jedermensch
 

Jedermensch

Zeitschrift für soziale Dreigliederung,
neue Lebensformen und Umweltfragen

Herbst 2005 - Nr. 636

Inhalt

Sozialforum 2005 Erfurt von Dieter Koschek


Wir haben Alternativen - eine andere Welt ist möglich!

Erklärung der Versammlung sozialer Bewegungen vom 24. Juli 2004 in Erfurt:

Schwerpunkt Europa

Nach dem NEIN: Wie weiter mit Europa?
Am 5. Mai bildeten Demonstranten aus Frankreich und Deutschland bei strömendem Regen auf der Europabrücke in Kehl ein großes NON. Von Christoph Strawe

Ein Dritter Weg für Europa von Thomas Meyer

Mehr soziale Beweglichkeit
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Die Überwachung noch bezahlen von Jürgen Kaminski

Ergänzung zum Euro von Gesa Dibbern

Gendreck-Feldbefreiung erfolgreich

Aufmunternder Blick "Der Europäische Traum" (Campus Verlag 2004). von Jürgen Kaminski

AUFRUF ZUR WAHL EINES NEUEN KONVENTS
- ZUR ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN UNION Mehr Demokratie e.V.

Aufruf für regionale Foren zur Gestaltung eines anderen Europas von unten

Atomwaffen in Europa Von Jürgen Kaminski

Wie Rußland wieder regierbar werden kann Alexander Solschenizyn in Rußland im Absturz

Über das Sozialprinzip des Geistes von Andreas Pahl

Wiener Ärztekammer warnt vor übermäßigem Handytelefonieren von Kindern

Nachrichten aus dem Eulenspiegel

Nachrichten aus CaseCaroCarrubo, Sizilien

Rudi Dutschke und Peter Schilinski

Engelkunde von Andreas Pahl

Anthroposophie und jedermensch
Ausufern oder eindämmen von Anton Kimpfler
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

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Sozialforum Erfurt 2005

Nach den Weltsozialforen in Porto Allegre und Mumbai und zwei Europäischen Sozialforen fand vom 21. – 24. Juli 2005 in Erfurt das erste deutsche Sozialforum statt. Eine Initiative für ein deutsches Sozialforum hatte eingeladen und eine bunte Vorbereitungsgruppe hatte organisiert. Laut Veranstalter sollen rund 3000 Menschen zum Sozialforum gekommen sein. Mit rund 350 Veranstaltungen ein besonderes intensives Treffen. Parteien waren nicht zugelassen, jedoch war die Gründung der Linkspartei überall zu spüren, jedoch auch sehr kritisch gesehen.

Ein Blick in den Veranstaltungskalender ergab folgendes Bild (so hat es sich mir erschlossen, es gab natürlich noch mehr): attac, Gewerkschafter, Frauenraum, Europa von unten, Soziale Dreigliederung, Widerstand gegen die Globalisierung, Liberalisierung, Privatisierung in allen Bereichen, Internationalismus, Kulturarbeit,...

Ich selbst habe an Veranstaltungen vom Netzwerk Grundeinkommen, der Regionalen/lokalen Sozialforen, vom Runden Tisch der Erwerbslosenorganisationen und beim Netzwerk politischer Kommunen teilgenommen.

Die Einrichtung von lokalen oder regionalen Sozialforen erscheint mir dabei die wichtigste Innovation zu sein. 15 Gruppen waren anwesend und diskutierten das Selbstverständnis: sind Sozialforen ein offener Raum, in dem sich die verschiedensten Weltanschauungen oder Initiativen treffen, austauschen und vernetzen – oder sind sie Akteure der Zivilgesellschaft?

Einzelne Aktionen wurden von den Anwesenden nicht ausgeschlossen, aber das Schwergewicht wurde auf die Bereitstellung des Raumes gelegt. Denn von der Idee her ist der Raum horizontal, gleichberechtigt strukturiert.

Die Frage nach der politischen Wirksamkeit wird oft gestellt und mündet bei vielen bei Wahlaufrufen und Appellen an die Berliner Politikern. Ich halte aber ein Sozialforum für eine neue Form der Zivilgesellschaft. Die Wirkung liegt im Ansatz der Überwindung der „Zerklüftung des Sozialen" und zeugt vom Strukturwandel des Politischen: Ein Sozialforum erzeugt Raum für Austausch, Verständigung und Vernetzung der vielfältigen Initiativen der Zivilgesellschaft. Ein praktisches Reflektieren zeigt wo die Bewegungen ansetzen können, wie Konzepte von Solidarität und Gerechtigkeit praktisch neu gefüllt werden können und wie die Zivilgesellschaft gestaltet werden kann.

Der Aufruf, der am Ende des Sozialforum von der „Versammlung der sozialen Bewegungen" verabschiedet worden ist, zeugt davon. Doch das Zustandekommen zeugt auch davon, wie schwer ein solcher Prozess ist. Da bereits zu Beginn ein Entwurf herumgereicht wurde, war das Gefühl missbraucht zu werden gleich vorhanden. Aber es gab einen Zettelkasten, in dem neue Vorschläge eingeworfen werden konnten, eine Redaktionsgruppe, die den Entwurf weiterentwickelte und eine breite Diskussion auf der Versammlung der sozialen Bewegungen, die allerdings bei vielleicht 500 Anwesenden und langen Schlange vor dem Rednermikrofon keine besonders attraktive Veranstaltung für mich war. Doch es kam eine Erklärung zustande und die ersten Aktionsverabredungen gingen bereits über die politische Bühne. Davon zeugt die versuchte Feldbefreiung der Aktion Gendreck weg (siehe diesen jedermensch) und der Aktionstag am 5. September, an dem über 40 Orte sich beteiligten. Die Erklärung der sozialen Bewegungen dokumentieren wir im folgenden.

Doch letztlich kann keine Vernetzung das Handeln der Einzelnen ersetzen. Unser Wissen ist vielfältig, doch an der Umsetzung eines neuen Lebensstils bleibt noch zu arbeiten. Eine Anregung dazu in der gemeinsamen Beilage zum Sozialforum der linken Tageszeitungen: http://www.taz.de/pt/2005/07/09/a0220.nf/textdruck .
Dieter Koschek
(Beiträge aus dem Internet ohne Postadresse können auch per Post bei der Redaktion angefordert werden.)

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Wir haben Alternativen - eine andere Welt ist möglich!
Erklärung der Versammlung sozialer Bewegungen vom 24. Juli 2004 in Erfurt
Der Ausgang des Referendums zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden ebenso wie die Regierungskrise in Deutschland beweisen: Immer weniger vertrauen die Bürgerinnen und Bürger auf Empfehlungen und Aussagen der herrschenden Politikerinnen und Politiker. Die neoliberale Politik der vergangenen Jahre steckt in einer tiefen Legitimationskrise. Es hat sich als falsch erwiesen, dass durch Sozialabbau die Erwerbslosigkeit gesenkt wird. Das Gegenteil ist eingetreten und wird durch das Festhalten an der Lissabon-Stra-tegie weiter verschärft: die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in arm und reich, jung und alt, Menschen mit und ohne genehmen Pass, in "Leistungserbringer" und "Alimentenbezieher". Die Gewerkschaften und die abhängig Beschäftigten sehen sich einem Generalangriff auf Tarifautonomie, Mitbestimmungsrechte und Kündigungsschutz ausgesetzt. Demokratieabbau und steigende Repressionen gehen einher mit Militarisierung. Die Maßnahmen zum Schutz der natürlichen Umwelt sind völlig unzureichend. Die Kluft zwischen GlobalisierungsgewinnerInnen und -verliererInnen wird tiefer. All das erfüllt zahlreiche Menschen mit wachsender Sorge um eine lebenswerte Zukunft – global, in Europa und auch hier in Deutschland.

Als Teil der internationalen und globalisierungskritischen Bewegung trafen wir uns in Erfurt - nicht nur um die politischen und sozialen Verhältnisse grundlegend zu kritisieren, sondern auch um unsere Alternativen zu entwickeln für eine solidarische, demokratische, ökologische, nicht-patriarchale und sozial gerechte Gesellschaft.

Soziales und Arbeit neu denken. Wir fordern eine komplette Neuausrichtung der Sozial- und Arbeitspolitik. Wir brauchen ein existenzsicherndes Mindesteinkommen/Grundeinkommen für jede und jeden jetzt als Alternative zu Hartz IV, einen gesetzlichen Mindestlohn, eine menschenwürdige Rente ohne Diskriminierung, massive Arbeitzeitverkürzung.

Wir treten ein für eine solidarische Gesellschaft, ohne Ausgrenzung und Massenerwerbslosigkeit, ohne Armut und soziale Spaltung, in der jeder und jede sich umfassend bilden und entwickeln und in unterschiedlichen Formen tätig werden kann, chronisch Kranke und behinderte Menschen gleichgestellt sind, jeder Mensch das Recht auf Zugang zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen hat. Die Privatisierungen in diesen Bereichen müssen gestoppt werden. Wir wollen eine Gesellschaft, in der jede und jeder am gesellschaftlichen Reichtum angemessen und sicher teil hat. Geld ist genug da! Solidarische Einfachsteuer jetzt!

Eine nach innen und außen friedliche Gesellschaft, die auf militärische Gewalt verzichtet und auch ökonomisch auf der Basis von Gleichberechtigung und Solidarität mit anderen Ländern und Weltregionen zusammenarbeitet. Wir lehnen den "Krieg gegen den Terror" ab – er wird zum Vorwand genommen, um demokratische Rechte einzuschränken und Musliminnen und Muslime zu stigmatisieren. Wir fordern die Rücknahme der Anti-Terrorgesetze und des Zuwanderungsgesetzes sowie den sofortigen Stopp aller Deportationen von Flüchtlingen! Wir brauchen keine weltweit einsatzfähige Interventionsarmee sondern Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung. Stoppt die miliardenschweren Aufrüstungsprogramme! Die außerhalb Deutschlands stationierten Bundeswehrtruppen müssen abgezogen werden. Die faktische Unterstützung der Besatzungsherrschaft und der US-Kriegsführung im Irak muss beendet werden. Für einen gerechten Frieden in Palästina! Wir bleiben bei unserem konsequenten Nein zur EU-Verfassung!

Eine ökologische zukunftsfähige Gesellschaft, die den Ausstoß von Klimagasen und umweltbelastenden Stoffen sowie den Verbrauch nicht erneuerbaren Ressourcen auf ein international verträgliches Maß senkt. Das bedeutet bei uns eine ökologisch konsequente Landwirtschaft-, eine Siedlungs-, Energie- und Verkehrspolitik auf der Basis regenerativer Energien und den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie.

Eine geschlechtergerechte Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt leben und in der Männer nicht über die Köpfe der Frauen entscheiden. Dies ist zur Zeit in Politik, Gesetzgebung sowie in der Arbeitswelt immer noch die diskriminierende Realität.

Eine demokratische Gesellschaft mit weit über Wahlkämpfe und Wahltage hinausgehender demokratischer Teilhabe und aktiver Partizipation sowie Entscheidungskompetenz für alle Einwohnerinnen und Einwohner auf allen Ebenen: von der unmittelbaren Interessenvertretung über ökonomische Entscheidungsprozesse, betriebliche Mitbestimmung bis hin zu allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Fragen - von der kommunalen Ebene bis zur europäischen und globalen. Wege dahin sind die Ausweitung von BürgerInnenbegehren und BürgerInnenentscheiden auf allen Ebenen sowie Beteiligungshaushalte.

Eine andere Welt ist möglich, wenn wir gemeinsam die totale Vermarktung der Menschen und ihrer Umwelt stoppen und globales Zusammenleben neu gestalten. Dazu brauchen wir Austausch und Begegnung wie bei diesem Sozialforum in Erfurt:

Verstärkte Vernetzung der sozialen Bewegungen vor Ort, nicht zuletzt in Form der lokalen Sozialforen, um die Menschen zu befähigen, Akteure direkter Demokratie zu werden. Dazu gehört auch die Verknüpfung zu überregionalem Austausch und gemeinsamer Aktion.

Globalisierung von unten: Kommunikation und Kooperation unabhängig von Kultur, Religion, Geschlecht und Hautfarbe. Der gemeinsame Kampf weltweit für globale soziale Rechte für alle ist unsere Aufgabe. Wir fordern Schuldenstreichung und das Ende der neoliberalen Strukturanpassungsprogramme.

Ob es gelingt, weiteren neoliberalen Umbau zu verhindern, hängt entscheidend von den Protesten der sozialen Bewegungen vor und nach den Bundestagswahlen statt. Wer auch immer regieren wird und weiteren Sozialabbau betreibt, er muss mit unserem massiven Widerstand rechnen.

Als gemeinsame Aktionen der nächsten Monate schlagen wir vor:
* Einen dezentralen bundesweiten Aktionstag am 5. September: Soziale Bewegungen melden sich zum Wahlkampf zu Wort!
* Eine Aktions- und Strategiekonferenz der sozialen Bewegungen am 19./20. November 2005.
* Die Mobilisierung zum europäischen Aktionstag für ein soziales Europa am 15.12.2005 in Brüssel sowie die Fortsetzung der Kampagne gegen die EU-Ver-fassung und die Proteste gegen die EU-Richtlinien zu Dienstleistung, Arbeitszeit und Militarisierung.
* Bundesweite globalisierungskritische Aktionstage im Zusammenhang mit der Fußball Weltmeisterschaft im Sommer 2006: Gegen Überwachungswahn, gegen die ausbeuterische Produktionsweise von Nike und Co sowie gegen Rassismus.
* Eine Kampagne gegen die Politik der G8 anlässlich ihres Gipfels im Juli 2007 in Heiligendamm.

Wir laden im Herbst 2007 zu einem zweiten Sozialforum in Deutschland ein.

Außerdem unterstützen wir folgende Veranstaltungen und Aktionen:
* Die Aktionen gegen Gentechnik in der Landwirtschaft "Tanz in den Mais" am 30./31. Juli 2005.
* Die Aktionen der Friedensbewegung am Hiroshimatag und Antikriegstag
* Das Aktionswochenende gegen Lager und für Bewegungsfreiheit am 24./25. September.
* Die Aktionen der Friedensbewegung gegen die Verlängerung des Afghanistanmandats der Bundeswehr im Oktober 2005.
* Den Kongress "Grundeinkommen. In Freiheit tätig sein" in Wien am 7.-9. Oktober 2005.
* Die landesweiten Aktionen in Baden-Württemberg gegen Wohnungsnot und Armut am 12. Oktober 2005
* Die Demonstration gegen Atomkraft und für erneuerbare Energien am 5.11. in Lüneburg sowie die nachfolgenden Aktionen gegen die Castor-Transporte.
* Den Bürgerkonvent "Für ein anderes Europa" in Rom am 12./13. November 2005.
* Den weltweiten Aktionstag am 10. Dezember gegen die WTO-Ministerkonferenz in Hongkong: "Stoppt die WTO Konzern Agenda"!
* Das internationale Symposium über Isolation von Gefangenen vom 17.-20. Dezember in Paris.
* Die Proteste gegen die Einführung von Studiengebühren und Abschaffung der Lehrmittelfreiheit im Herbst 2005 und Frühjahr 2006.
* Gegenaktionen zur NATO-Sicherheitskonferenz vom 3.-5. Februar 2006 in München.
* Einen bundesweiten Aktionstag der lokalen Sozialforen für ein lebenswertes Europa im Zusammenhang mit einer europäischen Initiative am 4. März 2006.
* Die Beteiligung am nächsten Europäischen Sozialforum in Athen im April 2006.
* Die Ostermärsche der Friedensbewegung im Frühjahr 2006
* Europäische Märsche für ein soziales, demokratisches und friedliches Europa zum EU-Gipfel nach Wien im Juni 2006.

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Schwerpunkt Europa

Nach dem NEIN: Wie weiter mit Europa?

Am 5. Mai bildeten Demonstranten aus Frankreich und Deutschland bei strömendem Regen auf der Europabrücke in Kehl ein großes NON. Es war zugleich ein Ja zu einem anderen Europa: Zwei große leere Bücher wurden vorgestellt, in die alle ihre Vorstellungen, Wünsche und Ideen für ein anderes Europa und für eine andere Verfassung eintragen konnten und die nun in beiden Ländern von Aktion zu Aktion wandern sollen, Symbol für die Idee eines Verfassungsprozesses von unten.

Damals sahen die Umfragen in Frankreich die Befürworter des Verfassungsvertrages gerade wieder vorn. Von ausgewogener und fairer Berichterstattung in den Medien konnte keine Rede sein. Man muss bedenken, dass mit wenigen rühmlichen Ausnahmen fast die gesamte Medienlandschaft einschließlich eines als kritisch geltenden Blatts wie Le Monde massiv für ein Ja warb. 16.000 Menschen unterschrieben einen Aufruf gegen den Skandal: „Das zensierte NON in den Medien - es reicht!" Die Ja-Propaganda der veröffentlichten Meinung erhielt Schützenhilfe durch deutsche Intellektuelle: Klaus Harprecht; Günter Grass, Wolf Biermann, Jürgen Habermas, Alexander Kluge, Michael Naumann und Gesine Schwan versuchten vergeblich, die Franzosen moralisch unter Druck zu setzen (Originalton: „Stemmt euch dagegen, dass Frankreich den Fortschritt verrät! Die Konsequenzen der Ablehnung wären eine Katastrophe [...] Wir sind es den Millionen Opfern unserer Kriege und Diktaturen schuldig.") - Umso bedeutender ist der Sieg des NON. Er war nur möglich durch eine Gegenöffentlichkeit, die sich auf die Vernetzungen der Zivilgesellschaft gründete!

Dann folgte das NEE der Niederlande. Und auch in anderen EU-Ländern sank die Zahl der Befürworter rapide. In Deutschland sprachen sich bei einer Umfrage des Instituts polis für das Magazin „Focus" nur noch 44 Prozent für das Vertragswerk aus, eine TEDUmfrage der Bildzeitung bei 400.000 Menschen erbrachte sogar eine Ablehnung von über 90 Prozent. Hätten die Deutschen abstimmen dürfen, hätte es dadurch eine ähnlich breite Debatte gegeben wie bei den Nachbarn: das Ergebnis wäre möglicherweise letztlich auch nicht anders ausgefallen als dort. Mit dem Verzicht auf ein Referendum hat das deutsche Parlament, wie der Sprecher von Mehr Demokratie e.V. Gerald Häfner sagte, die „Bürger unseres Landes für unmündig erklärt".

Das doppelte Nein in Frankreich und den Niederlanden hat nun die offizielle EU-Politik in eine Krise gestürzt. Alles hätte man sich vorstellen können, aber eines nicht: einen Verfassungsvertrag ohne Frankreich. Man hoffte zunächst darauf, dass der europäische Ratsgipfel im Juni ein Lösung bringen könne.

Verwirrung und Lösungssuche

EU-Kommissionspräsident Barroso erklärte noch in der Nacht des 29. Mai, der Ratifizierungsprozess müsse nach Plan weitergehen - und am Ende werde man sehen. Neuverhandlungen über den Text schloss er aus. Barroso und andere, wie Europaparlamentspräsident Josep Borrell glaubten, sich dabei auf die Erklärung zur Ratifikation des Vertrags in der Schlussakte berufen zu können, nach der „der Europäische Rat befasst wird, wenn nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags über eine Verfassung für Europa vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag ratifiziert haben und in einem Mitgliedstaat oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten sind." Der dänische EU-Parlamentarier Jens-Peter Bonde, der auch dem Konvent für die Zukunft Europas angehörte, hält dies für eine rechtlich unhaltbare Position, da Deklarationen - im Gegensatz zu Protokollen - nur Intentionen zum Ausdruck brächten und nicht bindend seien, auch müsste sich das Verfahren auf die bestehenden Verträge stützen und nicht auf einen Text, der ja eben noch gar nicht in Kraft sei.

Die Verwirrung war beträchtlich. Ein Treffen folgte nach dem anderen: Schröder und Chirac, Schröder und Juncker. Der Bundeskanzler setzte sich für ein Treffen der 6 Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft ein, Hollands Ministerpräsident Jan Balkenende war dagegen.

Diskutiert wurden auch Szenarien, die darauf abzielen, die Kernelemente der Verfassung durch Vorabimplementierung mit Verordnungen, Beschlüssen etc. durch die Hintertür einzuführen. Die portugiesische Regierung schloss nicht aus, dass doch der gesamte Ratifizierungsprozess auf Eis gelegt werde. Schweden erklärte, es wolle den Prozess sofort abbrechen, falls Frankreich oder die Niederlande neue Verhandlungen über den Inhalt der Verfassung verlangen sollten. Denn es sei sinnlos, zu etwas Position zu beziehen, das andere längst abgehakt haben. In Irland dagegen setzte man die Planungen für das eigene Referendum zunächst fort. Tschechien schlug eine Verlängerung der Ratifizierungsfrist vor. England verschob schließlich das geplante Referendum auf unbestimmte Zeit.

Der europäische Ratsgipfel am 16. bis 18. Juni scheiterte, weil keine Einigkeit über die Finanzen der Union erzielt werden konnte - Tony Blair beharrte auf dem sogenannten Britenrabatt. Der Gipfel entschied sich dafür, den Verfassungsprozess auszusetzen, die Referenden in Dänemark, Schweden, Finnland und Tschechien finden vorläufig nicht statt.

Das heißt aber nicht, dass man das Projekt „Verfassungvertrag" aufgegeben hätte. Man hofft, die Bevölkerung schließlich doch noch vom Nutzen des Vorhabens überzeugen zu können; am Grundkurs soll sich nichts ändern. Wirkliche Lehren aus dem Debakel werden amtlicherseits also nicht gezogen. In Deutschland könnte allerdings auch noch das Verfassungsgericht Schwierigkeiten machen. Mindestens die Position der Bundesregierung, die Karlsruher Richter gingen europäische Verträge nichts an, dürfte sich bei der Verfassungsklage des CSU-Politikers Peter Gauweiler als unhaltbar erweisen. Gauweiler wird übrigens von demselben Verfassungsjuristen vertreten, Prof. Karl-Albrecht Schachtschneider, der seinerzeit im Prozess um den Maastricht-Vertrag Festlegungen des BVG erwirkte, auf die man sich jetzt berufen kann. Offenbar, um eine einstweilige Verfügung zu vermeiden, will Bundespräsident Köhler mit der Unterschrift warten, bis über die Klage entschieden ist.

Der einzig vorwärts weisende Plan B: Europa von unten

Offenkundig ist: Es kann kein Europa ohne Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger geben. Deshalb wird die durch das doppelte Nein gewonnene Zeit nur dann wirklich genutzt werden können, wenn die Initiative für den weiteren Prozess nicht mehr denen überlassen bleibt, die für die Bürgerferne ihrer Politik gerade die Quittung erhalten haben. - Deshalb muss jetzt endlich eine öffentliche Debatte ohne Zeitdruck über die Zukunft der EU ermöglicht werden. - Deshalb darf der Ratifizierungsprozess über den vorliegenden untauglichen Text nicht weitergehen. - Ein neuer Verfassungsprozess muss nicht nur zu neuen Inhalten führen, sondern auch eine Form annehmen, die die Gestaltung von unten ermöglicht und in dem Initiativen aus der Zivilgesellschaft eine Chance haben. Unverbindlich angehört zu werden, das kann es nicht sein. Vielmehr müssen solche Initiativen angemessen in der Öffentlichkeit zur Darstellung gebracht werden können und - wenn sie das entsprechende Echo finden - auch zur Abstimmung gestellt werden, wenn diesmal in allen Ländern der Union die Bürgerinnen und Bürger selbst über ihre Verfassung befinden. Es ist zu hoffen, dass es gelingt, über eine solche Richtung innerhalb der Zivilgesellschaft einen Konsens zu finden und eine breite Bewegung dafür zu entfachen.

Kernpunkte zivilgesellschaftlicher Kritik am EU-Verfassungsvertrag

- Die ohnehin schon mächtige EU wird durch die Verfassung noch mächtiger, die nationalen 
  Parlamente werden zu Umsetzungsinstanzen für EU-Direktiven herabgestuft.

- Dem EU-Parlament werden nach wie vor grundlegende Rechte vorenthalten.

- Die Ausübung der Grundrechte wird relativiert durch die Bestimmung, sie erfolge „im Rahmen"
  der in anderen Teilen der Verfassung festgelegten Bedingungen und Grenzen (Art. 11-112).

- Die Mitgliedstaaten werden zu kontinuierlicher Aufrüstung verpflichtet und die
  Selbstermächtigung zu weltweiten Kampfeinsätzen ohne UNO-Mandat wird ermöglicht.

- Zahlreiche Formulierungen im Text verleihen einer neoliberal orientierten Wirtschaftsordnung
  Verfassungsrang. Die Sozialbindung der Wirtschaft und des Eigentums wird vernachlässigt.

- Die EU wird mit dieser Verfassung noch stärker auf die Politik der Welthandelsorganisation WTO
  eingeschworen; damit werden Sozialabbau und Kommerzialisierung öffentlicher Güter
  beschleunigt.

Christoph Strawe

Aktualisierte Fassung eines Artikels, den der Autor in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift „Sozialimpulse – Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus" veröffentlich hat.
Bezug: Initiative Netzwerk Dreigliederung, Haußmannstr. 44a,   70188 Stuttgart, Tel.: 0711–2368950, Fax 2360218,  E-Mail netzwerk@sozialimpulse.de, www.sozialimpulse.de

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Ein Dritter Weg für Europa

Die Architektur der Europäischen Union... leidet noch immer an der Asymmetrie der Römischen Verträge, mit denen einst die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ins Leben gerufen wurde. Maßnahmen der positiven Integration, also die politische Einbettung der Märkte und die einheitliche Handlungsfähigkeit der Union in all den anderen Fragen, voran der Außen- und Sicherheitspolitik, sind bloßes "soft law", über das in den mühsamen, von Vetos bedrohten Prozessen der intergouvernementalen Instiutionen, den Räten, immer erst von Fall zu Fall Einigung erzielt werden muß. Nur die Durchsetzung des Marktes ist in Europa also gewiß, das meiste vom übrigen hingegen ungewiß.

Nun wäre eine Neuregelung der europäischen Zuständigkeiten, bei der auch die restlichen politischen Aufgaben einem wirklich supranationalen Entscheidungsverfahren zugewiesen würden, weder sinnvoll noch zustimmungsfähig. Sie würde das Grundrecht der Mitgliedsländer auf Subsidiarität und Differenz verletzen. Aus diesem Grund hat der Europäische Rat in Lissabon 2000 in einer Art institutionellem Geniestreich die "Offene Methode der Koordination" beschlossen. Sie versteht sich als ein Dritter Weg zwischen der Supranationalität der Kommission und der Intergouvernementalität der Räte mit dem Ziel, den nationalen Anspruch auf Verschiedenheit und den europäischen Anspruch auf immer tiefere Zusammenarbeit in einer für alle Beteiligten akzeptablen Weise miteinander zu versöhnen.

Vor allem auf dem Kerngebiet der Sozialpolitik, aber auch in anderen Bereichen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik kann die Kommission Initiativen ergreifen, die im Ergebnis dazu führen, daß die Länder ihre unterschiedliche Regelungspraxis in den jeweils dafür ausgewählten Politikbereichen in einem förmlichen Verfahren vergleichen, in einem Dialog dann auf dieser Basis Vereinbarungen über die EU-weite Verbreitung der am besten bewährten Problemlösungen treffen und diese mit jeweils nationaler Akzentsetzung umsetzen. Die Methode enthält vier politische Instrumente: erstens, die Formulierung von Richtlinien durch den Rat; zweitens, einen wechselseitigen Lernprozeß mit benchmarking, peer evaluation und die Verbreitung der besten Praxismodelle durch gemeinsam akzeptierte Indikatoren, die nationalstaatlich konkretisiert werden; drittens, nationalstaatliche Umsetzungsstrategien; und viertens eine vom Rat verantwortete Evaluierung der Realisierung der nationalstaatlichen Projekte. Die Kommission begleitet den gesamten Prozess durch die Anregung, Erstellung und Überprüfung der Berichte, die als Grundlage dienen.

Es ist keineswegs unrealistisch, wenn die Schöpfer dieses Dritten Weges von ihm erhoffen, daß er jenseits von nationalstaatlicher Eigenbrötelei und bürokratischem EU-Zentralismus eine neue Perspektive der Koordination jener Politiken möglich macht - von der Beschäftigungs- über die Technologie- bis zur Sozialpolitik-, die über die positive Integration Europas entscheiden. Damit trägt die Methode von Lissabon Entscheidendes zur europäischen Einheit bei. Ihr Beitrag zur Ausbildung der politischen Identität der Europäer wird davon abhängen, ob es gelingt, den ganzen Prozeß, den sie jeweils auslöst, in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken und die Bürger an ihm zu beteiligen, damit die Einheitsbildung nicht nur an sich, sondern auch im Bewußtsein der Bürger Europas vollzogen werden kann.

Aus "Die Identität Europas. Der EU eine Seele?" von Thomas Meyer (Frankfurt am Main, 2004)

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Die Überwachung noch bezahlen

Es ist nun ein Beschluß der Europäischen Union, Reisepässe mit zusätzlichen Merkmalen zu versehen. Ein elektronisch lesbarer Chip, der die Daten eines digitalisierten Fotos und etwas später auch den Fingerabdruck des betreffenden europäischen Bürgers enthält, soll mit hinein.

Vorausgegangen war ein monatelanges Ringen, bei dem allerdings die aufzubringenden Kosten im Vordergrund standen. Für Deutschland heißt das allein für die Einführung des maschinenlesbaren Systems, daß etwa 614 Millionen Euro zu bezahlen sind. Danach entstehen jährliche Folgekosten von etwa 322 Millionen Euro.

Warum sollte ein völlig überschuldeter Staatshaushalt diese Summen aufbringen? Ein Grund war sicherlich die Forderung aus den Vereinigten Staaten von Amerika, jene elektronisierten Merkmale zur Bedingung jeglicher Einreise in ihr Land zu erheben. Als eine Folgewirkung der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 soll das nun die Vereinigten Staaten sicherer machen. Die übrige Welt hat sich dem zu fügen.

Das liegt etwa auf einer Linie mit den amerikanischen Sicherheitsbestimmungen, die jetzt ebenfalls für europäische Überseehäfen gelten. Es gibt ziemlich umständIiche Kontrollen, die von Amerikanern überwacht werden. Das sollte man sich umgekehrt einmal vorstellen.

Gemessen an den wirklichen Bedrohungen in unserer Zeit wie beispielsweise der Raubbau der Erdengüter, die Vergiftungen von Atmosphäre, Wasser und Boden, auch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in unserer Welt muten diese Ängste eher wie eine hausgemachte Paranoia an. Über lange Jahrzehnte meinte man, sich das nahöstliche Öl aneignen zu können, ohne sich weiter um die sozialen und kulturellen Ansprüche der Menschen dort kümmern zu müssen. Im Gegenteil wurde von Amerika aus noch eine Förderung des Islamismus betrieben, um die damaligen kommunistischen Gegner zu schwächen und wohl auch, um eigenständige nationale Wege zu behindern. Mit verbündeten autoritären Systemen kam man bestens zurecht.

Jedenfalls ist die Wut gegen jene, die nur ihren wirtschaftlichen Vorteil im Blick haben, nicht allein durch technische Abwehrmaßnahmen zu bewältigen. Das sollte dem großen westlichen Land eher klargemacht werden anstatt sich da einfach zu fügen.

Wenn jedoch auch in Europa "steigender Sicherheitsbedarf" geltend gemacht wird, muß hier ebenfalls vieles im bisherigen Verhalten zur südlichen Welt hinterfragt werden. An vielen Mißstimmungen ist man nicht unschuldig. Das wäre nun offen zuzugeben.

Zuerst sind jedoch mit den neuen Paßbestimmungen die eigenen Bürger betroffen. Nach bisherigem Rechtsverständnis sind wir nun alle als potentielle Straftäter anzusehen. Bisher war es einmal so, dass man eines Verbrechens überführt oder verdächtigt sein mußte, um von der Polizei seine Fingerabdrücke abgenommen zu bekommen. Dadurch sollten die Spuren bei weiteren Verbrechen eindeutig bestimmt sein.

Nun sollen unsere Reisespuren nachdrücklich zu belegen sein, aufgezeichnet in behördlichen Computersystemen. Das gilt nun für den Normalbürger, der von diesen elektronischen Sicherheitsnetzen zunehmend eingeengt wird. Diejenigen hingegen, auf die das Unterfangen scheinbar abzielt, eben weltweit operierende Straftäter und Terroristen, sind längst in der Lage, auch diese Hürde zu umgehen. Es lassen sich falsche Fin-gerabdrücke auf hauchdünnen Plastikfolien herstellen und sicherlich die elektronischen Bauteile entsprechend manipulieren.

Es bleibt letztlich, daß wir für eine gesteigerte eigene Überwachung auch noch teuer bezahlen sollen.

Jürgen Kaminski

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Ergänzung zum Euro

Ein interessantes Projekt läuft seit zwei Jahren erfolgreich an der Waldorfschule in Prien. Gemeint ist der Chiemgauer, ein Regionalgeldprojekt von sechs Schülerinnen und ihrem Wirtschaftslehrer Christian Gelleri, welches seit dieser Zeit immer wieder Presse und Medien positiv beschäftigt hat.

Den Chiemgauer akzeptieren inzwischen circa 240 Geschäfte in der dortigen Region. Was sind die Vorteile? Die Geschäfte haben bis zu 15 Prozent mehr Umsatz, eine kostenlose Werbung und leisten mit der Rücktauschgebühr in Höhe von 5 Prozent einen sozialen Beitrag für gemeinnützige Projekte. Die Verbraucher entscheiden beim Umtausch von Euro in Chiemgauer, welches Projekt beziehungsweise welchen Verein sie fördern wollen. Ein weiterer positiver Effekt hat sich herausgestellt: Die Menschen reden wieder mehr miteinander - besonders natürlich über Wirtschaft, das Wesen des Geldes und Politik.

Es geht in einer Zeit drohender Massenarbeitslosigkeit durch Rationalisierung und Automation um Wege aus Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Diese Thematik behandelt Uwe Todt, der ehemalige Geschäftsführer der Waldorfschule Kiel in seinem Buch "Erfolgreiches Wirtschaften auf Gegenseitigkeit". Er stellt verblüffend einfache Vorschläge dar, um in einer globalisierten Welt die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern. Diese Vorschläge sind aus dem Grundsatz der Gegenseitigkeit aller wirtschaftlichen Tätigkeiten entwickelt. Damit ist gemeint, daß wirtschaftliche Vorgänge immer beiden Seiten dienen müssen: dem Käufer wie dem Verkäufer, dem Produzenten wie dem Verbraucher, wenn sie auf Dauer erfolgreich sein sollen.

Solange Wirtschaften und Geldanlage ausschließlich vom Renditedenken beherrscht werden und die Aktienkurse steigen, wenn Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, kann uns das nur in die Krise führen. Das wird deutlich, wenn man sich klarmacht, daß der zweitgrößte Posten im Bundesetat die Zinszahlungen für aufgenommene Kredite ist. Daneben findet seit Jahren ein Entsolidarisierungsprozess statt, wie Udo Herrmannsdorfer im Rahmen eines Fortbildungsseminars vom 12. bis 14. 11. 2004 an der Universität Trier bemerkte.

An dieser Arbeitstagung über „Das Ringen um eine soziale Geldordnung" haben über 100 Menschen teilgenommen. Es waren Menschen aus interessanten zukunftsweisenden wirtschaftlichen Bereichen von der Gemeinschaftsbank (Geben-Leihen-Schenken) und aus Regionalwährungsinitiativen vertreten.

Für mich war sehr spannend wahrzunehmen, wie fachkundig und in die Zukunft blickend der Bogen gespannt wurde zu Fragen der Weltwirtschaft - soziale, ökologische, kulturelle, pädagogische, wirtschaftliche und generationsübergreifende Aspekte einschließend. Im Mittelpunkt standen die Ausführungen von Margrit Kennedy zu den Regionalwährungen. Bei den Regionalwährungen geht es darum, daß kleine und mittlere Betriebe der Region - sie stellen über 80 Prozent aller Arbeitsplätze zur Verfügung - sich sowohl durch Handel und Austausch von Dienstleistungen untereinander, als auch durch Bevorzugung durch den Verbraucher gestärkt werden. Warum ist das erforderlich? Weil durch das Streben nach immer mehr und höherem Profit gerade diese Betriebe gefährdet sind und damit viele Arbeitsplätze.

Am 16. Februar 2005 sprach Frau Margrit Kennedy zu Thema "Regionalgeld, der kleine Bruder des Euro" vor über 100 interessierten Menschen in Schleswig. "Zwischen Ökologie und Ökonomie waltet in unserem jetzigen Geldsystem ein unaufhebbarer Widerspruch", sagte sie und erläuterte, daß mit dem "Kann Was" in Schleswig-Holstein die Möglichkeit geschaffen wird, die Region als Wirtschaftsraum mit eigenen Interessen und Potentialen durch eine den Euro sinnvoll ergänzende Regionalwährung zu stärken. Anhand leicht verständlicher Graphiken machte sie deutlich, daß jedes natürliche Wachstum zu einer Sättigung führt, lineares oder gar exponentielles Wachstum letztlich zur periodischen Verdoppelung und somit wie beim Krebs zum Tod führt. Unbegrenzt sei dagegen unsere Erkenntnisfähigkeit, geistiges und kulturelles Wachstum. Eine auf bestimmte Ziele hin optimierte Währung kann nicht nur allen Bürgern dienen - arm wie reich -, sie sichert daneben den sozialen Frieden und kann soziale und ökologische Vorhaben bezahlbar machen.

In einem Artikel in "Die Zeit" erklärte Kurt Biedenkopf schon 1992, daß jedes Wirtschaftssystem, welches exponentielles und andauerndes Wachstum voraussetzt, zum Untergang verurteilt sei. Das macht einen Paradigmenwechsel im wirtschaftlichen und sozialen Bereich wünschenswert.

Hinter dem „Kann Was" steht eine Gemeinschaft mit circa 120 Mitgliedern, von denen etwa die Hälfte Waren oder Dienstleistungen anbieten. Im Juni 2004 wurde der Verein "Regionalgeld Schleswig-Holstein" gegründet. Der Verein möchte mit der Herausgabe einer Regionalwährung die regionale Wirtschaft fördern und Arbeitsplätze sichern.

Gesa Dibbern

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Gendreck-Feldbefreiung erfolgreich

Auch wenn nicht alle Feldbefreier den Monsanto-Genacker von Bauer Pipreck erreicht haben, gelang es doch einigen der über 300 Teilnehmer, auf den umstrittenen Acker zu gelangen. Eine Fläche von 600 Quadratmeter wurde durch Herausreißen der Pflanzen unschädlich gemacht. Mit einem massiven Großaufgebot von mehreren Hundertschaften, Pferden und Hundestaffeln sowie Hubschraubern versuchte die Polizei, das umstrittene Feld im brandenburgischen Naturpark in Hohenstein zu schützen Auch die massive Polizeipräsenz schreckte die Feldbefreier nicht ab. Landwirte, Imker, Gärtner und Verbraucher aus Deutschland, Österreich, Schweiz und Frankreich waren angereist, um ihrem Widerstand gegen die Agro-Gentechnik Ausdruck zu verleihen. 78 der Feldbefreier wurden verhaftet und noch am Abend auf freien Fuß gesetzt. Der friedliche Verlauf der Feldbefreiung hat auf allen Seiten Sympathien erzeugt.

Die friedliche Entschlossenheit der Feldbefreier wurde durch eine Delegation französischer Bauern unterstützt. „Auch wir in Frankreich lehnen Agro-Gentechnik ab und lassen kein Genfeld mehr stehen. Unser Staat schützt uns nicht vor den Gefahren der Gentechnik, daher handeln wir in Notwehr und schützen uns selbst," so Marc Bienne, einer der Sprecher der französischen Initiative, der mittlerweile über 5000 „Freiwillige Mäher" angehören. Die Initiatoren der Bewegung „Gendreck weg" sind zuversichtlich, dass dieser Warnschuß in Richtung Politik seine Wirkung nicht verfehlt und ein Anbauverbot für diese Risikotechnologie erlassen wird. „Die heutige Feldbefreiung ist auch ein Signal an alle Landwirte. Wer weiterhin gentechnisch veränderte Organismen in Deutschland anbaut, muß damit rechnen, dass er keine Genernte einbringen kann", so der Imkermeister Jürgen Binder, der als einer der ersten in Polizeigewahrsam genommen wurde.

„In einer Demokratie muss die Politik den Willen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger respektieren. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung die Gentechnik ablehnt, darf bei uns genmanipuliertes Saatgut ausgesät werden, mit unabsehbaren Folgen für Mensch und Tier", ergänzt der Agraringenieur Michael Grolm, ebenfalls einer der Initiatoren von Gendreck weg.

Gendreck weg fordert Piprek auf, den Mais sofort unterzupflügen und zu vernichten. Nur dadurch könne verhindert werden, dass sich die Pollen auf Nachbarfelder ausbreiten. Ein Nebeneinander von Agro-Gen-technik und traditioneller Zucht- und Anbauverfahren sei nicht möglich, da sich das manipulierte Erbgut unkontrolliert ausbreite.

Die Freiwilligen Feldbefreier erwarten von allen Parteien, dass Sie sich im Wahlkampf eindeutig zum Thema Gentechnik positionieren. Bis zu einem endgültigen Anbauverbot von gentechnisch veränderten Organismen wollen die Feldbefreier weitere Gentechnikfelder in „Sicherheitsverwahrung" nehmen.

Für die Finanzierung dieser Aktion und für den Aufbau der Bewegung in der Zukunft, damit das Thema Gentechnik in der öffentlichen Diskussion bleibt, sind noch viele weitere Spenden notwendig.

Die genauen Standorte der Genäcker können unter www.keine-gentechnik.de eingesehen werden. Die Informationsbroschüre "Genmais in Deutschland", 2. aktualisierte Auflage von Greenpeace kann bestellt werden unter Tel. 040 30618120 oder über www.greenpeace.de

Aktion Gendreck-weg
Postfach 41
72101 Rottenburg
Telefon: 0049 (0) 7472-442370
Telefax: 0049 (0) 7472-441532

www.gendreck-weg.de

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Aufmunternder Blick

Jeremy Rifkin sparte nicht mit Kritik an seinen Landsleuten. Die Amerikaner lebten immer noch einem Traum nach. Einem Traum, der die Erde ruinieren würde, sollte er sich verwirklichen und noch weitere Nachahmer finden. Gemeint ist das vorherrschende Streben nach persönlichem materiellen Erfolg. Auch Freiheit werde so verstanden, daß eine Unabhängigkeit durch Geldbesitz erreichbar ist. Das soll als höchstes Gut verteidigt werden.

Das äußerte der bekannte Vordenker für alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsformen in einem Gespräch anläßlich seines neuen Buches "Der Europäische Traum" (Campus Verlag 2004). Die Europäer wären dabei, etwas zu verwirklichen, was tatsächlich in eine positive Richtung weist. Das geht über den beschränkten Horizont bloß materieller Selbstverwirklichung weit hinaus, wofür die Vereinigten Staaten heute stehen, und bezieht auch Werte der Gemeinschaft und der Umwelt mit ein. "Ich habe jedoch auf meinen Reisen durch Europa eine junge Generation kennen gelernt, die einen keimenden Traum hat. Er zielt auf Inklusivität oder dem Versprechen, niemanden zurückzulassen; auf Lebensqualität, denn Leben ist mehr als die Gehaltsabrechnung; auf kulturelle Vielfalt, nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und Zusammenarbeit der Völker, um global den Frieden zu sichern."

Dabei sieht Jeremy Rifkin durchaus auch die europäischen Probleme: die Brüsseler Bürokratie, das Machtgerangel in und zwischen den Staaten und die sich abzeichnende Abnahme der Bevölkerungszahlen in Europa. Doch das kann auch eine Herausforderung sein. Er weist auf Frankreich, wo es wieder eine Zunahme von Geburten gibt. Das hängt auch mit einem kinderfreundlichen Klima zusammen, das die Gesellschaft bietet.

Andererseits sieht er, daß sich Europa noch weit mehr den Einwanderern öffnen muß. "Damit keine Festung Europa entsteht, damit Kulturen nicht getrennt nebeneinander her leben und derart ein Land ins Desaster stürzen, müssen Einwanderer sozial, kulturell und politisch mit einbezogen werden."

Er warnt davor, immer noch dem amerikanischen Traum nachzueifern, und etwa nicht zu sehen, daß die europäische "soziale Marktwirtschaft" das erfolgreichere Modell ist. Das wird dann deutlich, wenn amerikanische Bundesstaaten mit europäischen Ländern verglichen werden.

Da mag manches sehr idealistisch angeschaut sein, doch verweist es eigentlich auf Veranlagungen, die noch herauszuarbeiten sind. Es ist ein aufmunternder Blick eines Amerikaners auf Europa, der besonders die Stärken hervorhebt und sich nicht in den Schwächen verhakt. Damit erweist sich Jeremy Rifkin wirklich als ein "amerikanischer Freund", wie es in internationalen Beziehungen eigentlich sein sollte: daß man sich in seinen Möglichkeiten, aber auch Verfehlungen von außen anschauen läßt, und so erst zu Beurteilungen kommt, wie man in der Welt dasteht. Das sollte ebenso für das derzeitige Amerika gelten wie auch für andere Weltgegenden, insbesondere wo man sich in eine Engigkeit hinein verrannt hat.

Jürgen Kaminski

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AUFRUF ZUR WAHL EINES NEUEN KONVENTS  - ZUR ZUKUNFT DER EUROPÄISCHEN UNION

Mit dem „Non" Frankreichs, dem „Nee" der Niederlande und der vorläufigen Absage des Referendums in Großbritannien ist der Vertrag über eine Verfassung für Europa politisch gescheitert. Nun rächt sich, dass die Europapolitik lange Jahre über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg betrieben wurde.

Erwogen werden jetzt eine nachträgliche Änderung der Ratifikationsregeln oder erneute Volksabstimmungen über denselben Entwurf. Doch ein so erzwungener Verfassungsvertrag würde nicht nur den in Frankreich und den Niederlanden geäußerten Bürgerwillen missachten, sondern auch die demokratischen Grundwerte Europas ad absurdum führen. Eine solche Entwicklung muss unbedingt verhindert werden. Und dies kann nur durch eine Rückbesinnung auf demokratische Regeln gelingen.

Wir meinen, dass ein wichtiger Grund für das Scheitern des Verfassungsvertrags das fehlende Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in eine abgehobene EU-Politik ist. Zu diesem Vertrauensmangel trug auch die Entstehungsgeschichte des derzeitigen Vertragsentwurfes bei. Denn schon das Konventsverfahren in Brüssel war von schwerwiegenden demokratischen Mängeln gekennzeichnet:

• Der 105 Mitglieder zählende Konvent wurde von den Regierungen eingesetzt und nicht von den Bürgerinnen und Bürgern direkt beauftragt. So wurde eine

Identifikation mit dem Konventsergebnis von vornherein verhindert. Viele wussten nicht einmal vom Konvent und seiner Aufgabe.

• Zwar waren die Sitzungen öffentlich, doch wurden im Konvent selbst keine Entscheidungen gefällt. Dies geschah allein im dreizehnköpfigen Präsidium - ohne erkennbare Regeln und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Große Teile der Verfassung wurden gar nicht diskutiert, sondern einfach „durchgewunken".

• Erst nach Abschluss des Konvents wurde bestimmt, ob die Bürgerinnen und Bürger selbst oder die Parlamente über den Vertrag zu entscheiden haben. In vielen Mitgliedsstaaten wurde kein Referendum zugelassen, obwohl Verträge, die die Souveränitätsverhältnisse berühren, der direkten Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger bedürfen.

Wie sollen die Bürgerinnen und Bürger Europas bei einem solchen Vorgehen Vertrauen in den Verfassungsvertrag entwickeln und damit Vertrauen in ein geeintes Europa?

Unzweifelhaft steht Europa vor großen Herausforderungen, die nur auf der Basis eines neuen Vertrages gelöst werden können. Eine so tief greifende Reform aber kann nur mit der ausdrücklichen Beauftragung durch die Bürgerinnen und Bürger gelingen! Nur ein demokratisch legitimiertes Konventsverfahren kann einen Vertragsentwurf hervorbringen, dem die Menschen als akzeptablem Kompromiss vertrauensvoll zustimmen können.

Wir fordern daher die Einleitung eines wirklich demokratischen Konvents- und Ratifikationsverfahrens. Dieses soll aus folgenden Schritten bestehen:

1. Wahl der Konventsmitglied: Es wird ein Verfahren für einen neuen Konvent mit direkt von den Bürgern gewählten Konventsmitgliedern ausgearbeitet. Zu beantwortende Fragen wären etwa, wer kandidieren darf

oder wie viele Kandidaten pro Land aufgestellt werden dürfen. Dabei wird auf Meinungspluralität geachtet. Anschließend wird der Konvent direkt gewählt.

2. Konventsverfahren: Der neue Konvent tagt und entscheidet öffentlich. Das Präsidium wird gewählt und moderiert das Verfahren, ohne es zu dominieren. Die Qualität des Verfahrens soll nicht unter Zeitdruck leiden.

3. Entscheidungsalternativen: Der Konvent entwickelt als Zwischenergebnis grundsätzliche Alternativentwürfe. In geeigneten Verfahren (z.B. Bürgerkonferenzen, Bürgergutachten, Befragungen oder Abstimmungen) werden diese Alternativen öffentlich debattiert. Zusätzlich können die Bürgerinnen und Bürger sowie zivilgesellschaftliche Initiativen qualifizierte Vorschläge an den Konvent richten, die von den Konventsmitgliedern berücksichtigt werden müssen. Durch diese frühe Rückkoppelung während des Konventsverfahrens wird eine Akzeptanz des endgültigen Entwurfs sehr viel wahrscheinlicher.

4. Referendum über das Konventsergebnis. Nach Berücksichtigung der Rückmeldungen (Punkt 3) wird der vom Konvent ausgearbeitete Vorschlag zur Abstimmung gestellt. Es wird zeitgleich in allen Mitgliedsstaaten abgestimmt.

Die Unterzeichnenden fordern die verantwortlichen Entscheidungsträger auf, die bestehende Krise der Europäischen Union als Chance zu nutzen und ein neues Konventsverfahren einzuleiten. Die Europäische Union muss auf einem demokratischen Fundament aufgebaut werden. Bitte unterzeichnen auch Sie diesen Aufruf!

MEHR DEMOKRATE e.V., Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin, Tel. 030-42082370, FAX 030-42082380, e-mail info@mehr-demokratie.de

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Aufruf für regionale Foren zur Gestaltung eines anderen Europas von unten
("Ateliers de participation pour une autre Europe")

Das Scheitern des Ratifizierungsprozesses des EU-Verfassungsvertrages, dank der französischen und niederländischen Bürger/innen, hat auch das Scheitern der bisherigen Europäischen Politik offen gelegt: Ganz offensichtlich brauchen wir eine neue Politik in Europa, da die europäischen Eliten immer deutlicher unsere gemeinsame Zukunft gefährden. Die Einigung Europas muss deshalb jetzt von den Europäern selbst in die Hand genommen werden.

Mit der Idee von Versammlungen von unten, "Ateliers de Participation", dezentral, europaweit, an vielen Orten, gleichzeitig an einem Tag, wollen wir eine erste Etappe auf dem Weg zu einem sozialen, friedlichen und ökologischen Europa zurücklegen.

Auf diesem Weg wollen wir folgende Ziele erreichen:

1. Aktionen und Mobilisierungen gegen die europäische neoliberale Politik

2. Vorschläge für echte demokratische europäische Institutionen

3. Entwicklung von Ideen für ein anderes Europa


Wir schlagen vor,

in regionalen selbstverwalteten Initiativen in ganz Europa, unter breiter Beteiligung der sozialen Bewegungen aus globalisierungskritischen, ökologischen, friedenspolitischen, kirchlichen, entwicklungspolitischen, gewerkschaftlichen, künstlerischen und anderen Zusammenhängen, in einem offenen Prozess kreative Zukunftsentwürfe für ein anderes Europa, ein Europa von unten, zu entwickeln.
Inhaltlich könnten wir gemeinsame Themenbereiche diskutieren, z. B.

Demokratie, Partizipation, Grundrechte in der EU

Grundbedingungen für eine europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik

Grundbedingungen für soziale Gerechtigkeit in Europa

europäische Politik zur Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen

Europas Beitrag zum Frieden in der Welt

Welche Institutionen und Strukturen brauchen wir dafür?

Zeitplan:

Synchronisierung mit dem Europäischen Sozial Forum-Prozess in Istanbul am 23. – 25. September 2005
Durchführung der regionalen Foren im November 2005
Europaweiter und in den Europäischen Sozial Forum -Prozess eingebetteter Aktionstag regionaler Foren am 4. März 2006
ESF in Athen im April 2006: Verabschiedung einer "Strategie von Athen", die einen Kontrapunkt zur "Strategie von Lissabon" der EU darstellt und die Ergebnisse der Diskussionsprozesse der regionalen Foren wiedergibt .

Wer mit uns gemeinsam diesen Prozess organisieren möchte, der melde sich bei: Adolf Riekenberg, Koordinationsbüro EU-Verfassungskampagne, Nußbaumstr. 7, 73553 Alfdorf, Tel.: +49 7182 49112, Mobil: +49 175 4254928, eMail: info@eu-verfassung.com

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Atomwaffen in Europa

Es war eher eine kurze Mitteilung - mit allerdings explosivem Inhalt. Ein amerikanisches Institut, das Natural Resources Defence Council, kam in seinem Bericht vom Februar 2005 zu dem Ergebnis, die Vereinigten Staaten hätten in Europa noch 480 Atombomben gelagert. Bisher ging man von einer Anzahl von etwa 160 Stück aus. Allein in Deutschland gibt es noch etwa 150 dieser Bomben - anstatt der vermuteten Zahl von 65. Gebunkert sind sie in den amerikanischen Stützpunkten von Nörvenich, Büchel und Ramstein.

Die anderen betroffenen europäischen Staaten sind Großbritannien, Niederlande, Belgien, Italien und Griechenland. Auch in der Türkei lagern amerikanische

Atomwaffen.

Obwohl die Vereinigten Staaten sich offiziell in Geheimhaltung üben, bestätigte ein Armeesprecher ein beträchtliches Nukleararsenal in Europa. Das solle der strategischen Abschreckung dienen und helfen "Friede und Stabilität" in der Region zu erhalten.

Die Europa-Abgeordnete der Partei der Grünen, Angelika Beer, forderte daraufhin eine Offenlegung durch die amerikanische Regierung und einen schnellstmöglichen Abzug der bedrohlichen Waffen. Und auch die deutsche Regierung solle sagen, was sie darüber wisse.

In dem genannten Institutsbericht heißt es zudem, daß die europäische Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen überflüssig sei, da eine Verteidigung durch Langstreckenraketen abgedeckt ist. Zudem entspräche das einer veralteten Strategie, welche nicht mehr gültig sein kann. Darüberhinaus sei es kontraproduktiv für das Bemühen, sogenannte "Schurkenstaaten" davon abzubringen, eigene Atomwaffen zu entwickeln.

Bei einem Rückblick auf die europäische Nachkriegsgeschichte ist zu sehen, daß es in dieser Zeit nichts Bedrohlicheres gab als die hier gelagerten Atombomben, beiderseits des "eisernen Vorhangs". Um ideologischer Streitigkeiten willen nahm man die Zerstörung des Kontinentes in Kauf. Die bloße Anwesenheit von Atomwaffen ergab in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Zuspitzung, daß es nur eines technischen Defektes bedurft hätte, das Inferno auszulösen.

Jene Erfahrung, daß mit Atomwaffen nur ein zeitweiliges "Gleichgewicht des Schreckens" zu halten sei, und dieser Schrecken sich immer bedrohlicher über alle lagert, darf nicht vergessen sein. Erst mit dem Abzug davon öffneten sich auch wieder politische Möglichkeiten für ein friedlicheres Zusammenleben, wenn auch dieses mit großen Anstrengungen verbunden ist.

Die atomare Bedrohung schafft weder Stabilität noch Frieden, allen falls eine Schreckensstarre. Sich davon befreit zu haben, gehört nun zur europäischen Geschichte. Das gilt es ebenso den Amerikanern klarzumachen wie auch jenen Ländern, welche meinen, sich durch Atomwaffen einen besonderen Status zulegen zu müssen.

Jürgen Kaminski

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Wie Rußland wieder regierbar werden kann

Vor vier Jahrhunderten, noch in der Moskauer Rus, existierte das System der Geleitbriefe zwischen einem bestimmten Ort (einer Siedlung, einer Region) und der obersten Macht: Sie betrafen die Verpflichtungen, die der Ort dem Staat gegenüber zu erfüllen hatte, und diejenigen, zu denen sich im Gegenzug die Macht bereit erklärte. Diese Geleitbriefe wurden veröffentlicht, und ihre Lektüre ist sowohl erstaunlich als auch informativ: Wir erfahren, in welch breiterem Maße wir schon vor vierhundert Jahren besonnener, verantwortungsbewußter und vertrauensvoller miteinander umgingen. (Ob die heutige Macht einen solchen Brief, selbst wenn sie ihn unterzeichnete, wohl respektieren würde?)

So also wirkte bereits im 16. Jahrhundert in Rußland die lokale Selbstverwaltung - das Semstwo. Sie wurde unter der Petersburger Dynastie abgeschafft, wurde unter Alexander II. wiederhergestellt und führte bis zur Revolution eine belebende Existenz. Den Bolschewisten saß diese völkische Selbstinitiative verquer in der Kehle, und sie trieben diese Semstwos überall auseinander...

Die Semstwos müssen über die Vollmachten verfügen, die örtlichen Mittel auf entsprechende Weise verteilen zu können: auf das örtliche Bildungssystem, das Gesundheitswesen, die Erhaltung der Natur, auf den Havarie- und Katastrophendienst, die Agronomie, die Melioration (landwirtschaftliche Nutzbarmachung), den Straßenbau, die Hilfe für die Bedürftigen, die Landeskunde, die statistischen Erhebungen und noch

ein Dutzend andere nützliche Gebiete - dann werden die Semstwos nicht zu einer Macht im buchstäblichen Sinne, etwa wie ein Administrator aus der Regierungs-Vertikale, sondern zu kurierenden, wiederherstellenden, überzeugenden, die Weite des Raums öffnenden Organen für die vernünftigen und aktiven Kräfte der Bevölkerung...

Bei den Wahlen zum lokalen Semstwo (eine Gruppe von Dörfern oder kleinen Siedlungen) kann man wahrscheinlich, bei einer homogenen Bevölkerungsstruktur und ohne der Gerechtigkeit zuwider zu handeln, eine Mehrheitswahl durchführen. Im Kreis dagegen ist die Bevölkerung, was ihre Tätigkeit und ihre sozialen Interessen betrifft, schon differenzierter - hier muß man darauf achten, daß alle ihre wesentlichen Kräfte im Kreis-Semstwo repräsentiert sind. Das kann man durch das von altersher bekannte System der "Kurien", eine ständisch-kooperative Struktur, erreichen: Eine homogene Wählergruppe entsendet ihren Vertreter in die Wahlinstanz. Im untersten Semstwo wird es vermutlich genügen, einen der Ältesten (mit einer Aufwandsentschädigung) und mit ihm zwei weitere Vorstandsmitglieder (ohne Aufwandsentschädigung) zu entsenden. Innerhalb des Kreises setzt die jeweilige Gegend, entsprechend ihren Besonderheiten, die Zahl ihrer Mitglieder in der Kreisversammlung des Semstwos selbst fest (diese werden für ihre Teilnahme nicht entschädigt und sind keine Beamten, sondern freiwillig um das örtliche Wohl bemüht, und so handeln sie auch; lediglich das exekutive Organ, die Semstwoverwaltung, besteht aus einer minimalen Anzahl bezahlter Mitarbeiter)...

Ein solches Semstwosystem löst auf entschiedene Weise auch die nationalen Verwicklungen: Sein tatsächlich supranationaler Charakter schließt eine Auswahl der Administratoren nach Kriterien der nationalen Zugehörigkeit, wie das heute, selbst wenn nur eine Minderheit der Titular-Nation angehört, in vielen Autonomien der Fall ist, aus; im Gegenteil, dort wo eine zahlenmäßig starke ethnische Bevölkerung konzentriert ist, wird die lokale Selbstverwaltung natürlich von ihr gebildet. So vermindert eine wahrhafte und nicht nur verbale Demokratie auch die zwischennationalen Spannungen. Alle auf nationalen Kriterien beruhenden Privilegien oder Benachteiligungen werden das Prinzip der Semstwos nur zerstören. Die nationale Kreativität bewahrt sich überall ihre religiösen, kulturellen, allgemeinbildenden und schulischen Besonderheiten. (Möglicherweise erfordert die sehr spezifische Lebensweise räumlich verstreuter kleiner Völker im Norden Sibiriens eine ihnen entsprechende besondere Form der Selbstverwaltung.)

Die Einführung des Semstwosystems kann sich nur allmählich vollziehen, so wie ein Baum wächst, und ohne willkürlich gesetzte Termine. Erst nachdem man erfolgreich lokale Semstwos realisiert hat, kann man darangehen, die erprobten Methoden auf die Schaffung eines Kreis-Semstwos und später eines Gebiets-Semstwos zu erweitern und weiter zu entwickeln ...

Eine solche Semstwo-Vertikale, unabhängig von der Vertikale der Zentralregierung (bei der sich die Kompetenzen oben konzentrieren und nach unten immer mehr verringern), würde in Rußland eine vereinende Macht schaffen, eine staatliche Semstwostruktur, die es erlaubt, sowohl die zentrale staatliche Administration zu erhalten als auch das Leben des Volkes real zu verwalten. Auf jeder Ebene – in den Orten, in den Kreisen, in den Gebieten und auch auf der zentralen Ebene - kontrolliert die Regierungs-Vertikale die genaue Einhaltung der Gesetze durch die Semstwos, und die Vertikale der Semstwos kontrolliert ihrerseits die Regierung auf deren Ehrlichkeit und Offenheit bei der Durchführung jeglicher Maßnahmen. Und auch die Macht des Präsidenten würde sich dann der gewissenhaften Durchleuchtung durch die obersten Instanzen der Semstwos ausgesetzt sehen (was uns heutzutage völlig fehlt!).

Der Staat muß gleichzeitig sowohl von oben als auch von unten errichtet werden.

Alexander Solschenizyn  Rußland im Absturz (Böhlau Verlag, Wien 1999)

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Über das Sozialprinzip des Geistes

Wie man es auch dreht und wendet: der Tod ist jedem Menschen sicher und früher oder später muß er diese Tatsache ins Auge fassen. Im allgemeinen wird der Tod als etwas Negatives gesehen, als "Beendigung des Lebens" aus irgendeinem Grunde: in Folge eines Unfalls, durch schwere Krankheit oder rein altershalber. Er wird meist als "Defekt" dargestellt, etwa als Ausfall von Organfunktionen, als "Herzversagen" usw. Der westliche Mensch hat sich so in der Diesseitigkeit eingerichtet, daß er diese Beendigung als Fehler, Defekt betrachten muß, daß er nichts Positives darin sehen kann.

Ein anderes Verhältnis zum Tode zeigen andere Kulturen, etwa die der Indianer, wenn die Alten, "da die Zeit gekommen war", sich auf einen Berg setzten und aktiv starben, "ihren Geist aufgaben". Auch ein japanischer Samurai hatte ein merkwürdiges Erlebnis mit seinen zwei Begleitern (welche ihm zuvor im Kampfe zuhilfe gekommen waren), die sich dabei als hochrangige Weise herausstellten. Als sie bei ihrer Bergwanderung an eine bestimmte Stelle kamen, ließen diese sich im Lotossitz in Meditationshaltung nieder und trugen ihm auf, so sie "nach drei Tagen nicht zurückgekehrt" seien, möge er ihre sterblichen Überreste verbrennen. Vor solch einer souveränen, königlichen Haltung dem Tode gegenüber kann der westliche Mensch nur staunen, sie scheint ihm unfaßbar. Dabei haben ihm zahlreiche Berichte von Erlebnissen an der Todessschwelle, wie etwa auch durch die Fallanalysen von Dr. Kübler-Ross gesammelt, diesen Bereich nahezubringen und vertrauter zu machen versucht. Er kann zumindest wissen oder den Hauch einer Ahnung davon pflegen, daß dann zwar leiblich, aber nicht seelisch "alles aus" ist, und daß wohl auch "die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden" wird, wie Hermann Hesse es in seinem Gedicht "Stufen" beschrieb.

Dabei war noch das europäische Mittelalter vollkommen von Todesahnung und Todesvertrautheit durchzogen, fast zu stark sogar, was Machthabern und Unternehmern, die irdisch fleißige und produktive Leute haben wollten, gar nicht so recht sein konnte. Das Bild des fidelnden Todes, wie es noch bei Arnold Böcklin auftritt, war verbreitet, ebenso wie das Moritatenspiel vom Reichen Manne, der vom Tod abgeholt wird. Hugo von Hofmannsthal's "Jedermann" greift auf einen englischen Text des 15. Jahrhundert sowie auf ein Stück von Hans Sachs zurück. Der Reiche, der nur seinem Gelde und Eigeninteresse nachgejagt ist, wird in der Begegnung mit dem (personifizierten) Tod vor einen vielschichtigen Selbsterkenntnisprozess geführt, in dem er einsehen lernt, daß er auf den "Mammon" hereingefallen und zu seinem Knecht geworden ist. Obwohl die Situation zunächst sehr schlecht aussieht, läßt Hofmannsthal die Sache aufgrund der Selbsterkenntnis nicht ganz hoffnungslos ausgehen, die Seele des Reichen wird nicht fortgeworfen, sofern sie sich selbst durch Einsicht "richten" kann, d.h. eine richtigere Richtung einschlagen kann und diese sich vornimmt. Die Wirkung der etlichen Aufführungen des "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen, die schon Stefan Zweig erwähnt, in denen später Curd Jürgens vielmals die Hauptrolle spielte, darf in ihrer moralischen Wirkung nicht unterschätzt werden. In den 20er Jahren avancierte Salzburg dadurch quasi zu einer Art "Weltzentrum", was der Salzburger Stefan Zweig mit Genugtuung feststellte (in "Die Welt von gestern").

So grotesk es auf das erste Gehör klingen mag: der Tod ist dasjenige, was die Menschen wirklich vereint. Sie mögen im Leben noch so verschieden sein, stolz oder demütig, weiß oder schwarz, intellektuell oder gemütvoll - im Tode werden sie alle vereinigt, der "Tod macht alle gleich", wie man sagt. So finden wir: Vereinheitlichung im Tode, Individualismus und Egoismus im Leben. Der gesamte Aufbau und Ausbau der Persönlichkeitspflege, seine teils zu egomanischen und sozial ignoranten Zügen übertriebene Steigerung, muß im Tode vollkommen hingeopfert werden, ist "von heute auf morgen" sozusagen nichts mehr wert. Der Mensch, der nur egozentrisch der Selbstpflege (auch etwa dem Selbstmitleid) gelebt hat, erkennt, daß all dies ihn zu völliger Unfruchtbarkeit verleitet hat, daß er überhaupt für das Soziale keinerlei Früchte hervorgebracht hat, von denen er jetzt zehren könnte. Denn im Moment des Todes stülpt sich der Mensch um: das, was Außenwelt war, wird zur Innenwelt, und das, was Innenwelt war, wird zur Außenwelt für ihn. Die Welt des Todes und des sogenannten "Nachtodlichen" ist also ganz normal die zweite Hemisphäre seines Daseins, welche kulminiert in einem gewissen Gipfelpunkt, um von da an den neuen Abstieg in ein späteres Leben vorzubereiten. Geburt und Tod sind somit die Begegnungspunkte, die zwei Schnittpunkte dieser Hemisphären, die deshalb auch stets gefeiert wurden, das eine mit Freude, das andere mit Schmerz. Novalis jedoch schildert jeden Gestorbenen als Neugeborenen in der jenseitigen Welt, an deren Verhältnisse er sich genauso erst gewöhnen muß, wie der Säugling an die irdischen, und für die ihm gleichermaßen Begleiter zur Verfügung stehen.

Indem der Mensch also irdisch handelt, handelt er zu-gleich auch in Verhältnissen der Innenwelt, nur daß diese nicht gleich deutlich für ihn zu sehen sind, es sei denn, er hat seinen Blick durch eine strenge und ernsthafte Schulung geschärft. Er handelt in Zusammenhängen, deren vollständige Transparenz ihm eben erst mit dem Tode aufgeht, und die im irdischen Leben durch alle möglichen Ablenkungen, Zerstreuungen und Illusionen betäubt ist. Wer nicht wirklich aus der Perspektive des Sterbenden auf das Leben zu blicken vermag, der kann nicht behaupten, die wahren Verhältnisse wirklich einsehen zu können - sein Blick haftet noch zu sehr an Täuschungen und Irrlichtern. Das Jedermann-Spiel führt nicht umsonst gerade den Reichen vor in seiner irdischen Verfangenheit, um an ihm gerade, der sozusagen irdischen Gütern besonders in die Lappen gegangen ist, ein Exempel zu statuieren. Fast ist es egal, möchte man sagen, ob dann einer tatsächlich reich ist, oder zeitlebens arm ist, aber die ganze Zeit nach Reichtum usw. gestrebt hat - es kommt fast auf das Gleiche heraus. Es könnte sogar der tatsächliche Reiche noch etwas besser dastehen, weil der physische Reichtum ihm ermöglichte, hier und da wenigstens eine Kleinigkeit abzugeben und zu spenden usw., während der Arme dazu nicht einmal die Mittel hatte.

Nun haben ernstzunehmende Kulturphilosophen wie Friedrich Georg Jünger ("Die Perfektion der Technik"), Gabriel Marcel ("Sein und Haben"), Erich Fromm ("Haben oder Sein") die Frage auf den Punkt gebracht, ob denn Besitzgüter die notwendige Bedingung für Reichtum seien, ob Reichtum eine Frage des Habens oder des Seins sei, wie F.G. Jünger formuliert. So kann sogar der nach äußeren, materiellen Gütern lechzende sogenannte "Arme" unter Umständen entdecken, daß er weit wichtigere Begabungen auf diese Weise außer Acht läßt und versäumt, sie ins soziale Gefüge einzubringen. Er verfällt der Illusion, Reichtum sei eine Frage des Habens, und wird darin potentiell ein Nachfolger des Jedermann. Zuweilen wird es an "Lottogewinnen" ansonsten armer Leute deutlich, auf welche sinnlose Weise das zugewiesene Geld verwendet wird. Die Verwendungsideale spielen sich meist in Szenarien naiver Glücksvorstellungen ab, nicht selten ist das Geld nach ein paar Jahren Saus und Braus verpraßt und der Arme stürzt in größeres Elend als je zuvor. Ohnehin ist die Lotterie und jegliches "Glücksspiel" eine Narretei und wurde von listigen Geistern erfunden, um dem Staat unter Ausnutzung alberner Begehrlichkeiten und Glücksvorstellungen zusätzliche Steuereinnahmen zu verschaffen. So wären die Geldströme der Klassenlotterien einmal interessant zu untersuchen. Dieser "Zeitvertreib" schädigt nur ernsthafte Überlegungen zu einer wirklich menschengerechten Sozialstaatlichkeit und verplempert Kraft dazu.

Neben den genannten Autoren hat auch der bei Kulturästheten etwas mißliebige, ansonsten aber durchaus in gewissem Sinne "eingeweihte" Joseph Beuys auf die wahre Kapitalbasis des Menschen hingewiesen, indem er in der Arbeitsfähigkeit das eigentliche, unveräußerliche Kapital des Menschen sah. "Eine Gabe ist eine Aufgabe" sagte auch der Großvater von Käthe Kollwitz und brachte sie damit auf ihren ureigensten Weg. Als einer der "ärmsten Schlucker" muß der Maler van Gogh gelten, der zeitlebens in höchsten finanziellen Nöten lebte und zuweilen bloß von Almosen über die Runden kam. Daß er zugleich äußerst reich und hochbegabt war, aus diesem Reichtum der Menschheit Gewaltiges schenken konnte, steht wohl außer Zweifel. Daß dabei die äußere Armut der Kunst förderlich sei, dürfte ebenso ein Gerücht sein, wie daß äußerer Reichtum Hindernis für schöpferische Produktivität sei. Für beides gibt es genügend Beispiele und Gegenbeispiele, die belegen, daß es sich hier um zwei voneinander relativ unabhängige "Paar Schuhe" handelt. Für das Soziale weit wichtiger ist die Frage des Egoismus und das Sprengen seiner Schale an der Schwelle des Todes. Heute beginnt "Empathie" genannt zu werden, was nichts anderes ist, als fühlendes Hineinragen eben der Katharsis- und Metanoia-Welt des Nachtodlichen in die irdischen Verhältnisse hinein. Die Geisteslehrer der Menschheit stellten stets als Ideal hin, daß kein Mensch der Zukunft wirklich glücklich sein könne, wenn ein anderer "neben ihm" (das kann auch sehr weit weg sein!) unglücklich ist. Die Menschen beginnen, indem sie Hilfslieferungen um die halbe Welt senden, zu verstehen, daß die Realität seelischen Leids keine Frage der räumlichen Entfernung ist, sondern daß sie Bestandteil eines "Weltinnenraums" ist, der jederzeit und überall real ist.

Auf globaler Ebene äußern sich die neuen, transzendenten Fähigkeiten in Zusammenkünften wie dem "Weltsozialforum", während der "Weltwirtschaftsgipfel" noch ganz Ausdruck des Renaissance-geborenen Unternehmertums ist, welches die egoistisch-individualis-tische Persönlichkeit und ihr Profit- und Machtgewinn-Streben noch als höchstes Gut sieht. Diesem entspricht aber noch der "Jedermann", der Reiche, der nur seine eigenen Ideen (ein irdisches Wohlfahrtsparadies, einen "Lustgarten") verwirklichen will, ohne an Grenzen zu stoßen. Der Tod tritt ihm schließlich in den Weg, gleichsam mit dem Wort von Sartre: "Das Spiel ist aus" und gemahnt ihn unausweichlich an die andere Hemisphäre seines Daseins. Die Menschheit muß sich selbst ihre Seligkeit bereiten, "wie sie sich selbst so tiefe Wunden geschlagen hat", aus denen die Welt allerorten blutet... - wie Rudolf Steiner 1885 an die Dichterin Marie Eugenie delle Grazie schrieb. Der abendländische Materialismus und Wirtschaftsegoismus hat Unsägliches an Zerstörung und schiefen Verhältnissen hervorgebracht und setzt zum Teil diesen Kurs noch fort. Dem gegenüber steht eine wachsende Anzahl sozialer Bewegungen, welche oft gar nicht wissen, wie spirituell die Beweggründe sind, denen sie folgen. Wichtig dabei ist, daß auch bei den sozialen Bewegungen nicht bloß nach materiellen Güterverhältnissen geurteilt werden darf, sondern daß die inneren Werte und Begabungen stärker ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden.

Die Menschheit ist nach der Renaissancezeit damit wiederum an eine "kopernikanische Wende" angekommen, worauf auch Fridtjof Capra mit seinem Buch "Wendezeit" hinwies. Es kann dem Menschen dabei deutlich werden, daß wahre "Selbstverwirklichung" nicht Egozentrik bedeutet, sondern langsames Hinzunehmen der anderen Seite des Daseins, in der Ausbildung dessen, was auch der Dalai Lama "Mitgefühl" nennt. Sogar in die größten Unternehmen zieht eine Art ethischer Besinnung ein (mit dem sogenannten "Werte-Manage-ment-System"). Daß inneren Werten dabei zunehmend Vorrang vor äußeren eingeräumt wird, kann als zukunftsträchtig erlebt werden, und jeder Einzelne, auch der Mittelloseste, kann sich als Teil dieser Bewegung fühlen, die in noch weit größere Dimensionen reicht, als ihre Gegenstände es momentan deutlich machen. Denn sie macht sich auf den Weg, das seit der Neuzeit auseinandergefallene "Diesseits" und "Jenseits" wieder zu überbrücken und zu verbinden.

Andreas Pahl

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Gruß aus der Schweiz

Der beste Schweizer Käse samt Alpenbitter heißt Appenzeller. Dies dürfte auch den Wienern bekannt sein. Ein Abkömmling dieses eigenartigen Schweizer Völkleins hat es sich nicht nehmen lassen, mit seiner Frau einer Einladung nach Wien-Hietzing zu folgen. So bestieg er in Begleitung mutig das nächste Flugzeug und flog, sein Heimatländchen von oben betrachtend, direkt in den großen Wiener Flughafen. Eine elegant gekleidete Dame, die Frau Doktor, erwartete die Gäste mit dem Schulprospekt in der Hand. So nahm der dreitägige Besuch in beiden Schulen seinen Anfang.

Wir kennen die Rudolf Steiner-Schulbewegung der Schweiz, von Italien und ein wenig von Deutschland und England. Was uns hier in Wien-Hietzing begegnete, war wieder völlig anders, ja absolut neu! Die Friedrich Eymann Waldorfschule in einem Haus des Staates untergebracht in gutem Einvernehmen mit der benachbarten Schule, ein bedeutendes Unternehmen. Wir wünschen dieser Schule viel mehr Kinder und große Kindergärten! Einige Schulklassen durften wir kennenlernen - da wird überall intensiv und ideenreich gearbeitet. Im schönen Festsaal kamen viele interessierte Leute zum Vortrag: Um 19 Uhr war eine Person im Saal, um 19.02 Uhr war er plötzlich voll, auch dies eine Wiener Spezialität! In Italien könnte man an den meisten Orten erst eine halbe Stunde nach angesetzter Zeit beginnen, in der Schweiz beginnen die einen überpünktlich und schließen dabei die Eingangstüren, die andern, etwas zeitgemäßer Orientierten beginnen fünf Minuten nach Vorgabe, so kann das Stadtleben etwas atmen.

Die Existenz des Oberstufenrealgymnasiums Rudolf Steiner ist eigentlich ein Wunder. All die jungen Menschen versammeln sich zu einem besinnlichen Morgenkreis für Poesie und Gesang - gibt es so etwas in einem Gymnasium, wo doch nur der Notendurchschnitt und gespeicherter, abrufbarer Inhalt zählt? Ein Lehrerkollegium, in freundlicher Festigkeit von der Direktorin geführt, ist bereit, eine warme Atmosphäre zu schaffen, Raum zu geben für Lebensfragen und künstlerische Hauptfächer neben Sprachen und Naturwissenschaften gelten zu lassen. Das Arbeitsklima ist sehr angenehm.

Was uns an Interesse und Kollegialität von den Musiklehrerinnen und Musiklehrern entgegenkam, zeigt, dass wir in eine fruchtbare Zusammenarbeit kommen können, was in Zukunft auch vorgesehen ist. Es ist ja beileibe nicht einfach, Musiktheorie ohne die Qualität des Hörens zu vermitteln, Orchesterstücke für diese einmalige Besetzung des Hausorchesters zu arrangieren oder polyphone Chormusik in einem Chor von Jugendlichen zum Klingen zu bringen. Die Menschen, die täglich in diesem Gymnasium ein- und ausgehen, sind motiviert, solche Erfahrungen in verschiedenen Künsten zu erleben!

Tief beeindruckt fliegt das Appenzeller Ehepaar wieder heim, nicht ohne noch schnell eine Sachertorte erstanden zu haben. So kommt doch ein echtes Wiener Produkt zu Hause auf der Tisch, das für einmal nicht nach Käse schmeckt - im Gegenteil nach süßen Wiener Träumen!

Peter und Constanza Appenzeller in der Schulzeitung der Friedrich Eymann Waldorfschule und des Oberstufenrealgymnasiums Rudolf Steiner, Dezember 2004

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Wiener Ärztekammer warnt vor übermäßigem Handytelefonieren von Kindern
Neuer Leitlinienkatalog rät zum behutsamen Umgang mit Handys

Die Wiener Ärztekammer warnt ausdrücklich vor übermäßigem Handytelefonieren vor allem bei Kindern. Grundlage dafür ist die kürzlich präsentierte "Reflex-Studie", in der eindeutig ein gentoxischer Effekt von Mobilfunkstrahlen nachgewiesen wurde. Als erste Konsequenz daraus hat nun die Ärztekammer einen Leitlinienkatalog erstellt, der konkrete Verhaltensregeln im Umgang mit Handys festlegt.

Die von der EU mit mehr als zwei Millionen Euro geförderte "Reflex-Studie" wurde an mehreren bedeutenden Forschungszentren in Europa - unter anderem auch am Wiener AKH - durchgeführt. Dabei wurde die so genannte Mutagenität einer Substanz, in diesem Fall von elektromagnetischen Feldern, überprüft. Man untersuchte Veränderungen in der Erbsubstanz, die der mögliche Beginn einer Tumorerkrankung sind. Ein Teil der Tests wurde an menschlichen Promyelozyten - einer Vorstufe von Zellen der Blutbildung - durchgeführt. Eine Mutation solcher Zellen kann in weiterer Folge zu Leukämie und ähnlichen Erkrankungen des blutbildenden Systems führen.

Die Ergebnisse aus dieser Studie in einem zusammenfassenden Satz: Es gibt tatsächlich einen gentoxischen Effekt auf menschliche Zellkulturen von Mobilfunkstrahlen in der Stärke, wie sie von jedem GSM-Handy erzeugt werden.

Erste Studien bestätigt

Schon früher zeigten Tierversuche dosisabhängige gentoxische Wirkungen unter hochfrequenter Strahlung. Weiters wurden in Gehirnen von Ratten nach zweistündiger Handybestrahlung vermehrt funktionslose Nervenzellen gefunden. Zwei epidemiologische Untersuchungen zeigten übereinstimmend ein drei- bis vierfach erhöhtes Risiko für Hörnervtumoren nach zehnjähriger Handynutzung.

Mit der nun vorliegenden "Reflexstudie" wurde für alle diese Ergebnisse ein zellbiologischer Zusammenhang nachgewiesen. Erik Huber, Referent für Umweltmedizin der Ärztekammer für Wien: "Würden Medikamente dieselben Prüfergebnisse wie Handystrahlen liefern, müsste man sie sofort vom Markt nehmen."

Die Wiener Ärztekammer sieht sich daher veranlasst, die Bevölkerung zu mehr Sorgfalt im Umgang mit Mobilfunkgeräten insbesondere bei Kindern aufzurufen. Huber: "Wir müssen davon ausgehen, dass Kinder gegenüber hochfrequenter Strahlung empfindlicher sind als Erwachsene, da der Schädelknochen dünner ist und die kindlichen Zellen eine erhöhte Teilungsrate, in der sie auf gentoxische Effekte empfindlicher sind, aufweisen."

Daher habe man sich entschlossen, dem Beispiel des britischen Gesundheitsministeriums und des dänischen Gesundheitsrates zu folgen und auch in Österreich vor übermäßigem Handytelefonieren insbesondere von Kindern zu warnen.

Die folgenden Leitlinien für mobiles Telefonieren sollen laut Huber "ausdrücklich nicht nur für Kinder" gelten:

Kinder unter 16 Jahren sollten Handys nicht benutzen.
- Nur in dringenden Fällen und dann nur kurz telefonieren.

Handy in der Hosentasche und auch SMS-Versenden unter der Schulbank kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen und sollte daher gänzlich unterlassen werden.
- Beim Versenden von SMS das Handy vom Körper fernhalten.

Handy nachts ausschalten - wenn eingeschaltet, nicht in Kopfnähe aufbewahren.
- Nicht in Fahrzeugen (Auto, Bus, Bahn) telefonieren, da hier das Handy mit höherer Leistung strahlt.
- Auch Headsets sind nicht empfehlenswert, da das Kabel häufig wie eine Antenne das Signal weiterleitet.
- Keine Spiele am Handy spielen.
- Handy während des Gesprächsaufbaus nicht an den Kopf halten.

- Ein paar Meter Abstand von anderen Personen halten, sie werden mitbestrahlt.
- Weniger Handytelefonate bedeuten weniger Strahlung von Handymasten.
- Internet nur über Kabelverbindungen

- UMTS und WLAN führen zu hohen Strahlenbelastungen

Ärztekammer für Wien, A-1010 Wien, Weihburggasse 10-12,
Tel. (01) 51501-0, Fax (01) 51501-1209, www.aekwien.or.at/1964.py?Page=1&id_news=3812

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Nachrichten aus dem Eulenspiegel

Archiv Peter Schilinski
Ingo Mäder hat in den Sommerferien die Korrespondenz von Peter Schilinski aus den Jahren 1970 bis 1992 gesichtet und thematisch und personell wichtige Briefe und Briefwechsel herausgesucht und wird diese elektronisch speichern und sie später Interessierten zugänglich machen. Das kann allerdings aufgrund des Arbeitsaufwandes noch einige Zeit dauern.

„Informationssammlung für eine überlegte Impfentscheidung"
Durch Vermittlung von Ingo Mäder ist die oben genannte Broschüre, herausgegeben von Sieglinde Kaufmann, EFI-Dresden im Jedermensch-Verlag erschienen. Eine Beschreibung befindet sich im letzten „jedermensch" vom Sommer 2005.

Teilnahme am Deutschen Sozialforum 2005 in Erfurt
Die Gestaltung der Zivilgesellschaft ist ein wichtiges Anliegen des Jedermensch-Verlages. Deshalb habe ich zusammen mit Freunden der AG SPAK am Sozialforum in Erfurt teilgenommen. (Bericht in diesem Heft). Ein Büchertisch, der Besuch vieler Workshop, neue Kontakte und der Workshop mit Christoph Strawe sind die wesentliche Beiträge gewesen.

Büchertisch
Auf dem Stadtfest und dem Umsonst&Draußen-Festival in Lindau, sowie natürlich auf dem Sozialforum in Erfurt gab es den jedermensch-Büchertisch mit Bücher vom jedermensch-Verlag, attac und der ag spak.

Müller-Meier-Schmid-Kommission
Wir haben einen kleinen Film zur Trennung von Arbeit und Einkommen erstellt. Texte von Dieter Koschek, Schauspiel mit Elke Maria Riedmann, technische Realisation und Kamera Axel Kindermann. Der 20minütige Film kann für 10 € auf DVD bestellt werden

Die Welle
Dieter ist Mitglied bei der Interessengemeinschaft für Lebensgestaltung (IG) und inzwischen auch Mitglied im Vorstand, er macht dort die Buchhaltung und eine bescheidene Mitarbeit im redaktionellen Teil von „die Welle". Die Veranstaltungen des Eulenspiegel erscheinen, soweit bei Redaktionsschluss bekannt, in „die Welle". Ein kostenloses Blatt aus der anthroposophischen Arbeit am Bodensee, die die IG für Lebensgestaltung seit vier Jahren herausgibt. „Die Welle" liegt an vielen Stellen um den Bodensee aus, kann aber auch abonniert werden:
Ingrid Feustel, die auch den Eulenspiegel 1976 mitgründete, ist Redakteurin. So schließt sich hiermit auch ein Kreis.
Die Welle, Schwarzwaldweg 20,88239 Wangen, 07522-912310

Bionetz Lindau
Beim Zusammenschluss von Biobetrieben habe ich weiter mitgearbeitet. Mehrere Treffen standen an und Ende August fand die „Grüne Woche Schwaben" statt. Dort gab es den Informationsstand der Infokampagne für ökologischen Landbau, Ausschank des Biobiers der Tettnanger Kronenbrauerei und Präsentationen von Mitgliedern im bionetz. Begleitet wurde die Aktion von zwei großen anzeigen mit Texten zu Käse- und Bierherstellung sowie einem Flugblatt „Biologisch genießen am Bodensee". Dazu habe ich die Texte erarbeitet und die organisatorische Arbeit gestellt.

Wasser ist keine Ware
Wie im letzten „jedermensch" ausführlich berichtet, startete am 28. August die Wasserkarawane, die die Menschen am Bodensee sensibilisieren will für das Allgemeingut Wasser. Am 1. September fand dazu eine Veranstaltung im Eulenspiegel mit 50 BesucherInnen statt und die MarschiererInnen übernachteten im Holzhaus. Am 2. September fand eine Veranstaltung mit Jens Loewe vom Wasserforum Stuttgart zum Thema „Wasser in Bürgerhand" in Lindau statt. Ich habe dazu den Flyer vorbereitet und an etlichen Vorbereitungstreffen teilgenommen.

Dieter Koschek

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Nachrichten aus CaseCaroCarrubo, Sizilien

Eigentlich wollten wir es auf diese Ausgabe vom „jedermensch" hin schaffen, etwas ausführlicher über hier und was so in Sizilien passiert, zu berichten. Doch wieder einmal war die Zeit schneller als unser Vorhaben.

Vor längerer Zeit übergab uns Anton Kimpfler einen Artikel von Michael Hufschmid. Eine Betrachtung über die Carruba, die Frucht des Johannisbrotbaumes. Namensgeber und Hauspatron von CaseCaroCarrubo. Jetzt, wo die Früchte im Wind wie Rasseln zur Erde fallen und wir die Säcke voller Früchte haben, ist dies doch der gegebene Anlass, diese kleine Betrachtung anzuführen. Dazu muss ich sagen, dass uns ein homöopathischer Arzt von hier einmal erzählte, dass der Mensch mit Wasser und Johannisbrot vollkommen gesund ernährt ist. (Auch wenn in der Praxis diese Ernährung mit einiger Mühe verbunden wäre.)

Was hat die diesjährige Johannisbroternte neben diesem Artikel mit dem „jedermensch" zu tun?

Da klingelte das Telefon und es meldete sich die Enkelin von Peter Schilinski. Sie reist zur Zeit mit ihrem Freund über die Insel und wollte uns besuchen kommen. Wir haben uns das letzte Mal vielleicht vor zehn Jahren gesehen – damals war sie ein zehn- oder elfjähriges Mädchen. Was für eine Überraschung! Die Beiden machten ein paar Tage bei uns halt und halfen bei der Ernte. ….Und da füllten sich nicht nur Körbe und Säcke mit den reifen Früchten, sondern – interessiert, viel über den Großvater zu erfahren - auch unsere Gespräche mit Erinnerungen an Peter Schilinski. Wie war er plötzlich so gegenwärtig!

Mit spätsommerlichen Grüssen aus Sizilien
Renate Brutschin

Betrachtung zur Johannisbrotbaumfrucht

Gekrümmt wie eine Trockenbanane, wellenförmig eingefurcht, an der stärker gekrümmten Seite der länglichen, bananengroßen (aber viel dünneren) Frucht mit einem kurzen Stiel versehen, liegt eine dunkelbräunliche Frucht des Südens vor mir. Bei genauerem Hinsehen lassen sich durch die Schale hindurch querliegende Samen erahnen.

Wir haben hier einen natürlichen Darrvorgang vor uns. Nach der Blüte erfolgt keine Fruchtfleischschwellung wie etwa beim Apfel, sondern eine Trocknung wegen größerer Hitze mit Wasserentzug. Dabei zieht sich der Lebensäther in die Samen zusammen.

Beim Öffnen erweist sich die Fruchtschale zäh, aber dennoch weich. Es sind die Samen in Kammern angeordnet, durch Trennwände gegliedert, zwölf an der Zahl. Die wachsartige Beschaffenheit der Wände weist auf einen Vergleich mit der Bienenwabe hin. Auch im Bienenstock wird Leben stark konzentriert.

Auf welche Heilwirkung weist uns dies hin? Es ist eine Doppelwirkung: Innen die konzentrierte Sonnenenergie, außen das wachsartig- zähledrige Fruchtfleisch mit Schale. Der Same, mit Zimt verrieben, kann ein kakaoartiges Getränk abgeben, was die Soffwechselvorgänge von Leber und Bauchspeicheldrüse günstig beeinflusst, etwa bei Zuckerkrankheit. Aber auch ohne Zimt ist er, mit Vanillezucker versetzt und mit Sahne, gut genießbar. Für das Fruchtfleisch und die Schale bietet sich eine regenerative Belebung der Haut als Anwendungsbereich an, etwa bei Wundliegen infolge Durchblutungsstörung. Mit Wabenwachs vermahlen kann die fleischige Schale ein Wundpuder abgeben, das wärmend- einhüllend und somit hautfreundlich ist.

Als Zehrfrucht des Südens gibt das Johannisbrot eine Antwort auf den Umgang mit vertrocknend-verhärtenden Kräften: Es wehrt sich durch Innenkonzentration und lässt die Randschicht mit einer Schutzschicht gegenüber außen versehen. Vielleicht ist diese Schicht auch antibakteriell. Jedenfalls gibt die Zwölfzahl der Samen einen Hinweis auf kosmische Kräftewirkungen.

Anwendung: 1 Gramm Johannisbrotsame, 1 Gramm Zimt mit etwas Vanillezucker, bei Bedarf 1 Gramm Kakao, mit 200 ml kochendem Wasser übergiessen, Sahne und Honig dazugeben.

Michael Hufschmid

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Rudi Dutschke und Peter Schilinski

Rudi mußte etwas schreiben. Aber er kam nicht dazu, pausenlos lenkten ihn andere ab. Ich glaube nicht, daß es ein Artikel für den "konkret"-Verleger Klaus Rainer Röhl war, aber eines Tages rief dieser an: "Nimm dir ein paar Tage frei und verschwinde, wo sie dich nicht finden, und schreibe. Ich habe ein Haus in Kampen gemietet. Da können du und deine Frau hin."
„Kampen?", fragte Rudi skeptisch.
„Kampen auf Sylt. Es ist sehr schön dort an der Nordsee: Es gibt gute Luft und den Strand", sagte Röhl.
„Und die höheren Damen und Herren, Axel Springer", ergänzte Rudi.
„Es gibt da meistens nur ganz gewöhnliche Menschen, und sie werden dich nicht stören."

Wir machten Zwischenstation in Hamburg, wo wir zum ersten Mal Ulrike Meinhof begegneten, die damals mit Röhl verheiratete war. Rudi diskutierte mit Ulrike, die sich vermutlich zum ersten Mal mit der antiautoritären Linie auseinandersetzte. Die Hamburger Linksschickeria, zu der sie gehörte, bestand vor allem aus Altkommunisten.

In Kampen wohnten wir in einer roten Backsteinhütte mit Reetdach in den Dünen zwischen verwehtem Sand und knisterndem Sandgras. Ein paar Tage lang blieb es ruhig. Dann wurde Rudi entdeckt. Ein älterer Mann erschien und stellte sich als Peter Schilinski vor. Er vertrat eine anthroposophische Richtung, eine Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus. Und er arbeitete an einer Kampagne für direkte Demokratie. Seine Gruppe hatte einen Plan für eine offene Stadt West-Berlin ausgearbeitet, der in einigen Punkten Rudis Freistaatskonzept glich, was diesen neugierig machte.

Schilinski wohnte auf Sylt und organisierte wöchentlich Diskussions-Veranstaltungen. Er fragte Rudi, ob er nicht an einem solchen Gespräch teilnehmen wolle, Rudi reizte es, weil Springer einen Wohnsitz in der Nähe hatte. Damit war der Urlaub von der Politik zu Ende. Schon am Abend zog Rudi mit ein paar politischen Freunden von Schilinski los, um auf einer Klippe "Enteignet Springer" einzuritzen. Ein paar Tage später hatte Schilinski ein Flugblatt hergestellt: "Einladung, 20 Uhr, Hofbräuhaus, Westerland. Axel Cäsar Springer - Was stört uns?" Springer wurde auch eingeladen, um entgegnen zu können. Rudi war etwas nervös vor der Veranstaltung. Vor Unternehmern zu sprechen war er nicht gewohnt.

Der Versammlungsraum, eine Teestube, war gerammelt voll, und davor drängten sich die Menschen. Schilinski erinnerte sich später an diese Veranstaltung: "Was rüber kam, war der Mensch Rudi Dutschke, er erreichte den Menschen selbst im hartgesottenen Unternehmer. Nie hab ich einen Politischen erlebt, der sich so um die ihm zuhörenden Menschen bemühte wie er: Ich sehe es noch vor mir, wie er menschlich auf die blödesten Springer-Argumente antwortete, wie er einem bulligen Dicken, der empört gehen wollte, sagte, bleiben Sie doch, wir können ja noch nachher sprechen. Der Mann blieb wirklich, irgend etwas, was ganz einfach von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz ging, hatte ihn erreicht. ... Ich höre noch, wie einer unserer wütendsten Gegner in den Rundgesprächen, ein 'realistischer Manager', nicht umhin konnte, in der Runde zu sagen: `Ich verstehe den Dutschke nicht, ich bin auch weiter ein Gegner aller Linken; aber der Junge ist ein anständiger Mensch, das steht fest. Der ist anständiger als alle Politiker zusammen´."
Aus der Biographie "Wir hatten ein barbarisches,schönes Leben" von Gretchen Dutschke

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Engelkunde

Der Staatsrechtler Martin Kriele war Schüler und Herausgeber des bei Anthroposophen umstrittenen Valentin Tomberg, welcher eine Synthese von Anthroposophie mit Inhalten des Katholizismus versuchte. Ungeachtet mancher Fehler hinterließ Tomberg ein Werk eigenständiger Leistung, u.a. die "Arcana des Tarot". Martin Krieles Frau Alexa studierte Psychologie und Philosophie, und war dann als Management-Beraterin tätig, bevor sich ihr das "innere Universum" (Goethe) aufzuschließen begann. Ihre vier Bände "Wie im Himmel so auf Erden" sowie "Mit Engeln das Leben meistern" und weitere Bücher über Naturgeister können im Zusammenhang von "Neuoffenbarungen" gesehen werden, welche seit etwa Mitte der 90er Jahre im Zuge der Jahrtausendwende sich gelten machen. Dazu gehört auch der "Elfensommer" (T. Helliwell) sowie die im Flensburger Hefte Verlag erschienenen Mitteilungen "Gespräche mit Müller" und "Gespräche mit Naturgeistern", sowie die schon vorausgegangenen Schriften von Ursula Burkhardt ("Kralik" u.a.).

Für all diese Publikationen gilt wie auch schon für Rudolf Steiners nicht von ihm selbst durchgesehene Editionen, daß möglicherweise "Fehlerhaftes sich darin findet". Wer dagegen vorurteilshaft sie abzulehnen geneigt ist, muß eventuell auch "hinnehmen, daß sich Richtiges darin findet": "Im Innern ist ein Universum auch" - teilte Goethe mit, und zwar ebenfalls durchaus aufgrund von eigener Erfahrung. Wer Erfahrungen dieser Innenwelt hat, durchläuft meist einen schweren Prozess inneren Ringens, bevor er sich entschließt, diese Erfahrungen der Öffentlichkeit und sich damit der Kritik preiszugeben. So wollen diese Mitteilungen auch behutsam und respektvoll aufgenommen werden, im Sinne des "Prüfet alles - und das Beste behaltet!" Eine a-priori-Verurteilung schließt den Zugang von vorneherein aus.

Dabei sollten Mitteilungen übersinnlicher Verhältnisse dem Menschen nicht so fremd sein, wie er meist behauptet. Jeder, der etwa als Schüler einmal in Aufregung und mit klopfendem Herzen kurz vor der Begegnung mit einer respektablen oder geliebten Person gestanden hat, hatte damit ein übersinnliches Erlebnis. Ähnliches gilt für Phänomene wie kreislaufbedingtes "Sternchensehen" oder Deja-vu-Erfahrungen.

Alexa Krieles "Engelkunde" ist nach ihrer Aussage von Engeln selbst (und verschiedenen Mittlern) gegeben worden, sie selbst versteht sich lediglich als "Dolmetscherin". Ein Ringen um Objektivität ist durchweg spürbar, ebenso wird stets an die eigene Urteilskraft und Erfahrung appelliert. So gesehen kann an der Authentizität der Engelmitteilungen kein Zweifel bestehen, obwohl der interpretatorische Einfluss von Tomberg unübersehbar und wohl durch Martin Krieles Vorgeschichte geprägt ist. Die meisten Darstellungen sind mit der Anthroposophie Steiners kongruent, jedoch aus lebendiger Erneuerung gegeben. Fragestellungen sind vielfach religiöser Natur und die Pflege eines stark meditativ-religiös orientierten Lebens wird stark angeregt. In ausführlichen Einführungen und Nachworten wird allerdings auch auf das wissenschaftliche Bewußtsein und dessen Voraussetzungen eingegangen und dies in Beziehung zu dem Mitgeteilten gestellt. Inhaltlich fühlt man sich zuweilen an Paracelsus, Hildegard v. Bingen, Jakob Lorber, Jakob Böhme oder Dionysius Areopagitas erinnert, dessen Aufbau des Engelhierarchiensystems ausführlich erläutert und bestätigt wird. Welche Aufgabe die einzelnen Engelhierarchien ausüben, wieso "Gott" das Elend der Welt bestehen läßt und nicht eingreift, wie die "Hölle" zu denken ist und derlei wesentliche Fragen werden umfangreich abgehandelt. Vielfach werden auch historische Personen von den Jüngern über Bach und Mozart bis zu Hitler gestreift und gleichsam "von innen her" besprochen. Auch bezüglich gegenwärtiger Wirtschaft und Politik wird kein Blatt vor den Mund genommen. Die freimütige, ehrliche und für die Autoren dabei nicht immer risikolose Äußerungsform kann dabei als echt und Weitergabe wirklicher Inspiration erlebt werden.

(Alexa Kriele, "Wie im Himmel so auf Erden", 4 Bände, je ca. 24,- €, 300-350 Seiten, Christa Falk Verlag Seeon. Bd. 2 derzeit vergriffen)

Andreas Pahl

"Was am Menschen das Wertvollste ist, kann ihm weder gegeben, noch genommen werden." (Seneca)

"Kein Mensch kann so schlecht sein, daß er nicht noch als schlechtes Beispiel dienen kann." (Volksmund)

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