundesseuchengesetz

1962
In jedermann Nr. 109 „Witthüs Info: „Das erschütternde Gespräch“; Es gab die Turbulenzen mit Herrn Geist und Herrn Huber wegen der jedermann-Herausgabe bzw. Druck. Der jedermann erscheint vierzehntägig.
Ab jedermann Nr. 109 „Konzeption des Denghooger Kreises“ 

1963
Die Geschichte des Schiffes „mariann“ (Broschüre aus Sylt), das als die neue Teestube vorgesehen war 

1964
Ende vom alten Witthüs; Neue Witthüs-Teestuben in der Scheune vom Pfarrhaus; Jutta und Fred Lauer, Unterlengenhardt, kommen nach Sylt und eröffnet das Restaurant.
In Keitum ist die Witthüs-Töpferei, über der die Mitarbeiter der Teestuben wohnen. 

1965
Ab 15.6.65 Adresse in Keitum;
Rein politische Texte;
Ingrid Feustel kommt nach Sylt.
Ab etwa 1966 – 1968 gab es die Hamburger Witthüs-Teestuben am Hauptbahnhof Brandsende, (Bauzentrum?) danach Umzug in die Witthüs-Teestuben am Elbufer im Hirschpark/Blankenese, die anfänglich sehr schlecht liefen und von Sylt aus unterstützt wurden. 

1966
15.2. – 10.3: Reise zu 7 Arbeitsgruppen (185);
Ostertreffen, Weihnachtstagung;
Vortrag in Stuttgart, Begegnung mit Wilfried Heidt („Hagener Gruppe“) bei Josef Busch  

1968
Abwechselnd sind Ulle Weber, Peter und Wilfried Heidt in Berlin. Sie wohnen im „Hotel Lichtner“ bei Margarete Lichtner.
Reise nach Prag von Ulle, Wilfried und Peter.
APO-Aktionen in Berlin und Bremen;
Straßengespräche, Reisen zu Aktionsgruppen gegen Zersplitterung;
Rudi Dutschke in den Witthüs-Teestuben 

1969
Gründung der DU – Demokratische Union;
Kongreß in Frankfurt. Hierzu gibt es einen Artikel im Spiegel und einen in der FAZ). 

1970
Erscheinen der „Modelle“ im Rahmen der DU;
Treffen mit Mila und Hans Hoffmann-Lederer in Esseratweiler über ein Internationales Zentrum für Soziale Dreigliederung;
Claudia von Albertini lebt in Wangen, kennt Ingrid Feustel.
Harry Schmitt und Barbara Schmitt-Segler, Sylt, übernehmen die Leitung der Witthüs-Teestuben. 

1971
Bausteinereisen von Fred und Jutta Lauer und Peter u.a. zu Beuys und vielen jedermann-Abonnenten.
Heftige Streits zwischen Fred und Peter;
Konzepte von Peter und Wilfried;
Entstehung “Internationales Kulturzentrum Achberg“;
Ramon Brüll initiiert in Holland eine „Arbeitsgemeinschaft soziale Dreigliederung“.
Bis 12/72 war Herausgeber des jedermann die „Aktionsgruppen für Dreigliederung in der DU“. 

1972
„Kommentare zu den Kernpunkten“ in jedermann Nr. 10/72;
Ebenfalls vermutlich Oktober Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Dreigliederung des sozialen Organismus (bis verm. 1980) 

1973
Sommertagung in Achberg;
Peter begegnet Doris Rüsse;
ab 1/73 45 Aktionsgruppen für Soziale Dreigliederung;
Projektgruppe Kommunikation;
1.11.73 Umzug in die Alte Post in Hergensweiler;
Internationale Gesprächskreise 

1974
2. Jahreskongress: 3. Weg mit Ota Sik;
Konflikt mit Wilfried 

1976
März: Werbekampagne für Modell Wasserburg, Zum Eulenspiegel in Wasserburg/ Bodensee;
Juni – August Strukturkrise der jedermann-Redaktion;
15.5 oder 26.5. Eröffnung des Eulenspiegel in Wasserburg;
Offener Brief zum INKA-Konflikt im jedermensch 

1977
Juni/Juli Doppelheft des jedermann zur Dreigliederung - bis 1990 (Ausnahme 1989);
Unterstützungmaßnahmen für Ramon Brüll für die Gründung von „info3“ 

1978
Juni Aufsatz „20 Jahre Jedermann“;
Ab Oktober Textreihe „Der Meditationsweg des Abendlandes“ und „Mann/Frau“
Die Geschichte mit Herrn von Siemens;Streit Anthroposophie und Atomkraft;
Bruch mit dem Vorstandfreund Manfred Brabant 

1979
Streit um Verlust der Witthüs-Teestuben Sylt, Peter war nicht im Grundbuch eingetragen. 

1981 – 1984
Arbeiten an „Mann/Frau – Erfahrungsberichte“, „Kommentare“ und „Der Meditationsweg des Abendlandes“. 

1982
ab Juli/August Nummer „Anthroposophie & Jedermann“ von Anton Kimpfler , weil dieser in den anthroposophischen Zeitschriften nichts mehr veröffentlichen konnte. 

1983
Januar: Mann/Frau 1 erscheint;
ab Oktober Aufsatzreihe „Soziale Dreigliederung“;
Dezember: Kommentare der Vorrede erscheint 

1984
Textreihe „Anthroposophie“ und „Mensch zu Mensch“ 

1985
April: Der Meditationsweg erscheint 

1986
Gründung der „Freien Schule Elztal“, deren Anreger und gerne Mitmacher Peter war. Endlich eine freie Schule, die nicht dem Staatsgeld unterlag und auch nicht den Bestimmungen des Bundes Freier Waldorfschulen. 

1987;
Textreihe „Der Meditationsweg“  

1988
„Wahrheit und Liebe verbinden“, Interview mit R. Brüll und H. Köhler für Info 3 10/88 

1990
10/90 August Textreihe Soziale Dreigliederung  

1992
Januar-jedermensch: „Rückblick und Ausblick“;
24.12. Tod in den frühen Morgenstunden 

11.3. 1993
Beisetzung in der Ostsee

Dieter Koschek

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Gibt es Frieden?

Da ist sie wieder – die sogenannte Weihnachtszeit. Wir Bundesbürger bemerken sie an den besonders aufwendigen Auslagen in den Schaufenstern. Die Weihnachtszeit scheint nur noch für die gemacht worden zu sein, die viel verkaufen und viel verdienen wollen. Sie finden eine einmalige Bereitschaft bei ihren Kunden. Alle wollen was kaufen und etwas verschenken. Millionen überlegen, nicht nur Geschäftsleute, wem sie eine „Aufmerksamkeit“ gerade zu Weihnachten zuwenden wollen.

Die Fülle der zahllosen Glanz- und Gleißlichter, die Wahnsinnsfülle des äußeren „Weihnachts“-Lichtes macht es unendlich schwer, das ganz kleine Licht im eigenen Inneren zu finden. Weihnachten soll das „Fest des Friedens“ sein! Wo ist dieser Frieden zu finden? Draußen? Da gibt es keinen Tag, an dem nicht größere und kleinere Kriege abrollen, Menschen sich wie eh und je abschlachten, weil sie sich von ihren „Führern“ gegenseitig zu „Feinden“ erklären ließen. Drinnen? Wo sollen die Menschen drinnen Frieden finden, die das ganze Jahr hetzen und jagen – noch fünf Minuten, bevor am Weihnachtsbaum Lichter angezündet werden?

Keiner, der auch nur sehen und hören kann, wird abstreiten, dass unser Lebensstil „Mehr Wachstum“ – auch mehr Geschenkewachstum, mehr Arbeits- und Verdienstwachstum, mehr Hast- und Hetzewachstum – Weihnachten in seiner ursprünglichen Bedeutung als eine Zeit der friedlichen Besinnung vernichtet hat. Unser Leben läuft so ab, dass die Bedingung des Friedens, die ruhige Besonnenheit, aus dem allgemeinen sozialen Leben ausgemerzt ist.

Gibt es noch Frieden? Diese Frage kann einen zur Verzweiflung bringen, gerade in dieser Zeit. Wir müssen sehr tief in das Privatleben der Menschen hineinhören, um ihn millionenfach als Sehnsucht in unseren Mitmenschen zu finden. Wenn wir ganz nüchtern auf das vergangene Jahr zurückblicken, wissen wir, dass in den 365 vergangenen Tagen und Nächten unzählige Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Frieden erlebt haben. Gäbe es doch eine Verständigung zwischen mir und ihm oder ihr! Könnten wir doch ein Gespräch miteinander haben, so, dass wir uns wieder verstehen! Vielleicht ist morgen der Tag, an dem sie/er mir einmal wieder einen liebevollen Blick zuwerfen wird? Vielleicht bemerkt er, dass ich heute den Tisch sehr sorgfältig gedeckt habe, weil ich mich doch wieder vertragen will! Vielleicht bemerkt sie, dass ich ihr unauffällig was mitgebracht habe, weil ich meine blöden Bemerkungen von gestern ehrlich bereue?

Die Millionen Eltern, die nachts nicht schlafen können, sich Herz und Gehirn zermartern, um morgen die richtige Art für ihre Kinder zu finden... Und die Kinder und Jugendlichen - nach außen lässig und innen furchtbar traurig, weil sie so „anders“ sind als ihre Eltern -, die sich immer wieder verzweifelt bemühen, an die Eltern heranzukommen, die sich nach einem Zuhause in Frieden genauso sehnen. Hinter wie vielen Krachs und Streits steht eine glühende Sehnsucht nach Frieden?

Die Sehnsucht nach Frieden kennen alle! Auch diejenigen, die sie aufgegeben haben, haben sie einmal erlebt. Das zu behaupten, ist weder sentimental noch romantisch, es ist ganz einfach die Wahrheit. Die Sehnsucht nach Frieden kommt daher, dass wir den Frieden als Möglichkeit in uns haben.

Rückblickend werden viele denken: Was bringt mir die kleine friedliche Zeit, die wir ja auch erlebt haben, als Partner, als Familie, als Eltern und Kinder, als Schüler und Lehrer? Es gab ja doch nachher wieder Krach und Streit! Keiner wird bestreiten, dass es – meistens – so gewesen ist. Der kleine Friede der glücklichen Tage konnte nicht zu einem produktiven Dauerzustand wachsender Verständigung und immer tieferen Verständnisses werden. Und doch war jeder Tag des Friedens und des Verstehens ein „Beweis“ dafür, dass es Frieden wirklich gibt. Kein mathematischer Beweis, ein lebendiger, der aus dem Leben kommt.

Der Sinn des ursprünglichen Weihnachtsfestes liegt nicht darin, dass es plötzlich automatisch Frieden unter den Menschen gibt. Wenn es so wäre, wären wir Automaten, nicht Menschen, die lieben und hassen können. Die „Friedensbotschaft“ ist die Aufforderung, einen Entwicklungsprozess, einen dramatischen Lernprozess zu vollziehen. Der Weg geht vom Hass über sehr viele Stufen und Rückfälle zum Frieden. Der diesen Weg geht, ist der sich bewusst entwickelnde Mensch. Aber alle Entwicklung zum Frieden und zur Liebe wäre unmöglich, wenn dieser Frieden und diese Liebe nicht in bestimmten Augenblicken unseres Lebens erlebbare Wirklichkeit wäre. Wir können uns nur zu einem Ziel hinentwickeln, wenn wir dieses Ziel, wenn auch vielleicht nur in kurzen Augenblicken unseres Lebens, als Wirklichkeit in uns erleben. Der Keim ist in jedem, die Frucht muss jeder selbst schaffen.

Der Keim zu dieser Liebe und zu diesem Frieden wurde durch den Jesus Christus gelegt. Der Kerninhalt der Lehre „Liebe deinen Nächsten, liebe deine Feinde“ beinhaltet eine gewaltige Zielvorstellung. Sie wird nicht kleiner und unbedeutender durch alles, was Christen und Kirchen im Laufe der Jahrhunderte getan haben und noch tun. Im Gegenteil: Die offiziellen Kirchen und das offizielle Christentum beginnen sich aufzulösen, weil die Gedanken und Taten führender Repräsentanten zum Teil viel liebloser und engstirniger sind als die anderer Menschen, unabhängig vom Bekenntnis.

Christentum ist nicht darauf angewiesen, durch offizielle Kirchen in die Welt zu kommen. Es hat die Möglichkeit, im Denken, Fühlen und Tun vieler, die sich längst von den Kirchen abgewendet haben, intensiver zu leben als in den offiziellen Vertretern. Christentum ist eine Substanz, die im Inneren des Menschen lebt und die mit „Weltanschauung“ wenig bis nichts zu tun hat. Wer russische „Bolschewisten“ erlebt hat, die mit Kriegsgefangenen ihr Brot teilten - auch das gab es -, versteht, was gemeint ist.

Der große Frieden, der Frieden unter den Völkern, ist an die Voraussetzung grundlegender sozialer Erneuerung geknüpft. Friedensschlüsse werden nur Atempausen zwischen mörderischen Kriegen sein, wenn keine grundlegende Reform des kulturellen Lebens erkämpft wird. Es geht um eine grundlegende Veränderung der Einstellung zu anderen Völkern und Kulturen. Ausgangspunkt dieser Veränderung ist die Erziehung und Bildung des Menschen. Jedes Volk und jede Kultur bringen große und unentbehrliche Qualitäten in die Geschichte der Menschheit. Es geht darum, diesen Tatbestand jedem heranwachsenden Menschen so nahe zu bringen, dass er empfindet: Die Verletzung eines Volkes, die Herabwürdigung seiner Qualitäten, die Nichtachtung seiner Kultur, die physische und psychische Unterdrückung seiner Eigenart und seines Wesens ist ein Verbrechen am Gesamten der Menschheit. Wenn das „moralisch“ gepredigt wird, ist es in den Wind gesprochen und verlogen. Wer aber bereits in der Schule durch eindrucksvolle Beispiele erfährt, wo die besonderen Vorzüge des eigenen Volkes und der eigenen Kultur liegen und woran man ihre Schwächen und Nachteile erkennen kann; wer   erfährt, wo die Vorzüge und Schwächen anderer Völker und Kulturen liegen, wird das eigene Land weder überschätzen noch unterschätzen. Er wird nicht nur wissen, sondern auch empfinden, dass jedes Volk auf die Qualitäten anderer Völker und Kulturen angewiesen ist, konkret durch sie lebt, von ihnen befruchtet wird.

Auf diesem Wege kann eine Empfindung in jedem Menschen entstehen, die es wie einen Schnitt in den eigenen Leib erlebt, wenn geistig unterentwickelte Machtmenschen und Staatsführer Ausbeutung und Krieg gegen ein anderes Volk betreiben. Man ist dann nicht nur deshalb Pazifist, weil man es ablehnt, andere zu ermorden, man ist es auch deshalb, weil man schon als Schüler davon erfahren hat, dass die unersetzlichen Qualitäten der Menschen anderer Kulturen geachtet und gepflegt werden müssen, wenn sich die ganze Menschheit allmählich zu voll entfalteten Menschen entwickeln soll.

Der Völkerfrieden hat seinen Ausgangspunkt in Erziehung und Kultur. Sein größtes Hindernis ist die Bindung von Erziehung und Schule an den Staat. Hauptmerkmal des heutigen Staates allüberall ist seine Eigennützigkeit. Der Staat als Dirigent der Schule wird stets eigennützige Nationalisten erziehen. Erst, wenn Erziehung und Schule frei vom Staat sind, wird es Schulen geben können, in denen nicht Staatsgehorsam und bornierter Nationalgeist verabreicht wird. Nur in staatsunabhängigen Schulen, die sich ihre Lehrziele selbst geben können, werden Menschen zu einer selbstverständlichen Achtung und bewussten Schätzung anderer Menschen, Völker und Kulturen gelangen können, so, dass ein Krieg gegen ein anderes Volk wie ein Akt der Selbstverstümmelung empfunden, erkannt und entschieden abgelehnt wird. „Liebe deinen Nächsten“ ist eine moralische Aufforderung im luftleeren Raum. Erst dann, wenn wir diejenigen wirklich kennen, die wir lieben sollen, wenn wir ein Bewusstsein von ihren Qualitäten haben, bekommt die Aufforderung einen tragfähigen Inhalt. Viele von uns sind in Deutschland geboren und schätzen den übernationalen Ansatz der deutschen Kultur hoch ein. Sie wissen aber auch, dass es keine deutsche Kultur gäbe, wenn unser Leben nicht fortwährend von der Kultur anderer Völker, von ihrer Arbeit und ihrem Geist beeinflusst und befruchtet würde. Viele von ihnen würden mit Freude Geschichtslehrer in freien Schulen sein, um anderen Menschen ein wahrheitsgemäßes Geschichtsbewusstsein zu vermitteln. Die Befreiung der Schule vom Einfluss des Staates und seiner machtegoistischen Tendenzen ist die soziale Bedingung des für unser Leben notwendigen Völkerfriedens.

aus einer Weihnachtsbetrachtung von Peter Schilinski im „jedermann“, Dez. 1978

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Pionier und Rebell
Wahrheit und Liebe verbinden. Im Gedenken an Peter Schilinski

Herausgeber: Modell Wasserburg (Dorfstraße 25, D-88142 Wasserburg/Bodensee) 168 Seiten, Euro 7,-

 Dies ist ein Buch über die vielleicht aufsehenerregendste und umstrittenste Gestalt der deutschen Nachkriegs-Anthroposophie. Zwischen zwei Beiträgen steht jeweils ein Aufsatz von ihm, als nähme er spiegelbildlich an den Debatten über seine Persönlichkeit und sein Wirken teil. Für diese Aufsätze ist bezeichnend, dass Peter innerhalb der sozialen Dreigliederungsbewegung, eben-so wie Rudi Dutschke in der Neuen Linken, stets das Persönliche in alle politischen Gespräche einbezog. Peter ging sogar noch einen Schritt weiter als Rudi, weil er auch das Persönliche aufgriff und eine Lebensgemeinschaft gründete. Beides fand zusammen im Interesse am anderen Menschen. Als ich ihm erstmals begegnete, ließ er mich zunächst lange von mir selber berichten.

Betrachtet man dieses Buch als eine Hütte, die auf vier Pfosten ruht, so sind dies die Beiträge von Claudia Schilinski, Anton Kimpfler, Josef Busch und Tatjana Kerl.

Claudia Schilinski zeichnet ihren Vater im Spannungsfeld von brüderlicher Hingabe und cholerischen Anfällen mit ätzender Schärfe. In ihrer Kindheit sah sie ihn eigentlich nur auf Besuch, später war sie ihm zu ungeduldig und leichtgläubig, aber schließlich kam es zu einer besonders innigen und freundschaftlichen Beziehung. Bis dahin war es „ein schwieriger und emotional oft erschütterter Weg“. So lernen wir Peter endlich als Vater kennen. Eine große Enttäuschung war die eisige Ablehnung durch die Anthroposophische Gesellschaft, welche ihn wider Willen zum Außenseiter machte. Peter Schilinski erschütterte anscheinend ihren Elfenbeinturm.

Anton Kimpfler verweist auf seine Fähigkeit, „auf andere weckend zu wirken“: „stets gelang es ihm, dass sich die Seelen öffneten“. Wo immer er weilte, entstand ein lebendiges Kulturzentrum, das zur Hülle und zur Grundlage seines Lebens wurde. Ohne körperliche Behinderung „wären wohl seine feurigen Züge mit ihm durchgegangen“. „Was Peter Schilinski von der Anthroposophie vorbrachte, war ganz in ein gewandeltes Feuerelement getaucht.“ Die Rundgespräche, allwöchentlich an drei Abenden, nennt Anton Kimpfler eine „einzigartige soziale Schöpfung“. Peter betätigte sich dabei als Lebensberater. Der größte Teil seines Lebensprogramms sei gelungen.

Jupp Buschs „Rückerinnerungen eines alten Freundes“, der schon auf Sylt dabei war, könnten als Grundriss einer Biografie dienen. Peters Weg führte vom Marxismus zur Psychoanalyse und von dieser zur sozialen Dreigliederung, innerhalb derer er zum Gesprächstherapeuten wurde. In seinem ersten Informationsblatt „Das mitteleuropäische Deutschland“ verwertete er auch Fichtes „Reden an die deutsche Nation“. In einem letzten Gespräch äußerte er den Wunsch, dass er gern noch einige Jahre leben würde, um mit wachen Sinnen die Entwicklung Deutschlands und der Welt weiterverfolgen zu können. Einst war er mit dem Rucksack durch drei Besatzungszonen getrampt, um andere sozial engagierte Anthroposophen aufzustöbern.

Tatjana Kerl wollte eigentlich nur sechs Wochen im Gasthof „Eulenspiegel“ mitleben und mitarbeiten, doch traf sie auf etwas ganz Neues. Sie hatte die Anthroposophie als etwas Aufgesetztes empfunden, das sie zwang, sich anders zu verhalten, als sie sich fühlte. Dieser Widerspruch löste sich im „Eulenspiegel“ auf. Peter Schilinski verband Rudolf Steiners Ideen mit dem Leben und die politische Arbeit mit der Arbeit an sich selbst. Das war die „soziale Plastik“ von Beuys im Alltag. Im Internationalen Kulturzentrum Achberg schien man jedoch bald gelangweilt und uninteressiert gewesen zu sein an dem, was Peter zu sagen hatte. Es war dort „kein Platz mehr für seine Beiträge und Arbeitsgruppen“. Tatjana empfand diese Ausgrenzung als eine Bankrotterklärung der Dreigliederungs-Prominenz. In der Tat, Peter Schilinski repräsentierte lebendige An-throposophie und lebendige soziale Dreigliederung. Das konnte von jenen, die daraus Doktrinen machten, schwer ertragen werden.

Aus keinem Text ergibt sich, wer denn Peters zeitweilige Lebensgefährtin war. Unklar bleibt auch, weshalb er sogar im Sommer eine Pelzmütze trug. Mir scheint, er strahlte mehr Gefühlswärme aus, als gut für ihn war. Eine Art Überkommunikation zehrte sein unentbehrliches Lebensfluidum auf.

Peters Zimmer sahen immer wie Kajüten aus. Er war dem Element Wasser tiefer verbunden als dem Feuer. Marie-Luise Wilke hat ihn als Seemann gemalt. Es war daher ganz folgerichtig, dass jene, die ihn liebten, seine Urne dem Wasser übergaben, geschmückt mit einem Fischernetz. Nun mag er an einer anderen Küste fischen und segeln.
 Günter Bartsch

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Projekt „Familienkultur und Erziehung“ 

Solange Kinder zur Welt kommen, berühren sie die Menschen ihrer Umgebung durch den besonderen Zauber, den sie mitbringen. Ihre Unschuld, ihre Hilflosigkeit, ihr grenzenloses Vertrauen und ihr himmlisches Lächeln erobern die Herzen der Menschen. Aber was andere so bezaubern kann, ist selbst ständig bedroht. Früher kamen diese Bedrohungen mehr von außen. Kriege, Seuchen oder Hungersnöte löschten Kinderleben aus oder verbreiteten Leiden und Angst. Heute tauchen die Bedrohungen, zumindest in den reichen Ländern, im unmittelbaren Lebensumfeld der Kinder auf und werden oft gar nicht als Bedrohungen erkannt.

Worum geht es? Viele Kinder wachsen heute so auf, dass sie die Eindrücke und Erfahrungen, die für eine gute Entwicklung nötig sind, entbehren müssen. Stattdessen sind sie durch und durch negativen Einflüssen ausgesetzt. Das hat viele Ursachen. Die wichtigste ist wohl die, dass es immer weniger einen Ort gibt, an dem Kindheit sich entfalten kann. Dieser Ort, den Kinder benötigen, muss einmal ganz äußerlich existieren als Haus oder Wohnung. Ein Umfeld, in dem Kinder sich gefahrlos bewegen können, gehört auch dazu. Mit Ort ist aber auch ein sozialer Zusammenhang gemeint, in den Kinder hineingeboren werden, der sie trägt und ihnen Sicherheit schenkt. Schließlich muss es wenigstens ein Herz geben, das sich dem Kind ganz zuneigt.

Die Behausung, könnte man denken, sei kein Problem. Tatsächlich gibt es bei uns kaum obdachlose Kinder. Trotzdem ist ein Problem entstanden, auf das uns die Kinder aufmerksam machen. In den Häusern geschieht fast nichts, was Kinder verstehen und woran sie sich beteiligen können. Die Entwicklung, die in diese Richtung führt, hat schon lange begonnen. Sie hängt mit etwas zusammen, das man die Industrialisierung des Wohnens nennen kann. Wenn es in den Zimmern dunkel wird, schafft das elektrische Licht Abhilfe. Das Drehen oder Antippen eines Schalters genügt. Es wird kalt? Das lässt sich auch auf Knopfdruck beheben. Was wir sonst brauchen, wird draußen gekauft und ins Haus gebracht. Als einzige Tätigkeit bleibt oft das Zubereiten der Mahlzeiten und auch da reicht meistens ein minimaler Aufwand.

Es ist erst einige Jahrzehnte her, dass Haus oder Wohnung Orte waren, an denen ein großer Teil dessen, was zum Leben nötig war, hergestellt wurde. Die Kinder erlebten um sich tätige Menschen und die Tätigkeiten waren von der Art, dass die Kinder sie begreifen und ihren Sinn einsehen konnten. Sie verstanden: Diese Menschen meistern das Leben durch die Arbeit, die sie leisten. Das regt dazu an, solchen Vorbildern nachzueifern.

Der Platz, der durch das Auslagern oder Schrumpfen von Tätigkeiten frei wurde, ist nicht leer geblieben. Zuerst kamen die illustrierten Zeitungen, der Plattenspieler und das Telefon. Im zwanzigsten Jahrhundert folgten Radio, Fernsehen und der Computer. Wenn die Menschen von den Tätigkeiten, die sie außerhalb verrichten, nach Hause kommen, werden sie von diesen Dingen empfangen. Sie erfüllen die Funktion von Zerstreuungskünstlern, die von Belastungen ablenken und Ersatz bieten für manches, das entbehrt wird.

In dem Maße, wie die Welt für Kinder langweilig oder gefährlich wurde, richtete man ihnen Kinderzimmer ein. Das war zunächst das kleinere Übel. Inzwischen sind viele Kinderzimmer hochgradig technisiert. Ein eigener Fernseher und ein eigener Computer sind keine Seltenheit, von Kassettenrecordern und ähnlichen Dingen gar nicht zu reden. Was sich da in den Kinderzimmern abspielt, ist ein wüstes Treiben, das nichts, aber auch gar nichts mit dem Wesen des Kindes zu tun hat. Vergleicht man diese Wirkung mit dem Einfluss, den eine von tätigen Menschen geprägte Umgebung auf Kinder hat, muss von einer Katastrophe gesprochen werden.

Die Industrialisierung des Wohnens geht einher mit der Trennung von Wohnen und beruflicher Tätigkeit. Die Menschen verlassen das Haus, um in Fabriken, Büros oder anderen Einrichtungen zu arbeiten. Wenn sie nach Hause kommen, sind sie oft erschöpft und nehmen dann gern die Angebote jener Diener an, die auf sie gewartet haben und auf Knopfdruck aktiv werden.

Anfangs gingen nur die Männer aus dem Haus. Inzwischen ist auch für Frauen eine berufliche Tätigkeit zur Selbstverständlichkeit geworden. So wird das Haus tagsüber von den Erwachsenen verlassen mit der Folge, dass auch die Kinder dort nicht bleiben können.

Erwachsene können Beziehungen mit Menschen haben, denen sie in den verschiedensten Zusammenhängen begegnen und die sie auch nur von Zeit zu Zeit sehen. Kinder benötigen einen menschlichen Umkreis, der beständig ist. Dieser Umkreis ist heute oft nicht mehr vorhanden. Kinder erfahren Einsamkeit, und weil es Kinder sind, können sie dieses Erlebnis seelisch nicht verarbeiten.

Finden die Kinder ein Herz, das ihnen geneigt ist und auf ihre Zuneigung antwortet? Da gibt es, bei allen Belastungen, kleine und große Wunder. Es gibt aber auch viele Tragödien.

Was ist zu tun? Wie kann das Haus belebt, die sozialen Zusammenhänge gestärkt und das Interesse an den Kindern vertieft werden? Die Gründe, die für die schlechte Situation der Kinder genannt wurden, sind, genau besehen, keineswegs unüberwindbar. In Gesprächen mit den Eltern, vor allem mit den Müttern, wird deutlich, dass viele die Probleme sehen und darunter leiden. Dennoch treffen fast alle im Hinblick auf Ausbildung und Beruf Entscheidungen, die sie aus dem Haus und von den Kindern entfernen. Die Entscheidung wird damit begründet, dass anders keine finanzielle Grundlage, vor allem aber keine soziale Anerkennung zu erreichen sei.

Hier liegt ein Ansatzpunkt. Es müsste gelingen, einen Beruf einzuführen, der die Tätigkeiten zum Inhalt hat, die mit dem Haus, der Familie und der Erziehung der Kinder zusammenhängen. Das wäre, verglichen mit vielen anderen Berufen, ein interessanter und abwechslungsreicher Beruf, dessen Ausübung sehr befriedigend sein könnte. Dieser Beruf würde auch eine vielseitige Ausbildung erfordern. Diese Ausbildung würde dazu beitragen, dass die in Haus und Familie tätigen Menschen die nötige soziale Anerkennung bekommen.

Heinz Buddemeier

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Ausbildung für Eltern

Die Aufgabe, welche Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder übernehmen, ist derart wichtig und für die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend, dass es längst überfällig ist, die Tätigkeit der Kindererziehung und Familiengestaltung als anerkannten Beruf zu etablieren und damit gesellschaftlich aufzuwerten. Um diesem Ziel, welches letztendlich natürlich auch mit politischen und finanziellen Konsequenzen verbunden wäre, einen Schritt näher zu kommen, entstand die Idee, eine zeitgemäße und qualifizierte (möglichst auch akademische) Ausbildung einzurichten, welche gerade auf diesen Beruf zugeschnitten ist. Eine solche Ausbildung sollte werdenden Müttern und Vätern die Möglichkeiten geben, der immer schwieriger werdenden Aufgabe der Kindererziehung gewachsen zu sein und gleichzeitig die eigene Persönlichkeit in einer anspruchsvollen Ausbildung und beruflichen Tätigkeit zu verwirklichen.

Hintergrund

Den äußeren Anstoß zu der Idee bildeten die schrecklichen Ereignisse am 26. April 2002 in Erfurt sowie die hilflosen Reaktionen von Politik und Öffentlichkeit. Erschütterung und Hilfsbereitschaft verband in diesen Tagen die Menschen. Aber sind wir Erwachsenen wirklich aufgewacht an diesem Ereignis, das vielleicht nicht hätte geschehen müssen, wenn schon die „Vorläufer“ von Erfurt die Menschen aufgeschreckt hätten zu Fragen wie: Wo haben wir in der Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen versagt? Haben wir die Zeichen der Zeit verkannt und Entwicklungen übersehen?

Es sind ja nicht nur die Schul-Tragödien und -Probleme und die Gewalttätigkeiten immer jünger werdender Täter, die uns aufhorchen lassen, sondern auch:

-          die Hilflosigkeit junger Eltern,

-          die Überforderung der Lehrer und der alleinerziehenden Mütter und Väter,

-          die sich ausbreitenden seelischen Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen

-          der zunehmende Drogen- und Medikamenten-Konsum,

-          die mangelnde Konzentrations- und Lernfähigkeit,

-          die starke Zunahme von Sprachstörungen (23,6 Millionen Euro pro Jahr will das Land Niedersachsen für Sprachförderung ausgeben),

-          die negative Beeinflussung durch die Medien,

-          der Werteverfall und die Orientierungslosigkeit unserer Spaßgesellschaft.

 

Diese Entwicklungen lassen sich schon seit geraumer Zeit verfolgen, und es gibt selbstverständlich eine Menge Vorschläge, wie diesen Tendenzen zu begegnen sei. Es ist jedoch so, dass viele dieser Vorschläge erst da greifen, wo die eigentlichen Probleme schon aufgetreten sind. Wenn über die Eindämmung von Gewalt an Schulen oder spezielle Sprachförderprogramme für Schulanfänger gesprochen wird, so sind dies wichtige und oft auch sinnvolle Maßnahmen, nur können sie eben nicht verhindern, dass die Keime für die erschreckenden Symptome an unseren Schulen meistens bereits früher oder woanders gelegt werden.

Die traditionelle Familie, wo ein Elternteil für die Erziehung der Kinder zuständig (und damit auch meist ausgelastet) ist, scheint immer mehr eine Ausnahme zu sein. Finanzielle Nöte und der Drang nach Selbstverwirklichung führen dazu, dass in vielen Familien beide Eltern berufstätig sind und damit oft für die Belange der Kinder ausfallen. Hinzu kommt die immer größer werdende Zahl der Alleinerziehenden, bei denen meist zwangsläufig die Kindererziehung den erschwerten Umständen angepasst werden muss. Hier auftretende Angebote wie Krippen, Kinderhorte oder später die Ganztagsschule sind sicher in der gegebenen Situation sinnvoll und verschaffen den überforderten Eltern Entlastung, doch wird man dabei nicht immer den wirklichen Bedürfnissen des Kindes gerecht. Das Elternhaus, die familiäre Umgebung und vor allem die Eltern selber als beständige und verlässliche Begleiter des Kindes während seiner ersten Lebensjahre sind eben in ihrer Bedeutung für eine gesunde Entwicklung des Kindes nicht zu unterschätzen.
Neben diesen Veränderungen der Familienstrukturen tritt jedoch ein weiteres Problem auf. Immer mehr Eltern fühlen sich in ihrer Rolle als Erzieher überfordert und verspüren eine Unsicherheit, dieser Aufgabe in einer durch die Auflösung traditioneller Werte und Instinkte sowie durch Medienüberflutung geprägten Zeit gewachsen zu sein. Hieraus folgt oft Resignation, die teilweise sich bis zur Erziehungsverweigerung steigern kann. Genau an diesem Punkt soll die hier vorgestellte Ausbildung ansetzen. Sie könnte zum einen den Eltern Mut, Kreativität und Kompetenz vermitteln, um für ihren für unser aller Zukunft so entscheidenden Beruf gewappnet zu sein, und zum anderen würde sie ein neues Selbstwertgefühl ermöglichen, welches die Eltern ihre Erziehungsaufgabe als das ansehen lässt, was sie ist: Verantwortungsvolle Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft.
Bei dem Versuch, diese Idee zu umreißen, ergeben sich unter anderem Formulierungen wie: „Studium (Diplom) zum/zur Unternehmer/in in Familie und Kultur“, „berufliche Ausbildung zur Elternschaft und Familienkultur“, „Studium Erziehung, Kultur und Lebensführung“.

Zur Ausgestaltung

Wenn für jede wirtschaftliche, technische, soziale und kulturelle Aufgabe in unserer Zeit eine Qualifikation notwendig ist und angeboten wird, ist es nicht einzusehen, warum es nicht auch eine solche für den Beruf der Eltern geben sollte. Eine solche Ausbildung wäre eine neue Möglichkeit und Perspektive, selbstverständlich unter Wahrung einer völlig freien Berufswahl.
Diese Ausbildung sollte möglich sein in verschiedenen Klassifikationen, zum Beispiel: für Realschüler/innen auf einer Art Fachhochschule, für Abiturienten/innen als Vollstudium mit Diplom-Abschluss an einer Universität.
Es sollte zunächst einmal ein Grundwissen in Theorie und Praxis vermittelt werden, etwa in Fächern wie Pädagogik (bezogen auf die Entwicklungsgesetze des Kindes), Ernährung, Krankenpflege/Medizin, Psychologie/Seelenkunde, Haushaltsführung (Haushalt als Unternehmen), Handwerkliches, Musik, Kunst und so weiter.

Daneben sollte jedoch unbedingt der folgende Aspekt angestrebt werden: Wissens- und Fähigkeitsvermittlung nach individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Dies ist erstens wichtig, da die Erziehung der eigenen Kinder natürlich in hohem Maß eine private und individuelle Angelegenheit ist und auch bleiben soll, und daher keine einheitlichen Erziehungsschablonen vermittelt werden sollten. Zweitens könnte dies aber auch den besonderen Reiz eines solchen Studiums im Verglich zu anderen immer spezieller werdenden Ausbildungen ausmachen. Müttern und Vätern wird so eine Form der Selbstverwirklichung ermöglicht, die der Elternschaft als kulturtragendem Element Bedeutung verleiht. Wir brauchen Individualitäten, die dem Sog der allgemeinen Trends standhalten können!
Natürlich können (und möchten) nicht alle Frauen und Männer, welche eine solche Ausbildung absolviert haben, lebenslang diesen Beruf ausüben. Es wäre jedoch erstens denkbar, dass die so ausgebildeten Mütter und Väter auch Kinder von anderweitig berufstätigen Eltern tagsüber (mit-)betreuen und ihnen dabei mehr Wärme und Zuwendung geben könnten als dies in noch so guten Heimen möglich ist. Und zweitens ist in kaum einem Beruf so viel Flexibilität gefordert wie in dem der Eltern, so dass eine kurze Umschulung oder der Quereinstieg in eine andere Betätigung ein leichtes sein sollte.

Zur Finanzierung

Die mit dem Ende des Industriezeitalters zunehmende Zahl von Arbeitslosen sowie die mittelfristige Perspektive einer Zwanzig-Prozent-Erwerbsarbeitenden-Gesellschaft lassen nicht erkennen, dass alle Mütter und Väter notwendig für die Erarbeitung des Bruttosozialproduktes herangezogen werden müssen. Es werden bereits heute nennenswerte Teile des Bruttosozialproduktes dafür aufgewendet, die Probleme der Familie, der Kindererziehung und ihrer Folgen von außen zu lösen, statt die Familien von innen zu stärken.
Könnte also die Finanzierung unseres Projektes nicht langfristig möglich sein durch teilweise Umverteilung derjenigen Gelder, die zur Zeit in steigendem Maße für Kinderaufbewahrung (Hort-Betreuung), Ganztagsschulen, Sprachunterricht für Vorschulkinder, Förderkurse für Schulverweigerer, Bekämpfung von Kinder und Jugend-Kriminalität, Lehrer-Frührente (bedingt durch Überforderung), Arbeitslosenunterstützung, Umschulung (oft wenig effektiv) und so weiter aufgewendet werden?

Ruth Topp, Bremen

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Individualität und Gemeinschaft 

Der Beitrag von Udo Herrmannstorfer im „Rundbrief Dreigliederung“ Nr. 3/2001 „Delegation und kollegiale Führung, am Beispiel der Selbstverwaltung der Waldorfschule“, in dem er die Frage der Individualität und Gemeinschaft am Beispiel Schule ausführt, hat mich stark beeindruckt und viele Anregungen gegeben. Aber der Umfang des Beitrages lässt einen gesamten Abdruck im „jedermensch“ nicht zu.
Das Folgende sind zumeist Zitate aus dem gesamten Text, die ich ausgesucht, also auch in der Reihenfolge und den Auslassungen zu verantworten habe.
Zwischen den gekennzeichneten Zitaten finden sich immer Auslassungen. Zusammenfassungen und eigene Gedanken sind kursiv gedruckt.
Dieter Koschek
 

„Hinter allen Fragen der Selbstverwaltung steckt ein grundsätzliches Problem von Gemeinschaften in der modernen Zeit. Wenn wir in die Vergangenheit schauen, da sehen wir:: Früher dominierte Gemeinschaft – das ist eine allgemeine Erscheinung. Der Einzelne hat nichts zu sagen, die Gemeinschaften haben das Leben bestimmt. Und dann kommt in der Moderne die Mündigkeit herauf, der einzelne Mensch wird wach für sich selbst, bekommt ein eigenes Urteil, und jeder Mensch, der seine eigene Meinung, sein eigenes Urteil hat, richtet sich nicht mehr am Urteil anderer aus, sondern er ist sich seines eigenen Urteils mehr oder weniger gewiss. Mit diesem Auf-sich-selbst-Stellen stellt man sich im Grunde aus der Gemeinschaft heraus. Das tut der moderne Mensch immer wieder erneut. Der Standort der Individualität ist nicht in der Gemeinschaft, die Individualität steht auf sich selbst. 

Was folgt daraus für das soziale Leben? Einerseits ist es das Ziel der Gemeinschaft gewesen, den Menschen bis zur Mündigkeit zu führen, aber wenn er mündig wird, kann er in der alten Gemeinschaftsform nicht bleiben, denn die hat ja gerade bestimmt, was die Individualität zu tun hat. Es wäre ein Widerspruch, zur Mündigkeit hinzuführen und wenn sie beansprucht wird, zu sagen: Tut uns leid, wir sind eine Gemeinschaft! Das geht nicht. Also muss sich eine Gemeinschaft umformen, kann im Zeitalter der Mündigkeit des Einzelnen nicht so bleiben, wie sie vorher gewesen ist. Und dieser Umformungsaspekt im Großen, der möglich macht, dass Menschen aus ihren eigenen Urteilen handeln und nicht mehr primär unter dem Einfluss der Gemeinschaft steht, diese Umwendung nennen wir „Dreigliederung des sozialen Organismus“. Dieses Konzept ist nichts weiter als die Schlussfolgerung, die Antwort auf die Frage: Was ergibt sich, wenn die Mündigkeit unter den Menschen wach wird? Wie muss sich dann die Gesellschaft verändern?

Das geschieht im Großen. Aber dasselbe geschieht im Kleinen, im Mesosozialen, in der einzelnen Einrichtung in der Gemeinschaft. So ist es auch im Schulwesen. Wir haben die Schulen, die die Gemeinschaft (der Staat) eingerichtet hat, da können wir unsere Kinder hinschicken. Aber nun entwickeln wir eigene Vorstellungen und sagen: „Für mein Kind, ...müsste es etwas anderes sein.“ Damit tun wir nichts weiter als das: Wir stellen uns aus der Gemeinschaft heraus, was uns auch die entsprechenden Vorwürfe einbringt. Wieso, wir haben jetzt teure Schulen eingerichtet, wieso gebt ihr eure Kinder nicht da hin...immer diese Sonderwünsche. Und die Anthroposophie ist eine Ermunterung für Sonderwünsche, das macht sie gesellschaftlich suspekt.“ 

„Man kann nicht darüber debattieren, ob Schulen, die von vielen Menschen gewollt werden, sein dürfen oder nicht. Denn das hieße, dass wir es zulassen, dass andere Menschen, die etwas nicht wollen, anderen die es wollen, verbieten können zu wollen, was sie für richtig halten. Ein Impuls braucht heute keine Rechtfertigung von oben oder von außen mehr, er braucht Zustimmung derer, die ihn für richtig halten. Er muss nur zeigen, dass er sich z.B. auf dem Boden der Grund- und Menschenrechte bewegt.“ 

„Denn das ist der neue Konsensboden der Gesellschaft. Das ist die einzige Grenze, dass nur der die Freiheit in Anspruch nehmen kann, der die Freiheit der anderen achtet. Aber Impulse und Initiativen als solche unterliegen keiner Genehmigung der großen Gemeinschaft mehr. Das ist ja das Credo des freien Geisteslebens. Wenn ich etwas will, dann müssen nicht andere, die ganz andere Auffassungen haben, darüber befinden, ob ich das wollen darf. Es führt dazu, dass immer die Inkompetenten, die an einer Sache gar nicht Interessierten über diese Sache entscheiden.“ 

Die Konferenz als das Bewusstseinsorgan der Gemeinschaft 

„Gemeinschaft hat immer mit Bewusstsein zu tun und Individualität immer mit Tätigkeit. Das ist eine ganz wichtige Sache, sich darüber wirklich klar zu werden. Die Quelle für all das, was wir brauchen, sind die einzelnen Menschen, nicht die Schule“ (das Projekt). Alle Sozialentwicklung läuft auf die Emanzipation des einzelnen von der Herrschaft der Verbände hinaus und eine moderne Gesellschaft ist diejenige, die für sich gar nichts, für den Einzelnen alles will.

Die wichtige Frage ist: „Wie bringen wir die Quelle des Einzelnen zum Sprudeln? Wir können nicht mehr sagen: Was machen wir? Im Gegenteil, das „Wir“ muss soweit zurückgedrängt werden, wie es überhaupt geht. Die Frage lautet: Was mache ich, jeder Einzelne?“ 

„Das neue „Wir“ entsteht durch das, was jeder als „Ich“ zum „Wir“ beiträgt. Wir dürfen aber das „Wir“ nun nicht als ganz inaktiv auffassen. Wir müssen uns vielmehr fragen, wie muss das „Wir“ arbeiten, damit die Quelle des „Ich“ fließen kann?

Daß wir so fragen müssen, entspricht den realen Erfahrungen. In der Gemeinschaft können wir ja immer nur sagen: „Man müsste“, und dann sind wir darauf angewiesen, dass einer sagt: ich mache es. Da erleben wir ganz real: die Quelle ist die Individualität.

Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir die Gemeinschaft nicht so organisieren, dass kein richtiges Verständnis für Individualität entstehen kann, ja dass Individualität sogar als Gefährdung des „Wir“ angeschaut wird. Wir würden dann nur im Kleinen nachahmen, was wir im Grunde beklagen.“ 

Gefahr:

Die Gemeinschaft wird individualitätsfeindlich, wenn man die Dinge dem Selbstlauf überlässt. Die Gemeinschaft darf nicht die Aktivitätsseite, die Vitalitätsseite übernehmen.

Die Individualität will die Bewusstseinsseite übernehmen. Machtstrukturen entstehen dann, „wenn sich einer oder einige anmaßen, das Bewusstsein für alle zu haben, um damit auch sagen zu können, was die Einzelnen zu tun haben.“ 

„Sozial gesprochen geht es um zwei Fragen: Erstens, wie kommen wir in einen inneren, sachgemäßen Rhythmus zwischen Individualität und Gemeinschaft? Wie erreichen wir, dass die Individualität wirken kann – als der Tätigkeitsort, durch den alles geleistet wird?

Zweitens: Wie bekommen wir auf der Gemeinschaftsebene ein Bewusstsein von dem, was geschieht, so dass wir überhaupt sagen können: das ist eine Gemeinschaft?“

 „Wenn letzteres nicht gelingt, dann entstehen Tendenzen zur Zersplitterung: Wir brauchen doch eigentlich keine Gemeinschaft, eigentlich macht das sowieso jeder für sich!“

„Daher müssen wir fragen: Wie bringen wir die Gemeinschaft in eine solche Zusammenarbeit, dass sie praktisch die Individualität in ihren Möglichkeiten trägt? Und umgekehrt: Wie kann die Individualität die Gemeinschaft so erleben, dass in ihr Gesinnungen und Anschauungen des Einzelnen zu einem Ganzen zusammenkommen?“

 Wichtig dabei: die Konferenz, die Versammlung, das gemeinsame Frühstück! Und die Statuten, Satzungen. Hier hat zwar die geschriebene Form eine Bedeutung, aber die gemeinsamen Statuten sind ebenfalls sehr wichtig. So kann also die Einzelfirma im kollektiven Gedanken eingebettet sein, ohne Gefahr. Sie kann aber auch – wie bei uns – die realen Lebensbedingungen widerspiegeln, denn wir sind erst auf dem Weg zu einem Kollektiv. 

„Der Weg der Lösung von Gemeinschaftsaufgaben führt nicht durch die Gemeinschaft, sondern er führt aus der Gemeinschaft heraus zum Einzelnen oder mehreren Einzelnen und von da aus wieder zurück zur Gemeinschaft, auf eine Weise, die wir noch erkunden müssen.“ 

Welche Stufen oder Prozessschritte müssen wir gehen. „Wenn am Ausgangspunkt das Problem steht und am Ende dessen Lösung, dann muss in der Mitte dazwischen der Punkt sein, wo etwas vom Problem zur Lösung übergeht, und das ist der Punkt der Entscheidung: Jetzt soll es anders werden.“ 

1. Problembewusstsein als Gemeinschaftsaufgabe

Wir müssen ein genaues Bild dessen entwickeln, was sich als Problem und damit als Aufgabe stellt!

„Wo kein Bedürfnis nach Lösung, nach Bewältigung da ist, da bleiben alle Maßnahmen irgendwo stecken. Da macht keiner mit, da wird boykotiert, blockiert, und ähnliches. Und zwar nicht, weil wir vielleicht inhaltlich etwas dagegen haben, sondern weil wir im Grunde gar nicht innerlich durchglüht sind von dem Impuls: Es muss etwas anders werden!“

Was ist Sache? Haben wir ein wirkliches Bild dessen, worum es sich handelt? Was kommt im Einzelnen auf uns zu? 

2. Werdekräfte erkennen als Gemeinschaftsaufgabe

 „Was soll werden? Deshalb müssen wir fragen: Was streben wir an? Was will denn werden? Wenn ich zum Gipfel strebe ist kein Hindernis zu groß - nicht fragen: Bringt das Vor- oder Nachteile?

„Wirklich freie Handlungen haben immer zur Voraussetzung das Eintauchen, die intuitive Einsicht in die gestaltenden Kräfte, die Identifikation mit dem was da werden will, dem wir auf die Welt helfen sollen, wollen.“ 

Diese Phase (1 und 2) ist gemeinschaftsorientiert. „Es ist sehr wichtig, dass alle teilnehmen an solchen Gesprächen, dass wirklich jeder am Werdestrom der Gemeinschaft teilnimmt.“

„Die Gemeinschaft entsteht an den Gestaltungskräften des Lebens, nicht am Einzelnen. Das Einzelne macht jeder anders.“ 

3. Lösungssuche durch Delegierte

Wenn die ersten zwei Punkte „richtig“ gemacht wurden ist die 3. Phase nicht mehr so schwierig. Es ist hier wichtig zu sagen, wenn ich nicht glaube, dass der Delegierte der Richtige ist - das muss ich rechtzeitig sagen. Hier müssen wir uns zum Individualitätsprinzip bekennen, die tragende individuelle Leistung des Anderen, das ist der wesentliche und kritische Punkt in der Gemeinschaftsbildung. Ich muss hier dem geeigneten „Delegierten“ die Aufgabe überantworten und anerkennen:

„Ein Original entsteht aus einem Guss. Der beste Brief ist nicht derjenige, wo jeder noch eine Formulierung einbringt, sondern es wird derjenige sein, wo dem Verfasser aus dem Gespräch heraus die wesentlichen Gesichtspunkte zur Verfügung stehen und er aus dem Abwägen, aus dem innerlichen Durchleben dann wie aus einem Guss den Text erstellt.“

„Wenn wir nicht lernen die Handlung eines Anderen so mitzutragen, als ob es unsere eigene wäre, dann werden wir keine Gemeinschaftsbildung erreichen. Die Originalität jeder Anderen anerkennen heißt: „Es ist eben so, wie es geworden ist, weil es die Handschrift dieses Anderen trägt und nicht die von irgendjemand Anderen.“

Ich will hier keine Einstimmigkeit, denn dann beanspruche ich für mich, dass ich die letzte Instanz bin. 

4. Entscheidung

„Der Einzelne oder die Mandatsgruppe ist normalerweise nicht nur für die Lösungssuche zuständig, sondern bei ihr liegt auch die Entscheidungskompetenz.“

Normalerweise deshalb, weil es auch Entscheidungen gibt, wo gesagt wird, das müssen alle entscheiden. Doch hier muss sich die Gemeinschaft zurückhalten, Sie muss den Punkt finden, wo eine Frage aus der Gemeinschaft ausgelagert werden kann und der Einzelne sich damit verantwortlich befassen kann.

Am Anfang dieser Phase steht die Delegation selbst. 

5. Realisierung

„Hier kann es gar nicht anders sein, als dass die Individualität agiert. Das Kollegium als Ganzes kommt zusammen um zu beraten, nicht um etwas umzusetzen.“ 

6. Rechenschaft

Rechenschaft heißt nicht, sich zu rechtfertigen. Rechenschaft heißt: „Wie bin ich mit dem Gestaltungsbedarf, den wir gemeinsam festgestellt haben, umgegangen? Was habe ich daran erfahren? Nicht ob es mir gefallen hat, ist wichtig, sondern wie stimmig es war, wie es zu dem steht, was uns vorher bewegt hat.“

„Rechenschaftsberichte sind für die Entwicklung einer Gemeinschaft von ungeheurer Bedeutung. Es muss ja nicht wegen jeder Kleinigkeit ein Berichtstermin anberaumt werden. Man muss hier den richtigen Stil finden, den richtigen Zeitpunkt, wo man auf einen längeren Zeitraum zurückschaut.“

Durch die Rechenschaft geschieht nicht nur Reflexion, sondern jetzt kann wieder jeder an dem teilnehmen was geschieht.

Es ist eine wichtige Phase, in der wieder alle wahrnehmen können, was da alles innerhalb unseres Projektes und für es von Einzelnen geleistet worden ist.

Man kann Rechenschaftsberichte wie ein „Erntedankfest“ feiern. 

7. Entlastung

Durch die Delegation hat die Gemeinschaft Einzelne belastet. jetzt muss sie sie wieder auf sich nehmen. Loyal sich in die Gemeinschaft stellen, darauf kommt es an, deshalb muss es hier immer eine Entlastung geben. Bei Ausnahmen, wo vorsätzlich Schaden zugefügt worden ist, oder Betrug im Spiel ist, kann eine Entlastung verweigert werden. Solange ich Mitglied einer Gemeinschaft bin, muss ich bereit sein, die Folgen zu tragen. Bitte aber nicht die Augen verschließen vor Schwächen und Fehlern. Dadurch wird die Gemeinschaft wieder zur Gemeinschaft. Entlastung ist ein Zustimmungsakt im Hinblick auf das Stehen zu den Folgen.

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Wie zeigt sich wahre Freundschaft?

Die weitaus meisten Menschen haben nur dann an einem anderen Interesse, wenn sie sich irgendeinen Nutzen aus der Teilnahme für das eigene Leben und Fortkommen versprechen.

Erlischt irgendwie und irgendwann die Relevanz dieses Nutzeffektes für sie, schwindet auch die Intensität des Interesses an seiner Person. Das um so stärker und schneller, je primitiver das Gemüt des Einzelnen ist. Das kann bis zum Vergessen einer gehabten Verbindung oder Begegnung führen, unter Umständen sogar zur Verleugnung, den Betroffenen jemals gekannt zu haben. Hier wird zwar sehr gern voreilig von Freundschaft gesprochen, doch stehen solche Bekundungen im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Dauer und Ernsthaftigkeit.

Wahres menschenwürdiges Interesse am anderen Menschen erweist sich erst dann als echt, wenn aus der Teilnahme an seinem Dasein und am Verlauf des Schicksals seiner Entelechie, der man in diesem Leben (wieder)begegnet ist, ein „bindendes Verhältnis“ entsteht. Geschlechtliche Zuneigung, selbst eine Heirat erfüllen oft nicht diese Voraussetzung.

Erst wenn Beziehungen zwischen zwei oder mehr Menschen jenseits vom momentanen Nutzeffekt entstehen, lässt sich sagen, ob sie auf Begegnungen in vorhergehenden Inkarnationen beruhen oder solche begründen für die Zukunft. Das herauszufinden ist sehr schwierig, da die meisten Freundschaften (und auch Ehen) schon in sehr jungen Jahren entstehen, was zwar notwendig und lebenserhaltend für die Menschheit ist, die Missgriffe aus mangelnder Einsicht und menschlicher Reife aber sehr befördert. Friedrich Schillers „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich auch Herz zu Herzen findet“ hat heute noch mehr Berechtigung als zu Zeiten des Dichters, da innerhalb der menschlichen Gesellschaft damals andere, dauerhaftere Bindungsverhältnisse bestanden.

Deshalb ist es notwendig, sich früh genug eine Lebensanschauung zu erwerben, die es vermag, ein tieferes Urteil gegenüber den Mitmenschen und der Tatsache der Reinkarnation zu gewinnen. Eine Freundschaft, die auf diesem Fundament begründet wird, ist erst so objektiv, dass sie Höhen und Tiefen unbeschadet zu überdauern vermag. Wer ohne dieses Wissen dennoch eine so dauerhafte Verbindung erlebt, wird sich sein ganzes Leben darüber wundern, warum sie besteht, welches Ziel und welche Berechtigung sie hat.

Danach zu fragen, käme dem Aufstoßen eines Fensters in die geistige Welt gleich und könnte zur Beantwortung vieler anderer Sinnfragen im Leben führen. Damit wäre für die betreffenden Menschen ein erster Schritt getan, das materialistisch-ungeistige Denken unserer Zeit zu überwinden. Aus Einzelnen werden schließlich viele, die irgendwann im neuen Jahrtausend zum Zünglein an der Waage zur Umkehr werden. Diese ist die Voraussetzung für eine wahrhaft christliche Lebensführung, in der Freundschaften zu besserer Kommunikation zwischen den Menschen führen und zur Kommunion mit dem Daseinssinn der Menschheit insgesamt.

Lothar Brandes

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