jedermensch
 

Jedermensch

Zeitschrift für soziale Dreigliederung,
neue Lebensformen und Umweltfragen

Herbst 2007 - Nr. 644
Freie Erziehung und Kultur

Inhalt

Die folgenden Beiträge und etliches darüber hinaus finden Sie in unserer neuen Ausgabe:

Freie Medien brauchen einen Kulturrat

Im letzten „jedermensch" haben wir einen Blick auf die Medien und Technikwelt geworfen und in erster Linie beim Fernsehen kamen wir zu einem vernichtenden Blick. Der alte Spruch der Spontis: „Wo nichts läuft, läuft der Fernseher" kann heute immer noch die Wahrheit beanspruchen.

G 8 Gipfel Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte

Ihr seid auch herausgefordert
Aus der Abschlussrede des G8-Alternativgipfels am 7. Juni 2007 von Vandana Shiva

Antworten für Fanatiker von Bertrand Russel

Nur Abschalten schafft Vertrauen
Jetzt will Vattenfall alles besser machen. Der krisengeschüttelte Konzern hat seinen Vorstandschef Klaus Rauschner geschasst und will so einen "Neuanfang" starten und "Vertrauen zurückgewinnen". Doch als Befreiungsschlag taugt dieser Personalwechsel nicht. aus der taz

Afghanistan: Raus aus der militärischen Sackgasse!
Direkt nach den Anschlägen vom 11.9.2001 haben die USA und ihre Verbündeten Afghanistan angegriffen. Erstmals in ihrer Geschichte rief die NATO den Bündnisfall aus. Die Friedensbewegung will mit einer Kampagne den Bundestag dazu bewegen, die Ende September anstehende Verlängerung der Bundeswehr-Mandate für Afghanistan zu verweigern. Wir legen im Folgenden Argumente gegen die Verlängerung der Militäreinsätze und mögliche Alternativen dar.

Soziales Erfindertum
Den Beitrag von Anton Kimpfler können Sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Rüstzeug einer Erziehung mit Zukunft von Pietro Archiati

Kein Wissen ohne Unterricht
Zu wissen heißt, zu erkennen, welche Bedeutung vor dem Maßstab der Fragen einzelnen Antworten zukommt; zu wissen heißt, zu verstehen, warum gewisse Fragen gestellt werden; zu wissen heißt, zu wissen, was überhaupt Gegenstand eines Wissensbereiches ist.

Was gehört zu einem freien Kulturleben?
Alles, was Menschen schaffen und geschaffen haben, entspringt dem Geistesleben. Aus den Gedanken Einzelner sind Weltanschauungen, Erfindungen, Staatsgefüge, Religionsgemeinschaften, Industrien genauso entstanden wie handwerkliche und andere Leistungen. Auch im persönlichen Leben entscheiden Gedanken über dasjenige, was ein Mensch als Lebensziel, als Beziehung zur Gemeinschaft, zur Familie und zur Umwelt überhaupt erkennt und anstrebt. Diese Tatsachen brauchen nur gesehen zu werden, um die überragende Bedeutung des Geisteslebens zu erkennen. von Peter Schilinski

Waldorfpädagogik und Staatsschule
Als mich Heinz Buddemeier fragte, ob ich die Endphase des Projektes "Elemente der Waldorfpädagogik in der staatlichen Grundschule" in Bremen erziehungswissenschaftlich beraten und begleiten würde, sagte ich spontan zu. Denn dieses Projekt könnte ein Beitrag sein zum Durchbruch einer pädagogischen Schulreform in Deutschland. von Peter Schneider

Aus der Arbeit der Freien Initiative:
Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen von Barbara Buddemeier

Vom Korn zum Brot
Eine der schönsten Unterrichtseinheiten der Grundschulzeit ist in der dritten Klasse das Thema „Vom Korn zum Brot". von Frauke Wöltjen

Der neue Rütli-Brief aus der taz

Zusammenleben lernen
Jürgen Kaminski zu Verleihung des Pestalozzi-Preises

Freie Interkulturelle Waldorfschule
Alle Kinder, egal welche Hautfarbe sie haben, welcher Nationalität, Religion oder sozialer Schicht sie auch angehören, sollen die Möglichkeit einer Bildung erhalten - das ist die Idee von Christoph Doll und sei­nen Kollegen. Waldorfpädagogik mitten im sozialen Brennpunkt

Gegen die Benachteiligung
Wir, meine Frau und ich, können uns nicht Anthroposophen nennen, aber wir haben als Eltern einer Waldorfschülerin eine zwölfjährige Erfahrung mit der Waldorfschule und mit der Waldorflehre aus einemBrief von Martin walser

Identität und Ichheit oder: “Zwischen Bauchnabel und Pupille”
Der Mensch ist ein werdendes Wesen und ist dort am meisten Mensch, wo er sich am besten in den “Zustand” des Werdens versetzen kann – oder darin belassen wird, es ihm vergönnt wird, darin zu sein. von Andreas Pahl

Gedanke und Gefühle der Menschen
Bei den einen sieht es so aus, als würde ihnen in einer gewissen Selbstverständlichkeit zu den Gefühlen, die sie in sich erleben, auch beinahe gleichzeitig die genau diesen Gefühlen entsprechenden Gedanken kommen, und bei anderen hat man den Eindruck, dass die gedankliche Seite ihres Wesens beinahe unbesetzt bleibt.
von Peter Schilinski

Anthroposophie & jedermensch: Bedrängte Jugend, anders geforderte Erwachsene
Den Beitrag von Anton Kimpfler können Sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

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Freie Medien brauchen einen Kulturrat

Im letzten „jedermensch" haben wir einen Blick auf die Medien und Technikwelt geworfen und in erster Linie beim Fernsehen kamen wir zu einem vernichtenden Blick. Der alte Spruch der Spontis: „Wo nichts läuft, läuft der Fernseher" kann heute immer noch die Wahrheit beanspruchen. Und heute mehr denn je, den die Kommerzialisierung der Fernsehens lässt nichts aus. Werbung, Filme nach Werbung gedreht, Absetzung von Filmen nach Einschaltquoten (die für die Anzeigenpreise wichtig sind). Das Gefühl, dass der Neoliberalismus das Fernsehen zerschlagen hat, indem er es vervielfältigt und verflacht hat, ist unübersehbar.

Sat-Schüsselbesitzer können ein Lied davon singen. Es gibt Sender wie Sand am Meer. – Nur ist damit eine Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit gegeben? Mir scheint es eher so zu sein, dass die vielen Sender ein Produkt der Industrie sind: Werbesender und Abzocksender sind die Spitze des Eisbergs, aber unter der normalen Oberfläche spielt sich sogar in den öffentlich-rechtlichen Sendern der Kampf um die Einschaltquote und damit um die Werbekunden die eigentliche Rolle. Kritische Sendungen sind bereits Mangelware, oder kommen nur spät in der Nacht zur Schlafenszeit. Und selbst da, wo der Staat etwas für die Meinungsvielfalt tun will scheint sich so etwas wie Vetterlswirtschaft abzuzeichnen.

Roger Schawinski, der ehemalige Geschäftsführer von Sat.1, beschwert sich in seinem Buch "Die TV-Falle" im Kapitel "Lizenz zum Gelddrucken" über Drittsendeverpflichtungen und Regionalfenster. Das Privatfernsehen muss laut Rundfunkstaatsvertrag, sobald ihre Sendergruppe 10 Prozent des Zuschauermarktanteils erreicht, unabhängigen Dritten einen Teil ihrer Sendezeit für Fensterprogramme zur Verfügung stellen. Sat.1 und RTL etwa sind betroffen. Das passt ihnen natürlich nicht....Schawinskis Vorwürfe werden allerdings relevanter. Er schreibt, die medienpolitischen Ziele, die durch Drittsendeverpflichtungen und Regionalfenster erreicht werden sollen, würden durch die Realität ad absurdum geführt. Er schreibt von einem Klüngel: Es würden medienpolitische Geschenke an regierungstreue Fernsehunternehmer gemacht; er spricht von "staatlich gesicherten Pfründen"...."Keine Stellungnahme." Das ist die Reaktion der Betroffenen. (siehe taz vom 4.9.2007)

Mathias Greffrath schreibt in Le Monde diplomatique vom Juli 2007 :

„Eine konsequente Entkommerzialisierung der öffentlichen Anstalten, ein Verzicht auf Werbung, eingetauscht gegen den Verzicht der Medienunternehmen auf ihre Attacken gegen die ‚Zwangsgebühren’; eine verfassungsrechtliche Garantie für das öffentliche Rundfunksystem, gegebenenfalls dessen Steuerfinanzierung; vor allem aber eine Entfernung der Parteien aus den Aufsichtsgremien - dies alles und noch mehr könnte das ‚professionelle Selbstverständnis eines unabhängigen Journalismus’ wieder entfesseln.

Die Parteien werden solchen Machtverzicht nicht freiwillig leisten. Aber wie wäre es mit einem kraftvollen Masterplan zum demokratischen Relaunch, vorgelegt von den unkündbaren Lokomotivführern in den Anstalten? Mit paritätischer Mitbestimmung der Journalisten in den parteifreien Rundfunkräten, renommierten und ausstrahlenden Journalistenschulen der ARD, wirksamen Redaktionsstatuten, anständigen Frequenzen für den nationalen Hörfunk? Es gäbe hundert Ideen, deren Verwirklichung keine Marktrücksichten zu nehmen hätte.

Vor allem aber sind die Öffentlich-Rechtlichen der wirksamste und letzte Hebel der Politik, um im Internet die Machtergreifung durch kommerzielle Interessen wenigstens einzugrenzen. Ein Blick auf die gute alte BBC lehrt, was nötig wäre: Die Anstalt stellt gerade die Schätze ihrer Archive und ihre professionell recherchierten aktuellen Sendungen kostenlos in die neuen jugendnahen Internetplattformen und fischt damit Zuschauer und Hörer.

Bei der ARD wird derzeit nicht mal ein Prozent des Gebührenaufkommens für die Netzprogramme eingesetzt. Angesichts der Medienpräferenzen der jüngeren Generation ist das mehr als grob fahrlässig. Doch welche demokratischen und kulturellen Chancen hätte die marktunabhängige ARD, würde sie das duale System von bürgergesellschaftlicher und kommerzieller Publizistik und Kultur, das auf dem Markt von Print und TV seit einem Vierteljahrhundert schwer gestört ist, im Netz neu etablieren! "

Deutschland ist ein großes Land. So groß, dass ich nicht in der Lage bin, zu überblicken, was sich kritisches in der Kunst und Kulturszene tut und kann nicht sagen, ob es irgendwelche relevanten Bewegungen gibt, die die von Greffrath geforderten Veränderungen weiterverfolgen.

Vielleicht sollte Deutschland dem Beispiel Österreich folgen, wo es einen Kulturrat gibt . Wofür steht der Kulturrat Österreich? Aus der Selbstdarstellung: „Der Kulturrat Österreich ist der Zusammenschluss der Interessenvertretungen von Kunst-, Kultur- und Medienschaffenden. Der Kulturrat Österreich ist eine Plattform für gemeinsame kulturpolitische Anliegen und Ziele. Er vertritt diese gegenüber Politik, Medien und Verwaltung durch aktive Einflussnahme auf alle im Sinne der Interessen und Aktivitäten der Mitglieder relevanten Entscheidungsprozesse. Die Vertretung in öffentlichen Körperschaften, Institutionen, Beiräten etc. sowie Wahrnehmung eines allgemein politischen, insbesondere kulturpolitischen Mandats ist hierfür unerlässlich.

Differenzierte Positionen und Inhalte finden im Kulturrat Österreich eine Plattform, die kultur-, bildungs-, medien- und gesellschaftspolitische Debatten eröffnet, fördert und öffentlich macht. Damit unterstreicht der Kulturrat Österreich die Bedeutung von Meinungsvielfalt und emanzipatorischer Teilnahme an Kunst und Kultur als kulturpolitisches Prinzip.

Der Kulturrat Österreich ist eine Schnittstelle zu europäischen und globalen Allianzen und Netzwerken. Er nimmt aktiv an der Gestaltung internationaler kulturpolitischer Meinungsbildung und Strategien teil."

Einen solchen Kulturrat braucht auch unsere Republik.

Auch im Zeitungswesen gibt es kaum noch eine anzeigenfreien Zeitung, wo die Unabhängigkeit gewährleistet ist. Anzeigenkunden sind für redaktionelle Arbeit immer eine Gefahr. Doch selbst Alternative Printmedien, insbesondere Zeitungen und Zeitschriften, spielen für die Information der breiten Öffentlichkeit weniger eine Rolle, ihre Bedeutung liegt mehr in der internen programmatischen Debatte der einzelnen Gruppierungen und Bewegungen. Die taz ist heute, obwohl durchaus angepasster wie zu ihrer Gründungszeit, neben einigen linken ideologischen Zeitungen, die Einzige, die über Soziale Bewegungen etwas berichtet und auch kritische Stimmen zu Wort kommen lässt.

Es gibt aber heute eigentlich keine nicht verbreiteten Nachrichten mehr und das ist dem Internet zu verdanken, denn dort kann jeder und jede ihre Informationen weiterverbreiten. Man muss halt danach suchen.

In der AG SPAK ist 2006 ein Verzeichnis der Alternativmedien erschienen. Damit liegt nach 15 Jahren mit diesem Buch wieder ein öffentlich zugängliches und gedrucktes Verzeichnis der alternativen Printmedien vor.

Doch der Herausgeber Bernd Hüttner schreibt im Vorwort: „dass es derzeit keine weitergehende Beschäftigung mit alternativen Printmedien gibt – weder in der Wissenschaft, noch in den alternativen Printmedien selbst. Akademische Forschung und andere Auseinandersetzungen widmen sich eher den emanzipatorischen Möglichkeiten des Internet und anderer elektronischer Kommunikationsmittel. Was überhaupt heute alternative Printmedien sind, welche Bedeutung sie für Selbstverständigungsprozesse der (neuen) sozialen Bewegungen und das Erreichen einer größeren Öffentlichkeit spielen, scheint nirgendwo weitergehend reflektiert zu werden." (Bernd Hüttner, Verzeichnis der Alternativmedien 2006/2007, AG SPAK Bücher, Neu-Ulm).

Dieter Koschek

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G 8 Gipfel Demonstrationsbeobachtungen des Komitee für Grundrechte

• Bürger und Bürgerinnen nehmen sich ihr Recht auf Versammlungsfreiheit: Die folgenden Blockadetage – Mittwoch und Donnerstag (6./7. Juni 2007) – haben dann gezeigt, mit welcher Disziplin und Konsequenz, mit wie viel Phantasie und unbedingtem Willen dieser Protest sich auszudrücken vermag. In die Demonstrationsverbotszone der Allgemeinverfügung wurde eingedrungen, vor dem Zaun und den Toren jedoch halt gemacht. Es ging nicht um eine Stürmung des Zauns, sondern um einen sichtbaren Protest an Orten, an denen er öffentlich wahrgenommen werden kann. In körperlich anstrengenden Märschen durch Weizenfelder und über Wiesen, sich aufteilend und wieder zusammenfindend, wurden die Polizeiabsperrungen umgangen. Gegen diese Gruppen, die nichts als ihren Körper und ihren Willen zur Demonstration einsetzten, wurden mehrfach Wasserwerfer und sogar Gaspatronen eingesetzt. Hunde wurden aufs Feld geführt. Auf den angestrebten Straßen angekommen, konnten die Demonstrierenden sitzend blockieren – immer mal wieder aufgeschreckt vom unkommentierten martialischen Auftreten der Polizei.

• Verbote und Einschreiten mit polizeilichen Gewaltmitteln oder Gewährenlassen nach polizeilichem Gutdünken: Zwei Sitzblockaden konnten Donnerstag bestehen bleiben, ein ungehinderter Zugang war möglich, und der weitere Weg oder der Zaun wurden nur von wenigen Polizisten gesichert. So wenig polizeilicher Aufwand ist also notwendig, wenn Demonstrationen möglich sind! Dagegen rüstete die Polizei rund um das westliche Eingangstor martialisch auf. Die Polizei hatte die Straße besetzt, die Demonstrierenden befanden sich auf einer großen Wiese nebenan. Ohne konkrete Aufforderungen oder polizeiliche Ansagen wurden letztlich neun Wasserwerfer gegen die ca. 1.000 Demonstrierenden auf der Wiese eingesetzt. Eine Reihe von Verletzungen wurde so verursacht. Die Ansage nach mehrfachem Wasserwerfereinsatz „Bleiben Sie ruhig, wir verschaffen uns nur ein bisschen Platz" kann nur als zynisch verstanden werden. Flaschenwürfe gegen diesen Einsatz – vor allem von Plastikflaschen – waren wohl auch hier willkommene Anlässe zum Videographieren von „Tätern", die dann wiederum eskalierend aus Versammlungen herausgegriffen werden können.

• Auch die Medienvertreter und - vertreterinnen versuchte die Polizei ihren jeweiligen Interessen gemäß zu behandeln. Zumindest in entspannten Situationen durften sie sich ungehindert bewegen. In anderen Situationen wurden jedoch Kameraobjektive zugehalten. Als Sonntag, 3. Juni 2007, beim Aktionstag „Globale Landwirtschaft" der „Verdacht" bestand, ein Journalist hätte möglicherweise bei einer kleinen Protestaktion ein Foto gemacht, das die Polizei als Beweis nutzen könnte, sollte dieses sofort der Polizei „überlassen" werden. Erst deutlicher Protest gegen eine solche Beschlagnahme konnte dies verhindern. Donnerstag wurden die MedienvertreterInnen zwischen den ca. 1.000 Demonstrierenden auf der Wiese am Westtor gar aufgefordert, den Bereich zu verlassen. Sie hätten jetzt letztmalig die Gelegenheit, durch die Polizeikette auf die Straße zu gelangen. Anderenfalls gefährdeten sie sich und die Polizeiarbeit! Eine solche unverhohlene Drohung, die an Nötigung grenzt, gegenüber Medienvertretern, die ihrer Aufgabe der Berichterstattung nachgehen wollen, macht deutlich, wie selbstverständlich die Polizei jede öffentliche Kontrolle ihrer Arbeit zu verhindern sucht... Viele weitere Beobachtungen von Situationen und Entwicklungen werden wir in den nächsten Wochen zusammentragen und aus diesen Mosaiksteinchen das Bild von dieser Woche genauer zeichnen.

Schon jetzt ist festzuhalten, in welchem Maße das polizeiliche Vorgehen auf Eskalation angelegt war und nur aufgrund des deeskalierenden und besonnenen Verhaltens des weitaus größten Teils der Demonstrierenden auf wenig Resonanz stieß.

Die Polizei betreibt – gemeinsam mit BKA und Verfassungsschutz – zunehmend eine eigene Politik, die beängstigend ist, behält man Grundgesetz, die garantierten Grundrechte und die demokratische Verfasstheit im Auge. Sie schafft mit Fehlinformationen und grundrechtlich nicht legitimierbaren Aktionen und Eingriffen eine Lage, in der sie im selbst geschaffenen Ausnahmezustand gemäß ihrer unüberpüfbaren Kriterien agieren kann – z.B. Sitzblockaden hoheitlich zulassen oder Versammlungen mit (Wasserwerfer-)Gewalt und ohne Kommunikation auflösen. Die Kontrolle über die exekutive polizeiliche Gewaltausübung droht in solchen Ausnahmesituationen zu entgleiten. Voraussetzung hierfür sind eine Öffentlichkeitsarbeit, die polizeiliche und geheimdienstliche Erkenntnisse behauptet, ohne sie zu belegen, oder die nach den Auseinandersetzungen am Samstag, 2. Juni 2007, von 10 (oder gar 30) Schwerverletzten berichtet und erst später, auch nach der Bestätigung der Allgemeinverfügung durch das BVerfG, zugibt, dass nach den offiziellen Kriterien nur zwei Beamte schwer verletzt wurden, also stationär behandelt werden mussten. Auch diese konnten nach zwei Tagen das Krankenhaus verlassen. Diese Öffentlichkeitsarbeit schafft – das konnte in vielen Gesprächen mit PolizistInnen beobachtet werden – auch innerhalb der Polizei eine Stimmung, die die Gewaltbereitschaft der einzelnen PolizistInnen heraufsetzt.

Vor allem aber ist es die Öffentlichkeit, die systematisch getäuscht wird, wenn z.B. berichtet wird, in der Versammlung „Flucht & Migration" seien gewaltbereite Autonome gewesen. Auch die Behauptung, die Clownsarmee hätte ihren Wasserpistolen Säure beigemischt, konnte nur durch Recherchearbeit widerlegt werden – tatsächlich hatten statt der behaupteten größeren Zahl zwei Polizeibeamte auf die Seifenblasenlauge allergisch reagiert. Dieser Fehlinformation der Öffentlichkeit entspricht auf der anderen Seite die Nicht-Kommunikation mit den Demonstrierenden. Sie wurden meist nicht über Forderungen und polizeiliche Maßnahmen informiert, sondern begegneten einer wortlosen Gewaltdemonstration, von der man nie wusste, wann und ob sie eingesetzt wird. Wer dann aber eine Blockade freundlich auffordert, die in der Blockade eingeschlossenen

Polizeifahrzeuge durchzulassen (Donnerstag, 7. Juni 2007, auf der Straße vom Westtor nach Steffenshagen) – bleiben Sie ruhig, wir planen jetzt keine Maßnahme gegen Sie –, das Entgegenkommen dann aber nutzt, um sofort hinterher zu räumen und Räumpanzer für die Holzblockaden hineinzuführen, darf sich nicht wundern, wenn diese Jugend vor allem eines lernt: Wenn diese Polizei dann doch einmal kommuniziert, darf man ihr auf keinen Fall trauen.

Elke Steven

(Auszüge aus dem Bericht in Informationen 4/2007) Kontakt: Komitee für Grundrechte und Demokratie Aquinostr. 7-11 50670 Köln, Tel. 0221 / 97269-20 Fax 0221, /97269-31  info@grundrechtekomitee.de www.grundrechtekomitee.de

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Ihr seid auch herausgefordert

Aus der Abschlussrede des G8-Alternativgipfels am 7. Juni 2007 von Vandana Shiva

Kurz bevor ich hierher kam, reiste ich durch Teile Indiens. Wir hatten reiche Böden, als die Baumwoll-Kultivierung begann und Baumwolle der Welt zum Geschenk gemacht wurde, aber heute begehen die Bauern zu Tausenden Selbstmord.

Ich war dort, um Saatgut zu vertreiben, denn als ich letztes Jahr in die Gegend reiste, wurde klar, dass einer der Gründe für die Verzweiflung der Bauern ist, dass Monsanto dafür gesorgt hat, dass sie keine Samen mehr übrig haben und die Bauern jedes Jahr wieder Saatgut der Marke GNBT zu hohen Kosten kaufen müssen. Natürlich glauben die Bauern, dass sie die Wahl haben, weil sie 20 verschiedene Markennamen bekommen; sie haben keine Ahnung, dass jede dieser 20 Firmen von Monsanto lizensiert ist. 95 Prozent der gentechnisch veränderten Saaten, die heute in der Welt verkauft werden, stammen von Monsanto. ...

Und ich denke an die Situation der Bauern von Indien, die über Nacht in solcher Bedrängnis waren – vor zehn Jahren konnten sie für ihren Lebensunterhalt aufkommen und ihre Kinder ins College schicken. Die Hälfte der Leute, die heute im Silicon Valley sitzen waren Kinder von Bauern. Meine Mutter war eine Bäuerin und schickte mich auf die besten Schulen und Colleges in England. Heute kann ein Farmer kaum überleben. ...

Wir haben einen sehr alten Text – er muss 2000 Jahre alt sein – der Isopanishad, und darin steht: „Ein selbstsüchtiger Mann, der die Ressourcen der Natur zur Befriedigung seiner stets wachsenden Bedürfnisse überbeansprucht, ist nichts als ein Dieb."

Denn Ressourcen zu benutzen, welche die eigenen Leute brauchen, heißt Ressourcen nutzen, auf die andere ein Anrecht haben, inklusive zukünftiger Generationen.

Novartis versucht, die indischen Gesetze abzuschaffen, die uns erlauben, generische Medikamente für die Welt herzustellen. Wir produzieren 70 Prozent der generischen Medikamente auf der Welt, auch für die Vereinigten Staaten. Novartis wäre gerne der Monopolverkäufer für Krebsmedikamente – es ist ein bestimmtes Arzneimittel namens Glivec – und möchte das Recht, es in verschiedenen Formen zu verkaufen und es eine Erfindung zu nennen.

Was noch schlimmer ist und was ich bekämpfe: Monsanto stiehlt die Gene für Dürreresistenz und Salzverträglichkeit die unser Saatgut hat, damit sie sie patentieren können für die Folgen des Klimawandels.

Denn Klimawandel bedeutet mehr Dürren, mehr Überschwemmungen. Haben sie bemerkt, dass gestern der Oman Überschwemmungen hatte, die Wüste hatte Überschwemmungen und Wirbelstürme. Wir brauchen diese Artenvielfalt, um mit dem Klimawandel zurecht zu kommen.

Monsanto hätte gerne das Monopol über diese Vielfalt, um Geld zu verdienen, während Menschen durch den Klimawandel sterben. Das Gleiche mit Wasser: Die größten Wasserunternehmen der Welt – Suez, Vivendi, Bechtel, RWE – möchten das Wasser der Welt privatisieren. Suez versucht, die Wasserversorgung von Delhi zu privatisieren.

Zwischen 2002 und 2005 haben wir eine Wasser-Demokratie-Bewegung aufgebaut. Als Paul Wolfowitz auf seine erste Reise nach Indien kam, haben wir – eine riesige Versammlung von Frauen, Gewerkschaften, alle zusammen arbeitend - ihm gesagt: Unser Wasser ist nicht zu verkaufen, es ist keine Ware. Dieses weltbankgesteuerte Projekt zur Wasserprivatisierung wurde abgelehnt durch die Mobilisierung der Bürger.

All diese Ressourcen sind Artenvielfalt, unser Saatgut, unser Wasser, unsere Luft sind Gemeingüter, die wir teilen, Gemeingüter, die wir schützen müssen.

Ich glaube, das ist der wichtigste ökonomische Kampf, das ist die wichtigste Friedensfrage, das ist die wichtigste Nachhaltigkeitsfrage. Die Luft, unser ultimatives Gemeingut, jeder Atemzug, der dich mit mir verbindet, der uns mit den Bäumen und Pflanzen und den Ozeanen verbindet, wurde bereits zweimal privatisiert. Sie wurde privatisiert als die Fossile-Brennstoff-Industrie, die Autoindustrie, die Airline-Industrie, die Agrarindustrie Treibhausgase pumpte ohne um Erlaubnis zu fragen. ...

Ich glaube wirklich, die Frage heute, die Frage der Solidarität, die Frage der Gerechtigkeit, die Frage der Nachhaltigkeit ist, wie können wir Generationen in der Zukunft haben, denen wir die wertvollen Ressourcen dieses Planeten übergeben können. Und um das zu können, müssen wir die Regeln herausfordern, die die Mächtigen machen. Wir werden die Regeln für Patente herausfordern müssen.

Gandhi hat uns eine enorme Inspiration hinterlassen. Die Briten wollten das Salz monopolisieren, damit sie größere Kanonen kaufen können um die Inder zu erschießen. Er ging zum Strand, hob das Salz auf und sagte: "Die Natur gibt es umsonst, wir brauchen es für unser Überleben, wir werden damit fortfahren, unser Salz herzustellen." Er bezwang die Salzgesetze und – ich weiß nicht, wie vielen von euch dies bewusst ist - vor hundert Jahren, am 11. September, verweigerte Gandhi und andere in Südafrika die Regeln der Apartheid zu befolgen. Sie weigerten sich, Identitätsabzeichen zu tragen, die sie auf der Basis von Rasse kennzeichnen würden, sie sagten: "Wir sind eine normale Bürgerschaft". Das war der erste Satyagraha, wie sie es nannten, der Kampf für Wahrheit. Heute ist der Kampf für Wahrheit zum Kampf für die Zukunft des menschlichen Lebens auf der Erde geworden.

Seit den frühen 90ern, als Aktiengesellschaften dachten, sie hätten das Recht, das Leben auf diesem Planeten zu ihrem Eigentum zu erklären, und die G8-Institutionen für sie gemacht wurden, haben wir die Verpflichtung zu sagen: Wir werden niemals diese perversen Gesetze befolgen. Denn wir werden nicht erlauben, dass das Aufbewahren von Saatgut und das Teilen von Samen zum Verbrechen erklärt wird. Das ist unsere Pflicht! Wir werden nicht die Privatisierung von Wasser erlauben, wir werden es nicht in unserem Verstand erlauben, wir werden es nicht in unseren Gemeinschaften erlauben. Wasser ist eine gemeinsame Ressource, wir werden es beschützen und teilen.

Und letztlich die Luft, an die der Klimawandel gebunden ist: Wir können so leben, ohne die Atmosphäre mit unserer Verschmutzung zu überlasten. Unsere Nahrung muss nicht jeden Tag tausende von Meilen reisen. Wir müssen nicht in langweiligen Jobs herumschwirren, zum anderen Ende des Planeten flüchten, wo die Dinge noch nicht zerstört wurden – um sie zu zerstören. ...

Ökologische, lokale Nahrungssysteme sind eine Lösung für den Klimawandel, eine Lösung für die Agrarkrise und eine Lösung für die schlimme Lebensmittelseuche, die sich über den Planeten verbreitet hat. Durch organische Landwirtschaft wird das Leben der Böden regeneriert.

Der Erdboden ist der ultimative, vergessene Teil unseres Lebens. Wir müssen uns auf die Erde zurückbesinnen. ... Was wir brauchen sind Ökonomien der Fülle, damit alles Leben wachsen kann. ...

Wir könnten morgen chemische Dünger weglassen und hätten mehr Ernährungssicherheit auf dem Planeten. Wir könnten morgen gentechnisch veränderte Organismen weglassen und hätten mehr Artenvielfalt und Nahrungssicherheit auf dem Planeten. Und das sind die Fragen, die uns verbinden. Wenn wir an Wasser und Artenvielfalt und die Luft als unsere Gemeingüter denken, gibt es keinen reichen Norden und keinen armen Süden mehr. Da ist ein reicher Süden und ein verarmter Norden. Und wir müssen uns noch einmal ins Gedächtnis rufen, dass die natürlichen und sozialen Ökonomien des Südens verwüstet …. wurden, und dort jetzt die Lektionen gelernt werden müssen, wie man Nahrung ohne fossile Brennstoffe anbaut, wie man Gebäude baut, ohne die Berge zu plündern und wie man Mobilität erreicht, die nicht zu einem Fluch für den Planeten wird.

Und natürlich werden wir unsere Freiheit neu erfinden müssen, wie ich bereits erwähnt habe. Gandhi hat uns dieses unglaublich brillante System der wahren Verteidigung der Freiheit gegeben.

Wenn Gesetze gemacht werden, um den Menschen die Freiheit zu nehmen, ist der einzige Weg, um frei zu bleiben, diese Gesetze zu brechen. Martin Luther King musste es tun, Gandhi musste es tun, wir müssen es tun.

Und je gewaltfreier wir es tun, je solidarischer wir es tun, je mehr Mitgefühl wir dabei zeigen, desto stärker werden wir sein, um diese Ökonomie von Diebstahl und Krankheit und Monopolen und Vernichtung umzustürzen und stattdessen Ökonomien und Demokratien zu errichten, die allen Land garantieren…

Wenn es uns nicht gelingt, unsere Landwirtschaft und unsere Nahrung von gentechnisch veränderten Organismen (GMOs) frei zu halten, werden wir niemals in der Lage sein, irgend eine andere Freiheit zu verteidigen. Wir werden unsere letzte Chance, unsere Freiheit zu verteidigen, verloren haben. Und deswegen reise ich durch die Dörfer, wo gentechnisch veränderte Baumwolle inzwischen 90 Prozent der Baumwolle ausmacht. ... Wir werden es umkehren. Samen um Samen, Hof um Hof, werden wir eine ökologische und artenreiche Landwirtschaft wieder aufbauen, die unseren Boden nährt und unsere Farmer ernährt und nicht diesen Genozid erzeugt, dessen Zeuge wir gerade sind.

Aber ihr seid auch herausgefordert. Die Firma Monsanto schaut sehnsüchtig nach dem europäischen Markt. Bisher habt ihr sie herausgehalten. Die Bürgerbewegung und die Aktivitäten der Regierungen für ein GMO-freies Europa muss stärker werden. ...

Transkription und Übersetzung Christine Heyduck

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Antworten für Fanatiker

1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiss.

2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn eines Tages kommen die Fakten bestimmt ans Licht.

3. Versuche niemals, jemanden am selbständigen Denken zu hindern, denn das würde dir gewiss gelingen.

4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehegatte oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit Autorität, denn ein Sieg, der von Autorität abhängt, ist unrealistisch und illusionär.

5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Falle auch Autoritäten, die gegenteiliger Ansicht sind.

6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich.

1. 4. Fürchte dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heute gängige Meinung war einmal exzentrisch.

7. Freue dich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung, denn wenn dir Intelligenz soviel wert ist, wie sie dir wert sein sollte, dann liegt im erstgenannten eine tiefere Zustimmung als im letztgenannten.

8. Befleißige dich peinlich der Wahrheit, selbst dann, wenn sie nicht ins Konzept passt; denn es passt noch viel weniger ins Konzept, wenn du versuchst, sie zu verbergen.

9. Beneide nicht das Glück derer, die in einem Narrenparadies leben, denn nur ein Narr kann das für Glück halten.

Bertrand Russel, 1951

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Nur Abschalten schafft Vertrauen

Jetzt will Vattenfall alles besser machen. Der krisengeschüttelte Konzern hat seinen Vorstandschef Klaus Rauschner geschasst und will so einen "Neuanfang" starten und "Vertrauen zurückgewinnen". Doch als Befreiungsschlag taugt dieser Personalwechsel nicht. Der Rücktritt des Chefs ist nämlich nicht die einzige Nachricht, mit der Vattenfall gestern versuchte, in die Offensive zu gelangen. Das Unternehmen gab seinen erbitterten juristischen Widerstand dagegen auf, dass eine sechs Jahre alte Liste mit gefährlichen Mängeln am Atomkraftwerk Brunsbüttel veröffentlicht wird. Und als sollte diese Auflistung um ein praktisches Beispiel ergänzt werden, wurde der Reaktor gleichzeitig erneut heruntergefahren, weil Probleme beim Öl in einem Transformator aufgetaucht sind. Das alles zeigt: Nicht die Führung oder Kommunikation von Vattenfall ist das Problem. Sondern die Atomtechnik, in der Fehler und Versäumnisse ebenso auftreten wie überall sonst, wo Menschen arbeiten - nur in diesem Fall eben mit potenziell katastrophalen Konsequenzen. Das Gerede von den "sichersten Reaktoren der Welt", die in Deutschland angeblich laufen, klingt angesichts der neuen Erkenntnisse aus dem Innenleben eines deutschen AKWs wie Hohn. Wenn ein Atomreaktor trotz hunderter bekannter Sicherheitsmängel sechs Jahre lang unbeanstandet weiterlaufen darf, zeigt das zudem, dass auch die ebenfalls viel gepriesene Atomaufsicht völlig versagt hat - und zwar unter Führung der angeblich atomkritischen SPD. Die Forderung von Sigmar Gabriel, alte Kraftwerke schneller vom Netz zu nehmen und neue im Gegenzug länger laufen zu lassen, hilft nicht. Zum einen gehört der Pannen-Reaktor in Krümmel zu den jüngeren AKWs, was zeigt, dass das Alter nicht das einzige Kriterium ist. Zum anderen verzögert eine solche Entscheidung das Ende der Atomkraft weiter und verschiebt die Probleme in die Zukunft. Die Konsequenz kann stattdessen nur lauten: Atomkraftwerke abschalten. Und zwar sofort. Diese alte Forderung ist so aktuell wie eh und je. Und durch das rasante Wachstum der erneuerbaren Energien ist sie heute leichter umzusetzen als je zuvor.
Malte Kreutzfeld. taz

"Atomausstieg selber machen"

Man muss nicht unbedingt warten, bis die Restlaufzeit des letzten Atomkraftwerks beendet ist - zumal die Betreiber die Laufzeiten zu verlängern versuchen. Schon heute kann jeder Haushalt in fünf Minuten aus der Atomenergie aussteigen und zu Ökostrom wechseln. Umweltverbände haben die Website www.atomausstieg-selber-machen.de eingerichtet und rufen zum "massenhaften Wechsel" zu Ökostrom auf. Auf der Website werden nicht nur Fragen zum Thema beantwortet, vor allem finden sich dort Antragsformulare von vier verschiedenen Ökostromlieferanten, die allesamt unabhängig von Atomkonzernen sind. Strom aus umweltverträglichen Energiequellen muss nicht einmal teurer sein als konventioneller Strom; in einigen deutschen Städten sind die Preisunterschiede nur noch marginal, zumal die großen Energiekonzerne in den vergangenen Wochen ein weiteres Mal ihre Preise angehoben haben.
Für weitere Fragen ist unter der Telefonnummer (08 00) 7 62 68 52 eine Hotline eingerichtet. taz

Von wegen auf Atomstrom angewiesen sein

Obwohl derzeit mehrere Atomkraftwerke stillstehen, hat Deutschland sich auch im ersten Halbjahr 2007 als großer Stromverkäufer präsentiert: Der Stromexport lag in den ersten sechs Monaten um 11 Milliarden Kilowattstunden höher als der Stromimport, wie der Verband der Netzbetreiber (VDN) gestern berichtete. In absoluten Zahlen betrug der Import 21,4 Milliarden Kilowattstunden und der Export 32,3 Milliarden. Ausschlaggebend dafür ist der Boom der erneuerbaren Energien. Damit produzierten rechnerisch drei deutsche Atomkraftwerke ihren kompletten Strom nur fürs Ausland. Die drei Atommeiler Biblis A, Neckarwestheim 1 und Brunsbüttel, die nach dem Atomkonsens in den nächsten zwei Jahren vom Netz gehen müssen, könnten somit ersatzlos abgeschaltet werden, ohne dass Deutschland in der Bilanz zum Stromimporteur würde. taz

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Afghanistan: Raus aus der militärischen Sackgasse!

Direkt nach den Anschlägen vom 11.9.2001 haben die USA und ihre Verbündeten Afghanistan angegriffen. Erstmals in ihrer Geschichte rief die NATO den Bündnisfall aus. Die Friedensbewegung will mit einer Kampagne den Bundestag dazu bewegen, die Ende September anstehende Verlängerung der Bundeswehr-Mandate für Afghanistan zu verweigern. Wir legen im Folgenden Argumente gegen die Verlängerung der Militäreinsätze und mögliche Alternativen dar.
Die militärische Sackgasse Afghanistan
- Die inzwischen NATO-geführte „ISAF" (Internationale Schutztruppe Afghanistan) umfasst etwa 40.000 Soldaten. Ungefähr 3.000 von ihnen kommen aus Deutschland. Daneben besteht die US-geführte Streitmacht „OEF" (Operation Enduring Freedom), die kein UN-Mandat hat. Die Bevölkerung Afghanistans kann nicht zwischen „Enduring Freedom" und „ISAF" unterscheiden, zumal die NATO zunehmend ISAF-Truppen als Kampftruppen verwendet. Die von Deutschland entsandten Tornados dienen eindeutig der militärischen Aufklärung und sind Bestandteil der Kriegsführung. Alles andere ist Beruhigungslyrik der Regierung für die deutsche Bevölkerung.
- Die etwa 100 deutschen Soldaten der Kommando Spezialkräfte KSK sind eindeutig der Kriegsführung unter „Enduring Freedom" zugeordnet. Die Öffentlichkeit und selbst die Bundestagsabgeordneten erfahren nichts Genaues über ihren Einsatz. Trotzdem ist durchgesickert, dass sie vermutlich seit zwei Jahren nicht mehr eingesetzt werden. Bekannt wurden sie durch Fußballspielen mit Totenköpfen. Sollte nur ihr Einsatz nicht mehr verlängert werden, wie manche Politiker jetzt vorschlagen, so wäre dies nur ein Zugeständnis – ein Bauernopfer – an die öffentliche Stimmung gegen den Afghanistan-Einsatz, aber nicht von praktischer und politischer Bedeutung – also kein Weg aus der Sackgasse.
- Trotz der großen Zahl an Interventionssoldaten hat sich die Situation in Afghanistan seit Beginn des Militäreinsatzes verschlechtert. Die massive militärische Bekämpfung der Taliban hat deren zunehmende Umstellung auf Guerilla-Taktik mit Selbstmordattentaten bewirkt. Diese wird jetzt auch in Kabul angewandt. Man kann sie als „Irakisierung" des Krieges bezeichnen.
- Für diese „Irakisierung" und die hierfür erforderliche Mobilisierung von Selbstmordattentätern sind folgende Faktoren maßgeblich:
a) Die zunehmenden „Kollateralschäden" der NATO-Angriffe rufen erhebliche Empörung in der Bevölkerung hervor. Laut Presseagenturen von Ende Juni 2007 habe es bei Militäraktionen der von der NATO geführten Afghanistan-Schutztruppe ISAF sowie im Rahmen des von den USA geführten Anti-Terror-Einsatzes seit dem 1. Januar 2007 mindestens 203 Tote in der Zivilbevölkerung gegeben. Im gleichen Zeitraum seien 178 Stadt- und Dorfbewohner von Aufständischen getötet worden.
b) Die ausbleibende Verbesserung der Lebenssituation der Masse der Bevölkerung.

c) Die Missachtung der afghanischen, in hohem Maße religiös bestimmten Kultur durch die westlichen Soldaten.
d) Die wohl weitgehend korrupten realen Strukturen des fremden Demokratiemodells. War Lords, Kriegsverbrecher und Drogenbarone sitzen mit im Parlament und in der Regierung.
e) Die Unsicherheit der Machtverhältnisse, die eine sichere Zuordnung der Menschen zu politisch-demokratischen Kräften nicht zulässt.
- Zögen morgen alle Interventionstruppen aus Afghanistan ab, würde dort nicht automatisch Friede einkehren. Vielmehr wäre damit zu rechnen, dass uneingelöste Ansprüche und unterschiedliche Interessen des früheren Bruderkriegs nach Abzug der sowjetischen Armee aufbrechen würden.
- So steht die westliche Intervention vor einem doppelten Dilemma. Sie selbst ist nicht in der Lage, eine stabile und sichere Ordnung zu bewirken – im Gegenteil! Sie kann dies allerdings auch nicht einfach durch den Abzug ihrer Truppen erreichen. Wie im Irak-Krieg haben die westlichen Invasoren keine tragfähige Exit-Strategie vorbereitet. Das scheint ein Charakteristikum der heutigen militärgestützten Politik zu sein.

Unser Vorschlag in friedens- und entwicklungspolitischer Absicht
- Was also tun? Die Bundesrepublik Deutschland kann – außer politischer Einflussnahme auf die Verbündeten – nur über ihren eigenen Beitrag entscheiden, wobei sie sicherlich unter starken Druck aus den USA geraten wird, wenn sie im Sinne einer zivilen und friedlichen Konfliktlösung entscheidet. Doch Deutschland sollte in seinem eigenen Interesse diesen Druck aushalten, nicht zuletzt auch, um nicht immer tiefer in den Sumpf dieses Krieges hineingezogen zu werden.
- Wir fordern vom deutschen Bundestag, das Mandat für ISAF und Enduring Freedom nicht zu verlängern und damit ein deutliches Signal der Neuorientierung zu geben. Dabei muss ein definitives Datum genannt werden, bis zu dem die deutschen Truppen abgezogen sein werden.
- Gleichzeitig gibt die Bundesregierung bekannt, sie werde die finanzielle Hilfe um den Betrag aufstocken, der durch den Abzug der Truppen frei würde. Diese Mittel stünden für Entwicklungsprojekte in Afghanistan zur Verfügung, die von Orten und Regionen gemeinschaftlich für wünschenswert und unterstützungswürdig gehalten würden. Dabei ginge es auch um die örtliche und/oder regionale Zustimmung derjenigen Kräfte, die den Taliban nahe stehen. Auf diese Weise könnten Dialog und Zusammenarbeit der verschiedenen Kräfte vor Ort sowie Vertrauen untereinander gefördert und die Sicherheit der Projekte verbessert werden.
- Die Bundesregierung fördert zugleich die Ausbildung von Personal und Organisationen für die Implementierung dieses zivilen und friedenfördernden Projektes.
- Solche Projekte haben nur dann eine reale Chance, wenn sie eindeutig von der Kriegsführung getrennt werden. Dies gegenüber den verschiedenen Kriegsparteien deutlich zu machen, ist nicht nur Aufgabe der in den Projekten Arbeitenden, sondern auch der Bundesregierung.
- Die Bundesregierung soll gleichzeitig bei anderen Staaten, insbesondere der EU, dafür werben, sich diesem Projekt anzuschließen.

Zur Begründung
- Afghanistan ist ein multiethnisches und ein multikulturelles Land, mit riesigen Unterschieden hinsichtlich Landschaft und Bevölkerung. Es ist ein armes Land. Es musste sich nicht nur in früheren Jahrhunderten gegen den kolonialen Hunger Englands verteidigen, im vergangenen Jahrhundert die Invasion der Sowjetunion bekämpfen. Es musste auch nach Abzug der sowjetischen Truppen einen Bruderkrieg erleben, der erst durch den Sieg der Taliban, die ursprünglich von den USA als Kampftruppe gegen die UdSSR unterstützt wurden, überwunden werden konnte. Nun durchlebt die Bevölkerung den erneuten Ansturm des Westens auf ihr Land. Das alles hat eine eigenständige Entwicklung be- und verhindert. Jede Form von Hilfe muss die traditionalen Strukturen berücksichtigen, um Kooperation zu ermöglichen.
- Der finanzielle Aufwand für Wiederaufbau und Entwicklung in Afghanistan war bisher lächerlich gering. Seit 2002 wurden für militärische Zwecke insgesamt etwa 85 Mrd. US$, für Entwicklung aber nur 7,5 Mrd. US$ aufgewendet, von denen der größte Teil nicht bei der Bevölkerung angekommen ist. Doch erst wenn die Bevölkerung eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erkennen kann, wird sie sich auch für Frieden engagieren.
- War der Mohnanbau für die Produktion von Opium und Heroin unter der Herrschaft der Taliban weitgehend reduziert worden, so ist dieser seit der westlichen Intervention enorm erweitert worden, allein von 2005 auf 2006 um 60%. 92% der Weltproduktion stammen aus Afghanistan Die Haupteinnahmen aus dem Drogenhandel verbleiben bei den Händlern, Dealern und Drogenbaronen. Auch die Taliban finanzieren sich zu einem erheblichen Anteil daraus. Nur wenn den Bauern andere Erwerbsquellen erschlossen werden, können diese auf den Mohnanbau verzichten. Daran intensiv zu arbeiten wurde bisher versäumt.
- Das Argument, zivile Hilfe und Entwicklung bedürften des militärischen Schutzes, greift nicht. Erstens ist das ISAF-Militär überhaupt nicht in der Lage, die zivilen Helfer zu schützen. Zweitens halten die Afghanen Helfer unter militärischem Schutz nicht für neutral, sondern für einen Teil der militärischen Intervention. NGOs und Entwicklungshelfer sehen sich deshalb durch Militär eher gefährdet als gefördert.
- Die deutschen ISAF-Soldaten haben zu etwa 80% keine Berührung mit der Bevölkerung und lernen das Land nicht kennen. Nach einer Untersuchung von Sozialwissenschaftlern der Bundeswehr halten sich diese zu etwa 80% während ihrer 4- bis 6-monatigen Dienstzeit nur in den Lagern der Bundeswehr auf und sichern dort ihre eigene Sicherheit. Afghanistan erleben sie nur auf dem Weg vom Flugplatz in ihr Lager und wieder zurück. Nur 10% der SoldatInnen gehen auf Streife. Für einen Weg aus der Sackgasse und zu einer friedlichen Entwicklung ist also von ihnen nichts zu erwarten.
- In der deutschen Bevölkerung ist die Ablehnung des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan außerordentlich hoch. Man glaubt hier zu Recht nicht, Deutschland müsse am Hindukusch verteidigt werden. Laut Umfragen lehnen etwa 2/3 der Deutschen diesen Krieg ab und wünschen ein Ende des Einsatzes. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan waren historisch immer freundschaftlich. Der afghanischen Bevölkerung in ihrer heutigen Situation, die nicht zuletzt durch die äußere Intervention verschuldet ist, zu helfen, würde in Zusammenhang mit einem Rückzug der deutschen Soldaten sicher allseits positiv aufgenommen werden.

Eine Bitte zum Schluss
- Kopieren und verbreiten Sie dieses Info-Flugblatt! (Datei unter: www.grundrechtekomitee.de)
- Unterstützen Sie Unterschriftenkampagnen! (z.B.: www.schritte-zur-abruestung.de; Petition)
- Beziehen Sie Position gegen die Mandatsverlängerung, z.B. Mahnwachen am Antikriegstag; LeserInnenbriefe!
- Beteiligen Sie sich an der Demonstration der Friedensbewegung am 15.9. in Berlin! (www.friedenskooperative.de)

Andreas Buro, Grävenwiesbach

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Rüstzeug einer Erziehung mit Zukunft

1. Die erste Wahrheit besagt, dass der Mensch, jeder Mensch, bis zu seinem 18., 19. Lebensjahr «nichts wissen kann». Selbstverständlich wird eine solche Wahrheit viele aufgeklärte Leser maßlos ärgern - das darf sie auch. Gemeint ist damit nicht, dass der Mensch bis dahin kein Wissen im herkömmlichen Sinne erlangen kann, sondern dass er noch nicht die Verstandeskräfte hat, um etwas aufgrund ureigenster, selbständiger Begründung zu verstehen. So gesehen ist der Inhalt dieser «Wahrheit» geisteswissenschaftlich genau und jeder Versuch, sie durch Abschwächung appetitlich zu machen, wäre Unsinn. Man kann anderer Meinung sein als Steiner, man kann denken, dass er sich hier gründlich irrt, aber es hat keinen Sinn, seine Meinung an die heute herrschende öffentliche Meinung «anpassen» zu wollen.

2. Eine zweite Wahrheit wird besonders im vierten Vortrag erläutert. In den Jahrtausenden der Geschichte standen die Menschen niemals als Ich dem Ich gegenüber. Das Ich war immer wie von seelischen oder kulturellen Hüllen «verhüllt», die die Brutalität des Aufeinanderprallens von zwei Individualitäten gar nicht ermöglichten. Reste dieser verhüllten Begegnung sind heute noch dann vorhanden, wenn der Mensch im anderen nicht ein einzigartiges Individuum erlebt, sondern immer nur den «Arzt», den «Professor», den «Handwerker», den «Ausländer», den «Mann» oder die «Frau», den «Lehrer» oder den «Schüler». Die «hüllenlose Begegnung» zwischen Ich und Ich erzeugt in unserer Zeit im Menschen eine tiefe Angst, die meist unbewusst bleibt. Der Grund dieser Angst liegt darin, dass dem ganz individuellen Ich gegenüber nur die bedingungslose gegenseitige Toleranz gilt, und diese ist alles andere als leicht zu erringen.

3. Eine dritte Wahrheit über Erziehung ist vielleicht die verblüffend-ste: Menschen werden erst dann wieder zu guten Erziehern werden können, wenn sie sich schämen, über Erziehung zu reden! Das viele Reden oder Diskutieren über etwas ist immer ein Zeichen dafür, dass man von der Sache wenig versteht.

Pietro Archiati zu den Vorträgen "Kunst der Erziehung, Kunst des Lebens" von Rudolf Steiner (11. bis 15. Oktober 1922)

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Kein Wissen ohne Unterricht

Zu wissen heißt, zu erkennen, welche Bedeutung vor dem Maßstab der Fragen einzelnen Antworten zukommt; zu wissen heißt, zu verstehen, warum gewisse Fragen gestellt werden; zu wissen heißt, zu wissen, was überhaupt Gegenstand eines Wissensbereiches ist. Aus dem bekannten Satz Descartes' «Ich denke, also bin ich» allein lässt sich zum Beispiel dessen Bedeutung nicht herleiten, und wer nur ihn kennt, weiß nichts (dass der Mensch nur dann Mensch sei, wenn er denke - wie viele Menschen meinen -, bedeutet er nicht). So bildet sich aus «Informationen» allein kein wirkliches «Wissen». «Wissen» erwirbt sich erst, wer in ganze Wissensräume, in ganze Beziehungssysteme, in denen Einzeltatsachen einander vor Fragen und Problemstellungen wechselseitig Bedeutung geben, eintritt.

Überblickt man diese Zusammenhänge, kommt man schnell zum Schluss, dass es einer vollständigen - und überaus verhängnisvollen - Illusion gleichkommen muss, anzunehmen, dass man sich «Wissen» erwerben könne: allein dadurch, dass man sich, etwa via Internet, Kenntnis von «Informationen», «Daten» verschafft. So, wie man nicht einfach «beobachten» kann (ohne Ziel der Beobachtung, ohne Hypothese, die man erwahren oder widerlegen will), kann man auch nicht einfach «Daten» lesen. Wer sich «Wissen» in Bezug auf ein bestimmtes Gebiet erwerben will, muss gleichzeitig in die in diesem gestellten Fragen und die gefundenen Antworten eingeführt werden (oder, im fortgeschrittenen Stadium, gehaltreiche eigene Fragen zu stellen lernen). Und genau an diesem Punkt tritt der - von den modernen Bildungspolitikern so eigenartig vergessene - Unterricht auf den Plan. Im von einer Lehrkraft angeführten Unterricht werden die Lernenden nicht nur mit Daten konfrontiert, sondern werden, in einem fortwährenden Wechselspiel, einerseits in die Fragen eingeführt, in Bezug auf welche «Informationen» zu etwas Bedeutungstragendem werden, und begegnen damit andererseits Erkenntnissen, Ergebnissen und «Daten», welche Fragen zu sinnvollen Fragen machen.

Der schweizerische Lehrer Martin Mosimann (Neue Zürcher Zeitung, 11.5.2004)

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Was gehört zu einem freien Kulturleben?

Alles, was Menschen schaffen und geschaffen haben, entspringt dem Geistesleben. Aus den Gedanken Einzelner sind Weltanschauungen, Erfindungen, Staatsgefüge, Religionsgemeinschaften, Industrien genauso entstanden wie handwerkliche und andere Leistungen. Auch im persönlichen Leben entscheiden Gedanken über dasjenige, was ein Mensch als Lebensziel, als Beziehung zur Gemeinschaft, zur Familie und zur Umwelt überhaupt erkennt und anstrebt. Diese Tatsachen brauchen nur gesehen zu werden, um die überragende Bedeutung des Geisteslebens zu erkennen.

Die Entwicklung der neueren Zeit führte durch das abstrakt natur-wissenschaftliche Denken zu Einseitigkeit und Spezialistentum. In Unterwürfigkeit richten die Menschen ihre Gedanken nach den gegebenen Tatsachen. Sie vernichten damit ihre Menschenwürde. Von ihren eigenen geistverleugnenden Gedanken gehetzt jagen die Menschen von Katastrophe zu Katastrophe.

Schul- und Ausbildungswesen

In den staatlichen Schulen ist heute der Unterricht einer politisch-weltanschaulichen Beeinflussung ausgesetzt. Die intellektuellen Fähigkeiten der Schüler werden auf Kosten universell-menschlicher Fähigkeiten einseitig ausgebildet. Rücksichtslose Anwendung des Verstandes für wirtschaftlichen Vorteil, lebensfremde Schreibstuben-Intelligenz, politische Intoleranz, Freudlosigkeit, Arbeitshetze und menschliche innere Leere sind das Ergebnis solcher Erziehungsmethoden.
Menschen mit dieser Erziehung sind den Anforderungen des modernen Lebens nicht gewachsen. Nervliche Erkrankungen, seelische Zusammenbrüche, Krisen aller Art im Zusammenleben, bedrückte und unfreie Menschen und schließlich Kriege sind die Folge einseitiger Erziehung und Lebenseinstellung.
Erziehung, Unterricht und Ausbildung haben die Aufgabe die Fähigkeiten des Menschen allseitig auszubilden, damit er die Probleme des Alltagslebens bewältigen kann. Nur wenn ein Schul- und Ausbildungswesen frei ist von staatlichen Tendenzen und unabhängig von der Wirtschaft, kann es dazu in der Lage sein.
Freie Schulen aller Art müssen sich gleichberechtigt neben den staatlichen bilden können. Um staatliche Tendenzen auszuschalten, müssen in jedem Fall staatliche Finanzierungen verhindert werden.
Befähigte Pädagogen müssen ungehindert unterrichten und bei Bedarf eine Schule gründen können. Eltern müssen für Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder eine Schule frei auswählen beziehungsweise eine Neugründung veranlassen können.
Die Finanzierung aller staatlichen und freien Schulen oder Ausbildungsstätten erfolgt durch die Schulgelder der Eltern. Bei Volljährigkeit zahlen die in der Ausbildung Stehenden das Schulgeld selbst. Schul- und Ausbildungsgelder werden im Bedarfsfall durch gesetzliche Regelung zur Verfügung gestellt.
Ein freies Schul- und Ausbildungswesen bietet in jedem Fall die Gewähr dafür, dass diejenigen Formen der Erziehung und des Unterrichtes sich ausbreiten, deren Menschen sich späterhin im Leben als praktisch und brauchbar herausstellen.
Die gleichberechtigt nebeneinander stehenden staatlichen und freien Schulen sowie Ausbildungsstätten werden schlechte Lehrer, mangelhafte Erziehungsmethoden, Nichtbeachtung des Kindes und der Eltern aus Gründen der Existenzsicherung zu vermeiden suchen! Schlechte Schulen werden in freiem Wettbewerb an Schülermangel eingehen.
Bei Schulabschluss wird zwischen Lehrern, Schülern, Eltern oder Erziehungsberechtigten die Eignung und Berufswahl des Kindes besprochen werden.
Das Gutachten der Schule berechtigt zum Bezuge der Mittel für die entsprechende Berufsausbildung.
Lehrer können sich zur Besprechung von Fragen der Pädagogik, des Unterrichts, der Verwaltung, der finanziellen Ansprüche an Eltern, der Zusammenarbeit mit anderen Schulen und so weiter in Korporationen zusammenschließen.
Zu gegenseitiger Orientierung über Berufsfragen werden sich Verbindungen mit Wirtschafts-Korporationen ergeben.
Das Recht auf eine allgemeine Schulausbildung bis zum achtzehnten Lebensjahr ist ein Grundrecht jedes Menschen.
Nach dem vierzehnten Lebensjahr ist es dem Kinde möglich, für Wissenschaften, Religion, Kunst, Weltanschauung mehr Verständnis zu entwickeln. Als Erwachsener kann er daraus Freude, Lebensinhalt und zugleich Kraft zur Bewältigung seiner Aufgaben schöpfen. Wer mit vierzehn Jahren die Schule verlassen muss, verliert ganz entscheidende Entwicklungsmöglichkeiten. Der Zugang zu dieser Entwicklung darf niemals Vorrecht einer bestimmten Menschengruppe sein!
Es ist eine menschenverachtende Ungerechtigkeit dem weitaus größten Teile des Volkes das Recht auf eine allgemeine Schulausbildung bis zum achtzehnten Lebensjahr vorzuenthalten. Vorwiegend dieser Tatsache ist es zuzuschreiben, dass die Masse des Volkes nicht in der Lage ist, sich eine eigene Meinung zu bilden und darum den Machinationen staatlicher und wirtschaftlicher Machthaber zum Opfer fällt. Hier liegt eine entscheidende Möglichkeit, um zu einer wirklichen Überwindung der Klassengegensätze zu kommen!
Auch im Universitäts- und Hochschulwesen müssen sich genau wie im Schul- und sonstigen Ausbildungswesen freie Lehrstätten gleichberechtigt neben die staatlichen stellen können.
Im heutigen Universitäts- und Hochschulleben gibt es freies Lehren und Forschen nur in eingeschränkter Form. An erster Stelle steht fertiges Wissen und dessen Weitergabe. Das gesamte Lehren und Forschen ist auf einen naturwissenschaftlich-materialistischen Nenner gebracht worden.
Durch ein ungeschriebenes Gesetz müssen alle Lehrer und Forscher diese Einstellung haben, wenn sie "wissenschaftlich anerkannt" gelten wollen. Dadurch ist eine verhängnisvolle Verengung des geistigen Horizontes eingetreten.
Die naturwissenschaftlich-materialistische Methode hat sich unfähig erwiesen, die Aufgaben des modernen Lebens zu meistern! Ihre enge, schematische, spezialisierte und lebensfremde Betrachtungsweise hat die Menschen von der Erfassung des wirklichen Lebens abgelenkt und Katastrophen über Katastrophen heraufbeschworen.
Auch in der Rechtswissenschaft wirkt sich dies verhängnisvoll aus. Hier handelt es sich in erster Linie um stures Auswendiglernen eines nach römischem Recht aufgestellten Paragraphensystems. Dabei fällt Mensch und Menschenrecht fast völlig unter den Tisch.
Vor allem das Recht muss den sich stets verändernden Lebensbedingungen angepasst werden. Hier wie auf allen anderen Wissensgebieten kann nur freies Lehren und Forschen neue Erkenntnisse und Wege auffinden.
Staatliche Finanzierung, wissenschaftliche Dogmatik und Abhängigkeit von Wirtschaftsunternehmungen bewirken Zwang. Jeglicher Zwang aber muss ausgeschaltet werden.

Kulturelle Einrichtungen aller Art

Die Schulausbildung jedes Menschen bis zum achtzehnten Lebensjahr in den verschiedenartigen freien Schulen wird in weitem Umfange kulturelle Bedürfnisse und Begabungen wecken.
Das neubelebte Interesse der Menschen für Kunst, Theater, Literatur, Musik und so weiter wird geistig und künstlerisch Schaffenden Verständnis für ihre Arbeit entgegenbringen. Durch das gewachsene Bedürfnis der Menschen werden Künstler und geistig Schaffende ihre wirtschaftliche Existenz finden.
Um staatliche Tendenzen im kulturellen Leben auszuschalten, müssen staatliche Subventionen aller Art entfallen. Eine vielseitige geistige Lebendigkeit wird über das freie Schul- und Ausbildungswesen in die gesamte Kultur hineinwirken und alle Gebiete des Sozialen ständig neu beleben.

Kirchliche und weltanschauliche Gemeinschaften

Im Sinne eines freien Geisteslebens haben Kirchen und weltanschauliche Gemeinschaften jegliche Freiheit. Weder der Staat darf Machteinflüsse auf sie haben, noch dürfen Kirchen und weltanschauliche Gemeinschaften Macht auf den Staat ausüben.
Finanzielle Selbsterhaltung ist Vorbedingung für die notwendige gegenseitige Unabhängigkeit. Konventionelle Zugehörigkeit zu kirchlichen und weltanschaulichen Gemeinschaften, die Übernahme kirchlicher und ähnlicher Ämter aus Versorgungsgründen lähmt die geistigen Kräfte, welche die innere Grundlage dieser Gemeinschaften bilden müssen.
Kirchliche und weltanschauliche Gemeinschaften müssen sich frei von staatlichen Zuschüssen durch Beiträge ihrer Mitglieder und Freunde erhalten. Nur so wird die Zugehörigkeit zu ihnen aus innerer Anteilnahme und echter Überzeugung kommen.
Das Kultur- und Geistesleben wird durch neue Impulse erstarrte religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften beleben und wandeln.

Zusammenschlüsse von Wissenschaftlern und Forschern

Die Aufgabe dieser Korporationen wird vor allem darin bestehen, wirtschaftliche Unabhängigkeit und freies Forschen zu sichern. Wenn das Wirtschaftsleben bestimmte Forschungsergebnisse benötigt, wird es bezahlen müssen, was die in den Korporationen zusammengeschlossenen Wissenschaftler fordern. Mit diesen Mitteln werden Wissenschaftler nach eigenem Ermessen die Forschungsstätten aufbauen, welche sie brauchen.
Die Korporationen der Wissenschaftler werden bestimmen, welche finanziellen Mittel das Wirtschaftsleben, dem die Forschung zugute kommt, für ein Forschungsergebnis zur Verfügung stellen muss. Mit diesen Mitteln werden Laboratorien und Forschungsstätten für freies wissenschaftliches Arbeiten und Experimentieren aufgebaut werden. Kein Wissenschaftler und Forscher wird es mehr nötig haben, sich in Abhängigkeit des Staates oder eines Wirtschaftsunternehmens zu begeben, um existieren zu können.
Die Wirtschaft wird bei der Weiterentwicklung ihrer Produktion mit dem rechnen, was ihr die Korporation der Wissenschaftler übergeben. Industriebetriebe und andere werden mit diesen Korporationen Hand in Hand arbeiten.
Wirtschaftler aber werden keinen ernsthaften Forscher mehr zum Sklaven ihrer zweckgebundenen Interessen machen können. Die finanziellen Mittel des Wirtschaftslebens werden ein vollkommen freies Forschen ermöglichen müssen.
Die Korporationen der Wissenschaftler und Forscher haben es in der Hand, für die Auswertung gemeinnütziger Forschungsergebnisse Neugründungen von Fabriken zu veranlassen, falls bestehende Fabrikationsbetriebe oder Wirtschaftskorporationen interesselos sind oder sich weigern sollten.
So wird eine Unterdrückung von Forschungsergebnissen, die dem Wohle der Menschheit dienen, ausgeschaltet werden können. Die Korporationen der Wissenschaftler und Forscher dürfen aber keine eigenen Wirtschaftsbetriebe gründen, die außerhalb ihrer Forschungstätigkeit liegen. Ihre Wirtschaftsbetriebe haben den Charakter der Forschungstätigkeit und nicht den der Unternehmertätigkeit.
Die Positionen, die sich freie Wissenschaftler und Forscher durch korporativen Zusammenschluss verschaffen, sichert ihnen sowohl ein freies Forschen und Lehren als auch ihre wirtschaftliche Existenz.

Freiheit der Meinung, der Presse und der Bildung von Parteien und Organisationen aller Art

Die uneingeschränkte Freiheit seine Meinung zu äußern, seine Weltanschauung zu vertreten, Organisationen, Parteien, Zeitungen und so weiter zu gründen, ist das Lebenselement der echten Demokratie. Das Verbot irgendeiner Weltanschauung, Organisation, Partei, Zeitung oder Meinung ist ein diktatorischer Akt, der die Demokratie aufhebt!
Es ist bekannt, dass im bolschewistischen Osten Diktatur herrschte. Jede den Machthabern missliebige Meinung, Weltanschauung, Zeitung, Partei wurde verboten und unterdrückt. Auch im Westen sind Verbote und Unterdrückung an der Tagesordnung.
Würde im Osten die persönliche Freiheit unterdrückt, heißt es: "Zum Schutze der freien Völker!" Geschieht dies im Westen, heißt es: "Zum Schutze der Demokratie!"
Anstelle offener, wahrhaftiger Aufklärung und Orientierung des Menschen tritt Verschleierung und Verdrehung der Tatsachen. Systematische Volksverdummung wird betrieben, um politische Machtziele zu erreichen.
Durch Verbote von Organisationen und Parteien aller Art werden deren Angehörige vor die Notwendigkeit gestellt eine geheime und damit unkontrollierbare Tätigkeit zu entwickeln. Sie werden dies um so eher tun, je treuer sie zu ihrer Sache stehen. Durch solche Unterdrückungsmethoden werden Untergrundbewegungen gefördert. Es entsteht so die Gefahr, dass die öffentliche Ordnung in unüberschaubarer Weise unterminiert wird.
Nur wenn jedermann seine Meinung frei äußern kann und sich Organisationen aller Art ungehindert bilden können, bleibt die Lage übersichtlich. Damit ist die Möglichkeit der freien Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Weltanschauungen, Parteien und so weiter gegeben. Nur wer die Freiheit fürchtet, wird Unterdrückung wollen. Vollkommene Meinungsfreiheit ist der beste Garant der Vernunft!

Aus einem Arbeitspapier von Peter Schilinski

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Waldorfpädagogik und Staatsschule

Als mich Heinz Buddemeier fragte, ob ich die Endphase des Projektes "Elemente der Waldorfpädagogik in der staatlichen Grundschule" in Bremen erziehungswissenschaftlich beraten und begleiten würde, sagte ich spontan zu. Denn dieses Projekt könnte ein Beitrag sein zum Durchbruch einer pädagogischen Schulreform in Deutschland. Die hektische und kurzatmige Betriebsamkeit im Zuge der sogenannten PISA-Studie zeigt einerseits die Notwendigkeit einer radikalen Schul- beziehungsweise Bildungsreform und andererseits das Versagen der traditionell die Schule gestaltenden Kräfte beziehungsweise Konzepte - von deren Verschärfung man sich nun eine Verbesserung verspricht. Wie wenn man durch die Intensivierung einer falschen Behandlungsmethode die Krankheit kurieren könnte.

Nicht nur in Finnland oder Japan, sondern direkt nebenan gibt es eine wirksame und zugleich humane Pädagogik, die sich seit über achtzig Jahren bewährt hat und zu einem heimlichen pädagogischen Exportschlager geworden ist: die von Rudolf Steiner inaugurierte, nach ihrem Entstehungsort genannte Waldorf-Pädagogik. Sie befindet sich freilich in einem pädagogischen Ghetto. Und es ist der Verdienst des kleinsten deutschen Bundeslandes - im Rahmen eines wissenschaftlich begleiteten Schulforschungs-Projektes - zu untersuchen, ob sich Waldorfpädagogik auch in die staatliche (Grund-)Schule übertragen ließe.

Grundsätzlich ist der Nachweis erbracht, dass sich Waldorfpädagogik nicht nur in abgesonderten und privilegierten "Privatschulen" praktizieren lässt, sondern in "normalen" Schulen mit hohem Anteil an Ausländerkindern, mit nicht ausgelesenen und zum Teil bildungsfernen beziehungsweise sozial benachteiligten Eltern, und in Schulen, die dort liegen, wo die Kinder und Eltern wohnen und leben. Denn nur diese staatliche Grundschule ist die wirklich einzige soziale und pädagogische Gesamtschule in Deutschland - was auch die Waldorfschule ihrem Selbstverständnis nach sein möchte. Die drei am Schulversuch beteiligten Lehrerinnen haben gezeigt, welche Leistungen mit diesem sozial und begabungsmäßig heterogenen Schülergruppen erreichbar sind - besonders beeindruckend in der öffentlichen Präsentation ("Monatsfeier") im Rahmen der Abschlusstagung im Februar 2002 im Landesinstitut für Schule in Bremen.

Während der vierjährigen Laufzeit des Schulbegleitforschungsprojektes wurden auch die Rahmenbedingungen für eine "Übertragbarkeit" der Waldorfpädagogik deutlicher, und sie sind in Abschlußberichten der Lehrerinnen konkretisiert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dezentrale, bewegliche Organisationsformen ("lernende Organisation"), die sich dem schöpferischen pädagogischen Handeln anpassen und es nicht mit Vorschriften und administrativer Überregulierung ersticken, notwendige Betriebsbedingungen sind. Engagement und Verantwortung der Lehrerinnen ergab sich eben auch aus den Freiräumen für eigenes und selbstverantwortetes Gestalten. Diese Entwicklungsprozesse konnten sich dort am besten entfalten, wo die Schulleitung und -aufsicht sich auf die Rolle der Beratung (Schul-Rat) und Sicherung von Freiräumen konzentrierte.

Die pädagogischen Ergebnisse habe ich unter dem Aspekt "Übertragbarkeit" auf drei Punkte summiert:

1. Kraft zur Leistung, zur Konzentration und zur Ausdauer wurde durch die Rhythmisierung des Unterrichts erreicht. Epochenunterricht und pädagogische Rituale, wie zum Beispiel die morgendliche Begrüßung sowie Verabschiedung durch den persönlichen Handschlag der Lehrerinnen sind entscheidende Hilfen pädagogischer Ordnung und Führung. Sie veranlagen ein Grundvertrauen in die Vernünftigkeit und Verlässlichkeit der Welt.

2. Eine weitere erzieherische Kraftquelle wird durch einen tatsächlichen ganzheitlichen Unterricht erschlossen. Die stimulierende und ordnende, strukturierende Wirkung von Handarbeit, Flötenspielen, chorischem Sprechen, kurz: von allem praktischen und künstlerischen Lernen mit allen Sinnen ist mittlerweile auch außerhalb der Waldorfpädagogik anerkannt und hat sich eindrücklich bestätigt. In dieser praktischen und künstlerischen Allgemeinbildung liegt auch die Grundlage einer späteren Medienkompetenz, wie es von Professor Buddemeier, dem Leiter der wissenschaftlichen Begleitung, immer wieder nachdrücklich gefordert wird.

3. Schließlich waren die gemeinsame Absprache und Weiterbildung der Lehrerinnen und der wissenschaftlichen Begleitung im Sinne einer Kollegiumsbildung ein Instrument der Selbststeuerung und Qualitätssicherung des Projektes. Es ist eben notwendig, dass die Prozesse der Individualisierung und persönlichen Verantwortung durch soziale Organe, wie zum Beispiel Konferenzen, kontinuierlich gespiegelt, korrigiert und ausbalanciert werden. Hier hat auch die wissenschaftliche Begleitung evaluativ und katalytisch mitgearbeitet - übrigens mit einem Minimum der sonst üblichen Ausstattung.

Aus dem Dargelegten folgt, dass die Ergebnisse des Schulversuchs nur Anregungen geben können, selbst initiativ zu werden. Die konkrete Umsetzung muss ohnehin situationsspezifisch jeweils aktuell initiiert werden, das war ein klares Ergebnis der abschließenden Fachtagung.

Um diese Prozesse zu unterstützen und Synergien zu ermöglichen, wurde spontan die "Freie Initiative Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen" gegründet. Im Sinne eines sich ständig weiterentwickelnden Menschenverständnisses ist sie eine Selbst-Initiative. Und deren motivierende Kraft kann nur das Selbst selbst erzeugen.

Peter Schneider, Universität Paderborn

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Aus der Arbeit der Freien Initiative: Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen

Vor gut fünf Jahren gründete sich im Anschluss an das Projekt „Elemente der Waldorfpädagogik in der staatlichen Grundschule" der Bremer Schulbegleitforschung, die Freie Initiative: Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen. Ein wesentliches Ziel dieser Initiative ist es, im Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlichster pädagogischer Ansätze, eine am Kinde und nicht an behördlichen oder wirtschaftlichen Vorgaben orientierte Erziehung zu befördern. Hierzu wurden an verschiedenen Orten Tagungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt.

Entscheidend ist dabei, die Lernenden ganzheitlich anzusprechen, und zwar so, dass die Auseinandersetzung mit dem „Lernstoff" persönlich bedeutsam wird und einen eigenständigen Entwicklungsprozess anregt. Waldorfpädagogik nicht als Dogma, sondern als Ferment! So ließe sich in Kurzform der Ansatz charakterisieren, der sowohl für das ursprüngliche Projekt als auch für die Arbeit der Freien Initiative: Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen maßgeblich ist.

Ein solcher Ansatz kann heißen, dass eine Erstklass-Lehrerin - den Angaben Steiners folgend - die Schrift möglichst bildhaft und unter der Hervorhebung der Lautgestalt einführt. Eine andere lehrt Rechnen rhythmisch und in Bewegung, ein Lehrer wird im Sachkundeunterricht hie und da auf Arbeitsblätter verzichten und nach Möglichkeiten suchen, den Schülerinnen und Schülern durch einen sachgerechten und lebensnahen Zugang die Welt, in der sie leben, zu erschließen. Wieder jemand wird Hände und Gedanken durch handwerkliche Tätigkeiten in Bewegung setzen. Und woanders bringt eine ganze Klasse die Musik singend und flötend selber hervor. Auch für höhere Klassen bietet die Waldorfpädagogik viele Anregungen. Gerade im Technologieunterricht wird deutlich, dass es nicht primär um die Vermittlung von Fertigkeiten – zum Beispiel im Umgang mit dem Computer – geht, sondern darum, dass die Jugendlichen die Grundlagen und die Funktionsweisen des Computers verstehen und zugleich erfahren, wie es zur Entwicklung dieser Technologie kommen konnte und welche geistesgeschichtlichen Umwälzungen vorausgegangen waren.

Seit PISA und den damit begründeten normierenden und selektierenden Maßnahmen sind die Handlungsräume der einzelnen Lehrkräfte enger geworden. Um so wichtiger ist es, dass es für die Menschen eine Möglichkeit des Austausches – oder gar der Kooperation – mit Gleichgesinnten gibt, die – trotz der vielen staatlichen Maßnahmen zur Außensteuerung des Lernprozesses – noch immer ihre eigentliche Aufgabe darin sehen, möglichst jedes Kind dazu anzuregen sich entsprechend seinem Alter selbst zu entwickeln, das heißt die in ihm liegenden Potenziale schöpferisch zu nutzen. Eine entsprechende Kontaktmöglichkeit könnte durch die Bildung von regionalen Arbeitsgruppen geschaffen werden. In einer solchen Gruppe könnten Anregungen und Materialien weitergegeben, Erfahrungen ausgetauscht und gemeinsame Projekte geplant werden. Außerdem sind Fortbildungsveranstaltungen mit gezielt eingeladenen Fachreferenten denkbar.

Im Raum Frankfurt am Main besteht eine solche regionale Arbeitsgruppe seit etwa vier Jahren. Nach einer etwas mühseligen Anfangsphase werden jetzt ihre Angebote, insbesondere die drei bis vier jährlichen Fortbildungen, in zunehmendem Maße wahrgenommen, und zwar von Lehrerinnen und Lehrern aus ganz unterschiedlichen (staatlichen) Schultypen, wenn auch die im Grundschulbereich Tätigen überwiegen. Inzwischen werden die Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte dahingehend anerkannt, dass ihr Besuch durch entsprechende „Fortbildungspunkte" honoriert wird.

Weitere Auskünfte erteilt Mechtild Jahn, Frankfurt, e-Mail: mech.jahn@web.de; bei ihr sind auch Termine und Themen der für das Schuljahr 2007/08 geplanten Fortbildungen in Erfahrung zu bringen.

Im Raum Bremen hat sich gerade erst jetzt eine regionale Arbeitsgruppe konstituiert. Dem Frankfurter Vorbild folgend bietet sie Ende September eine erste Fortbildung an. Im November soll eine weitere folgen. Ob dem bislang geäußerten Interesse auch Taten folgen, muss sich erst noch zeigen.

Zum Schluss sei noch auf eine Tagung hingewiesen, die derzeit in Vorbereitung ist. Sie soll in Bremen stattfinden, und zwar am 30. und 31. Mai 2008, und Gelegenheit bieten, sich aus den verschiedensten Perspektiven über die Wege zur Erneuerung von Schule auszutauschen und dadurch das eigene Handeln fruchtbar voranbringen. Genaueres wird der nächsten Ausgabe des „jedermensch" zu entnehmen sein.

Barbara Buddemeier

Ausführungen zur Entstehungsgeschichte wie auch zu Zielsetzungen und pädagogischen Grundlagen der Freien Initiative finden sich in dem Buch „Heinz Buddemeier, Peter Schneider [Hg]: Waldorfpädagogik und staatliche Schule – Grundlagen / Erfahrungen / Projekte, Stuttgart; Berlin: Mayer 2005". Über das LIS (Landesinstitut für Schule) ist ein Arbeitsbericht zu dem erwähnten Projekt (= Projekt 92 der Schulbegleitforschung) erhältlich.

Info
Freie Initiative: Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen (Barbara Buddemeier), Tel. 0421 – 498 50 42 / e-Mail: ba19bu@gmx.de

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Vom Korn zum Brot

Eine der schönsten Unterrichtseinheiten der Grundschulzeit ist in der dritten Klasse das Thema „Vom Korn zum Brot". Außer einer Behausung (Thema: Hausbau) ist die Nahrung eines der Elementarbedürfnisse des Menschen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass Kinder den langen und mühsamen Prozess bis zum duftenden Brot möglichst hautnah erleben. Da in kaum einer Familie das Brot selber gebacken wird, kennen die Kinder nur Brotlaibe vom Bäcker oder Schnittbrot aus dem Supermarkt. Aber wie viel Arbeit ist bis dahin geleistet worden, wie viele Menschen haben dazu beigetragen, dass das fertige Produkt im Regal liegt! Deshalb setze ich alles daran, in meinen jeweiligen dritten Klassen auf einem Stückchen Land Korn zu säen und die Kinder den gesamten Prozess erfahren zu lassen.

Im Oktober 2005, zu Beginn der dritten Klasse, begannen wir buchstäblich ganz unten, nämlich mit der Untersuchung des Erdbodens. Wir gruben ein tiefes Loch und besahen uns die einzelnen Bodenschichten, Humusschicht, Sandschicht, die Regenwürmer etc. Anschließend fragten wir uns, welche Arbeitsschritte notwendig sind, um aus einem Stück Land einen Acker zu machen. Das Pflügen und Eggen nahm uns dieses Mal der Großvater eines Schülers ab, der ein Stück (ca. 20 x 30 m) seines Weidelandes umzäunte und mit Maschinenhilfe in Ackerland umwandelte. An einem sonnigen Oktobertag säten alle Kinder mit der Hand in gleichmäßigen Schwüngen Roggen aus. Das Schreiten und gleichmäßige Aussäen hatten wir vorher in der Schule unter Zuhilfenahme eines Säerspruches geübt. Nach der Aussaat eggten wir das Korn mit Harken unter. In Abständen besuchten die Kinder das Feld, das Wachstum wurde gemessen und in eine Tabelle eingetragen. Im kalten Frühjahr 2006 wuchs das Getreide nur langsam, doch mit der Schönwetterphase ab Juni erreichte unser Korn zum Schluss eine Höhe von mehr als 1,80 Meter! Bis zum Beginn der Sommerferien war das Korn aber noch nicht reif, so dass wir in die Sommerferien gingen, ohne geerntet haben zu können. Kurz vor dem Wetterumschwung Ende Juli retteten zwei Großväter unsere Ernte, indem sie selber die Sense schwangen, das Korn abernteten, aufstellten und auf einem großen Hänger in Sicherheit brachten. Gleich nach den Sommerferien droschen die Kinder mit dicken Knüppeln, die als Dreschflegel fungierten, auf dem – gefegten – Hof den Berg von Getreide aus. Nach dem Zusammenrechen stellte sich heraus, dass so viele Körner in den Ähren gesteckt hatten, dass ein großer Sack voll wurde. In der darauf folgenden Woche besuchten wir die historische Wassermühle Deelbrügge, wo das gesamte Korn (knapp 50 Kilogramm) gemahlen wurde. Vor lauter Begeisterung naschten die Kinder das Mehl schon aus dem Mehlkasten der Mühle. Beim aufwändigen Zubereiten des Brotteiges mit Hefe und Sauerteig sprang uns eine pensionierte Lehrerin bei, die über viel Erfahrung mit dem Backen von Vollkornbrot verfügt. Mit 37 Kindern und etlichen helfenden Müttern entstanden so über dreißig leckere Brote! Die ganze Schule duftete und natürlich wollte jedes Kind sofort vom noch warmen Brot naschen. Alle Kinder bekamen ein halbes Brot mit nach Hause, um das Ergebnis von so viel Arbeit und Mühe auch der Familie zukommen zu lassen. Wir hatten so viel Brot, dass es sogar noch für ein ausgiebiges Frühstück mit der ganzen Klasse reichte. Eigenes Brot mit Butter – lecker!

Frauke Wöltjen

Grundschule Lunestedt (bis 2000: Freie Waldorfschule Bremen-Sebaldsbrück)
Das Projekt wurde mit zwei 3. bzw. 4. Klassen und ihren Lehrerinnen durchgeführt

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Der neue Rütli-Brief

1. Wir müssen für alle Schüler eine Vision entwickeln. Kein Kind darf verloren gehen. Wir müssen jeden Schüler annehmen, egal woher er kommt und wer ist. Das heißt auch: Es muss Schluss sein mit Sitzenbleiben. Schulen dürfen Kinder nicht mehr nach unten abgeben.

2. Wir müssen echte Ganztagsschulen werden. Um bessere schulische und erzieherische Angebote machen zu können - und damit uns die Risikoschüler nachmittags nicht an Glotze und auf der Straße verloren gehen.

3. Das Kerngeschäft von Schule ist Schule - aber ohne ein gut ausgestattetes, professionelles Team von Unterstützern ist Schule nicht möglich. Das heißt: Es muss an jeder Schule obligatorisch Sozialarbeiter geben, Sonderpädagogen und Berufsberater.

4. Wir brauchen ein neues Lernen. Jeder Schüler muss individuell seinem Lerntempo gemäß unterrichtet werden. Dazu sind viele neue Lernformen nötig. Frontalunterricht ist passé.

5. Der Ruf der Hauptschule ist ruiniert, diese Schule ist nicht zu retten. Wir sollten daher schnell daran gehen, diese Schulform durch Fusionen mit anderen Schulen überflüssig zu machen.

6. Wir müssen die Schulen besser ausstatten. Bildung und Erziehung für Risikoschüler gibts nicht umsonst. Die Brennpunktschulen müssen die besten Schulen im Lande werden. Das kostet viel Geld - das Bund, Länder und Kommunen endlich zur Verfügung stellen müssen.

 Wir sagen: Die Meister kommen

"Wir haben Schüler aus 44 Nationen. Manche sind dabei, die haben noch nie eine Schule von innen gesehen, wenn sie zu uns kommen. Wir haben daher das Prinzip: Sie lernen zusammen und sie bleiben zusammen. Das heißt zum Beispiel, wir haben das Sitzenbleiben abgeschafft. Es gibt bei uns sogar die Chance, ein elftes Jahr zu bleiben. Das ist wichtig für Kinder, die erst mit elf oder zwölf Jahren nach Deutschland gekommen sind. Um ihnen eine Chance zu geben, schicken wir sie nicht weg, sondern bieten an, den Abschluss nachzuholen.

Manchmal können Schüler sogar noch länger bleiben. Wir haben eine Schulkantine, in der eine Hauswirtschafterin mit Meisterbrief kocht. Dort können ein paar Schüler, die keine Lehrstelle gefunden haben, ihre Lehre absolvieren. Wir nennen das: Die Meister kommen. Warum sollen wir nicht einen Malermeister anstellen und einen Schreinermeister und einen Schneidermeister? Zu tun gibt es hier genug.

Wir wollen eine richtige Ganztagsschule werden. Manche Schüler sagen zu mir: 'Frau Pässler, ich will nicht nach Hause.' Sie haben keine guten Familien. Und sie hängen da auch oft nur vor dem Computer oder dem Fernseher rum. Wir bieten jetzt schon Nach-mittagsunterricht an für unsere fünften und sechsten Klassen, und es machen auch alle 150 Schüler mit. Wir wollen dieses Angebot aber allen machen. Dann ist anderer Unterricht möglich, in Blöcken, nicht in 45-Minuten-Häppchen.

Für Kinder, die gerade aus dem Ausland kommen, veranstalten wir einen Intensivsprachkurs. Ein Jahr lang 27 Stunden pro Woche. Das ist eine sehr heterogene Gruppe, da sind alle Jahrgänge drin. Aber der Kollege macht das ausgezeichnet. Er geht auf die Bedürfnisse dieser Weltkinder ein. Vielleicht hilft ihm auch, dass er selber aus dem Ausland kam. Es ist uns überhaupt wichtig, internationale Kollegen zu haben.

Die Zukunft der Schule ist meiner Meinung nach die Gemeinschafts-schule, mit der die Dreigliedrigkeit überwunden wird. Bisher stecken wir die Kinder schon nach der vierten Klasse in eine Schublade, aus der viele nie mehr herauskommen. Gemeinsam voneinander zu lernen gäbe ihnen die Chance. Das ist meine Vision."

Helena Päßler ist Leiterin der Heinrich-von-Kleist-Schule, Wiesbaden: 506 Schüler, 85 Prozent mit Migrationshintergrund.

taz vom 30.3.2007

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Zusammenleben lernen

Ende November 2006 erhielt eine Schule der in der Schweiz gelegenen Stadt Wil den Pestalozzi-Preis zuerkannt. Ausgesucht wurde sie unter anderem vom Schweizer Lehrerverband und der Unicef Schweiz. Ausgezeichnet wurden Bemühungen um "kinderfreundliche Lebensräume".

Seit 1997 gibt es an dieser Schule ein Projekt, das tatsächlich so manches verändert hat. So existieren nur noch zwei Klasseneinhei­ten, welche die Jahrgänge 1,2,3 und 4,5,6 zusammenfassen. Das Unter­richten an der Primarschule (Grundschule) bekam damit einen wesent­lich anderen Charakter. Zwar hat jeder Jahrgang einen eigenen Lern­stoff, die Kinder helfen sich aber vielfach bei den Aufgaben. Auch ein schwächerer Schüler der dritten Klasse weiß vieles, wodurch er Klei­neren eine Hilfe sein kann. Das hebt nebenbei das Selbstvertrauen und auch die eigene Lernmotivation.

Dabei ist die soziale Situation in Wil nicht weniger kompliziert als anderswo. Der sogenannte "Ausländeranteil" beträgt 25 Prozent, was sich in der Schulsituation wiederspiegelt. Hier kommen die ver­schiedenen kulturellen Gepflogenheiten zusammen, in welchen die Kin­der aufwuchsen.

Die damit immer wieder einhergehenden Spannungen, die andernorts bis zu offenen Gewaltausbrüchen führen, werden an der "Allehaus­-Schule" direkt angegangen. Basis ist die "Wertediskussion", die re­gelmäßig mit den Kindern durchgeführt wird. Allein daß jemand etwas auch total anders sehen kann, ist eine erst einmal zu machende Erfahrung. Es ist zu lernen, auch damit in ein Einvernehmen zu kommen. "Wer sich dafür interessiert, wie sein Gegenüber etwas sieht, dem ist es nicht egal, was er seinem Gegenüber antut." Es geht um Grundfähigkeiten des Zusammenlebens. "Die Kinder sollen lernen, ihre Perspektive zu wechseln", äußert die Projektleiterin Heidi Gehrig.

Dazu gehört ebenfalls die Vollversammlung, die achtmal jährlich stattfindet. Dabei dürfen die Schüler und Schülerinnen durchaus die Regeln ihrer Schule mitbestimmen. Diese werden auf diese Weise ganz anders wahr- und ernstgenommen - und befolgt. "Nur wer Demokratie erlebt, kann ein Demokratieverständnis entwickeln", beschreibt Heidi Gehrig das noch unübliche Vorgehen.

Jürgen Kaminski

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Freie Interkulturelle Waldorfschule

Alle Kinder, egal welche Hautfarbe sie haben, welcher Nationalität, Religion oder sozialer Schicht sie auch angehören, sollen die Möglichkeit einer Bildung erhalten - das ist die Idee von Christoph Doll und sei­nen Kollegen. Waldorfpädagogik mitten im sozialen Brennpunkt: „Dieses Konzept ist multiplizierbar und kann auch in anderen Städten gelingen", hofft der Pädagoge, dass das Mannheimer Modell Schule macht: 150 Kinder besuchen mittlerweile am Neuen Messplatz sechs Klassen. „Damit sind wir von der Größe her etwa bei der Hälfte angelangt", so Doll. Jedes Jahr kom­me eine neue erste Klasse dazu, außerdem bestehe eine Warteliste.

Rund 60 Prozent der Kinder sind Mig­ranten, 40 Prozent Deutsche. „Viel weiter darf das Verhältnis nicht auseinanderge­hen", weiß Christoph Doll und fügt mit Nachdruck hinzu: „Nicht, weil wir eine Deutschpflicht auf dem Schulhof einfüh­ren wollten. Aber die Kinder müssen sich im Alltag austauschen." Diese interkultu­relle Form habe sich mittlerweile bewährt: „Es bilden sich keine Grüppchen, sondern die Schüler bekommen Eindrücke von an­deren Ländern und den Menschen dort. Es wird ihnen Weite vermittelt und die Scheu vor Andersartigem gar nicht erst zugelas­sen. Vorurteile und Blockaden, die oft schon im Kindergarten aufkommen, ver­festigen sich nicht", berichtet der Lehrer. Es entwickele sich ein unbewusstes Ver­ständnis für andere Kulturen, das später zum Tragen komme:

Die soziale Herkunft der Schüler lässt sich am schulischen und beruflichen Bil­dungsabschluss der Eltern ablesen. So ver­fügen 31 Prozent der Mütter und Väter über einen Hauptschulabschluss, 18 Pro­zent über die mittlere Reife, zehn Prozent über die Hochschul- beziehungsweise Fachhochschulreife, und 41 Prozent gaben als höchsten Abschluss einen Hochschul- ­beziehungsweise Fachhochschulabschluss an. „Damit haben wir genau die soziale Zu­sammensetzung erreicht, die wir uns vor­genommen hatten", bilanziert Doll. Der Gedanke der Integration, die Tatsache, dass ihre Kultur an der Waldorfschule Würdigung finde, helfe den Eltern auch, Vertrauen zu fassen.

Dabei setzt die Schule in der Neckar­stadt vor allem bei der Sprache an: Eng­lisch und Deutsch ab der ersten Klasse, in Klasse vier kommt Französisch dazu, au­ßerdem steht von Anfang an eine so ge­nannte Begegnungssprache auf dem Stun­denplan - Polnisch, Russisch, Kroatisch, Spanisch oder Türkisch. Jedes Kind sucht sich eines dieser Angebote aus, wobei die Mädchen und Jungen, die aus einem dieser Länder stammen, auch den Unterricht in ihrer Muttersprache besuchen. „Das tut ih­nen gut", berichtet der Pädagoge von sei­nen Erfahrungen, „dann sind diese Schüler mal die Könner und erfahren Würdigung." Natürlich geht es in diesen zwei Stunden pro Woche nicht vorrangig um Vermittlung von Grammatik, sondern man singt, tanzt und feiert gemeinsam die Feste der jeweili­gen Länder.

Dass dieses Konzept der Vielsprachig­keit aufgeht, bestätigt der Evaluationsbe­richt. Wiesen beispielsweise einige Kinder zu Beginn der ersten Klasse noch Sprach­defizite auf, so befinden sich jetzt - am Ende der zweiten Klasse - alle Schüler auf einem Stand. Dabei kam kein spezielles Sprachförderungskonzept zum Einsatz. „Ich habe mit den Kindern vielmehr eine Sprache gesprochen, die vielfältig, bunt und lautmalerisch ist", so Doll. „Erlebe Sprache!" laute eigentlich die Überschrift des Programms, das im neuen Schuljahr durch eine Bewegungs- und Konzentrati­onsförderung ergänzt werden soll.

Als freie Schule erhält die Interkulturelle Waldorfschule nun nach drei Jahren zum neuen Schuljahr erstmals Zuschüsse vom Land, die etwa die Hälfte der Kosten de­cken. Viele Eltern können allerdings nicht mehr als 35 Euro Schulgeld im Monat auf­bringen, so dass unterm Strich ein erhebli­ches finanzielles Defizit steht - zumal El­tern und Lehrer gerade noch dabei sind, die Räume in der Maybachstraße in Eigenar­beit zu erweitern und auszubauen. Aber auch in Sachen Finanzierung zeigen die Verantwortlichen Kreativität: Unter dem Motto „Chancen geben - Bildung schen­ken" suchen sie nach Paten für die Schüler.

Aus einem Bericht von Simone Kiß-Epp (Mannheimer Morgen, 13.9.2006)

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Gegen die Benachteiligung

Wir, meine Frau und ich, können uns nicht Anthroposophen nennen, aber wir haben als Eltern einer Waldorfschülerin eine zwölfjährige Erfahrung mit der Waldorfschule und mit der Waldorflehre. Wir haben wunderbare Lehrerinnen und Lehrer in Staats- und Waldorfschulen kennengelernt, beide Schulsysteme haben Vorteile und Nachteile. Aber eine Gesellschaft, die auf ein einziges Schulsystem angewiesen wäre, ist, selbst wenn sie das nicht wollte, auf dem Weg zur Diktatur. Die Privatschulen, die in Ihrem Gesetz nicht genannt werden, während die Waldorfschule ungefähr dreißigmal genannt wird, die Privat­schulen, die Ihr Gesetz begünstigt, sind katholische und evangelische Privatschulen. Ich unterstelle nicht, dass der Entwurf, den das Ministerium vorlegt, die Waldorfschulen benachteiligt, weil ihnen ein anderes christliches Bekenntnis zugrunde liegt. Ich glaube, es handelt sich um nichts als mangelnde Erfahrung der Gesetzentwerfer. Während die Schülerzahlen in den Staatsschulen zurückgingen, nahmen die Schüleranmeldungen in den Waldorfschulen um zehn Prozent zu. Also könnten die ministeriellen Entwerfer folgern, wir können nicht staatliche Schullokale leerstehen lassen und dann Neubauten von Waldorfschulen finanzieren. Das ist aber weit mehr als eine Sparmaßnahme. Das ist Einflussnah­me, Lenkung, Gängelung in eine bestimmte Richtung. Auch wenn das nicht gewollt sein sollte.

Bei einer Versammlung im großen Saal der Waldorfschule Überlingen-Rengoldshausen formulierte der Abgesandte des Ministeriums, man verlange von den Waldorfschulen eine »angemessene Eigenleistung«. Das klingt biedermarktwirt­schaftlich und dient doch praktisch nur dazu, der Waldorf­schule ihren Erfolg zu stehlen. Der Staat greift in den schönen Wettbewerb zwischen zwei Schularten hart zugunsten des Staatsschulmodells und der evangelisch-katholischen Privat­schulen ein. Aus Routine und aus mangelnder Erfahrung. Ich habe zwölf Jahre Waldorf-Demokratie praktisch miterlebt und mitgemacht. Ich habe in keinem Bereich unserer Gesell­schaft eine vergleichbare demokratische Praxis erlebt. Wal­dorf-Eltern sind in einer dauernden Bürgerinitiative tätig. Man kann dort Kinder nicht abgeben und sie dann wieder mit Abitur abholen. Diese demokratische Schulpraxis auch nur im geringsten zu erschweren, Neugründungen noch schwieri­ger zu machen als sie ohnehin schon sind - das darf doch nicht passieren! Nicht in Baden-Württemberg.

Ich glaube, das Ministerium weiß nicht wirklich, was Wal­dorfschulen leisten. In Stuttgart könnte man es wissen. In Überlingen weiß man es. Ich muss auf diese Leistung hinwei­sen, weil wir hier geradezu in einer Waldorfprovinz leben. Das ist eine pädagogische Region in dem Sinn, in dem Goethe in seinem »Wanderjahre«-Buch Leben und Lehre hat harmoni­sieren wollen. Das hat in fast fünfzigjähriger Entwicklung hier einen ganzen Kranz von Höfen und Heimen entstehen lassen, in denen Anthroposophen ihr Weltverhältnis auf Wirklich­keit anwenden. In Landwirtschaft und Gesundheits- und Schulwesen. Es ist sicher das einzige Mal, dass ein Dichter durch die Vermittlung eines Verstehenden eine solche Praxis bewirkt. Goethe ist es durch Rudolf Steiner gelungen. Dass diese Bewegung unserer Erde gegenüber seit Jahren zur Ver­antwortungsfähigkeit erzieht und diese auch praktiziert, wo alle anderen auf gedankenlose Ausbeutung setzen, das weiß heute jeder. Christentum allein hätte nicht genügt, die soge­nannte Schöpfung zu schonen. Es musste Goethes Naturer­lebnis dazukommen, um uns über Rudolf Steiner die von Leistungsideologien geblendeten Augen wieder sehfähig zu machen. Und das waren Waldorfschüler, die uns wieder verantwortungsfähig gemacht haben. Und denen sollten Sie jetzt die Entwicklung schmälern?

Das ist in Baden-Württemberg besonders grotesk, weil wahrscheinlich keine Gegend fruchtbarer reagiert hat auf Rudolf Steiners Aussaat als eben unser Land.

Die Versammlung jetzt in dem großen Saal in Überlingen-­Rengolds-hausen zum Beispiel: gut tausend Leute im Saal und auf der den Saal umlaufenden Galerie; auf der Bühne die Landtagsabgeordneten, der Herr vom Ministerium, Mitarbei­ter der hiesigen Schule. Ein Theatersaal. Ein Festsaal. Ein Saal für Begegnungen. Kein bisschen Repräsentation. Keine Spur von blödem Glanz. Reine Raumschönheit. Sich rundend, sich wölbend, die Konstruktion wird zum Ausdruck. Und kein Mikrophon. Aus allen Reihen und Richtungen des Saals Wortmeldungen, jede mühelos verständlich. Ich weiß nicht, wie der Herr des Ministeriums diesen Saal erlebt hat. Für mich ist er der schönste Saal, den ich kenne, und ich habe mit Sälen öfter und überall zu tun. Das ist die Waldorfpraxis. Denn solche Bauten, solche Räume sind kein Zufall, sind nicht Glück in der Architektenwahl. Diese Schönheit und Dienlichkeit stammt ganz und gar aus der Lehre und Praxis dieser Bewegung. Es tut mir leid: Goethe hätte seine Freude daran. Und Schülerinnen und Schüler, die zwölf oder dreizehn Jahre in solcher Umgebung leben und arbeiten, sind imstande, Probleme schön und hilfreich zu beantwor­ten. Kreativ eben.

Aus einem Brief von dem Schriftsteller Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg am Bodensee, an die Fraktion der christdemokartischen Partei im Landtag von Baden-Württemberg, 1990

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Identität und Ichheit

oder: “Zwischen Bauchnabel und Pupille”

Der Mensch ist ein werdendes Wesen und ist dort am meisten Mensch, wo er sich am besten in den “Zustand” des Werdens versetzen kann – oder darin belassen wird, es ihm vergönnt wird, darin zu sein. Dies hängt mit der großen, tatsächlichen (nicht darwinistischen!) Evolutionsgeschichte des Menschen zusammen, welcher als unvergängliches (sogenannt “geistiges”) Wesen in eine Welt der Vergänglichkeit getaucht ist. Denn “Geist” fasst man gern als etwas Ab-straktes auf, dabei übersehend, dass man es “bloß selbst ist, dieser Geist”. Dieser Geist (man selbst) könnte nicht zu Bewusstsein kommen ohne Spiegelung an der Materie. So gut und schön dies auf der einen Seite ist, so wirft dies dennoch eine ganze Reihe von Problemen auf. Zum Beispiel das der Vergänglichkeit. Kaum jemand hat dies ergreifender und besser zum Ausdruck gebracht, als die Dichter des “Fin de Siècle”, der vorletzten Jahrhundertwende um 1900, wie zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal:

“Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, und viel zu grauenvoll, als dass man klage:
Dass alles gleitet und vorüberrinnt; und dass mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, herüberglitt aus einem kleinen Kind – mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd…”

Er meint natürlich nicht sein wahres Ich, denn das ist er ja selbst, sondern das Abbild des Ich, wie es sich im Kinde zum Ausdruck bringt, aber wieder der Vergänglichkeit unterworfen ist und ihm dadurch fremd wird. Auch Rainer Maria Rilke stellt fest:

“Wunderliches Wort: Die Zeit vertreiben! Sie zu halten wäre das Problem.
Denn wen ängstigt‘s nicht: Wo ist ein Bleiben, wo ein endlich Sein in alledem?
Berge ruh’n, von Sternen überprächtigt, aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit!”
(“Aus dem Nachlass des Grafen C.W.”)

Rilke geht hier in der Erkenntnis tiefer als Hofmannsthal, indem er darstellt, dass tatsächlich die Unvergänglichkeit im Herzen wohnt, “nächtigt” sogar, also in der Nacht der Vergänglichkeit, der Materie sich einnistet. – Auch Hermann Hesse hat mit dem Gedicht “In Sand geschrieben” ein sehr schönes, von leiser Trauer durchzogenes, geradezu Liebeslied auf die Vergänglichkeit verfasst.

Dieser Spiegel der Vergänglichkeit, der selbst in unvermeidlicher Entwicklung begriffen ist, ist es im Grunde, welcher dem Menschen zahlreiche Probleme verschafft. Man nennt das eine “selige Kindheit”, ein “Paradies der Kindheit” usw., wo der Mensch sich noch nicht mit dem Problem seiner Identität, seines Selbstbewusstseins herumschlagen muss. In der Tat findet man auch kaum ein Bewusstsein beim Neugeborenen, das “Licht der Welt” geht erst etwas später auf, wenn im Gehirn eine bestimmte Struktur sich herangebildet hat. Es gibt Ausnahmen, aber im allgemeinen tritt erst mit dem zweiten, dritten Lebensjahr eine Art Selbst-Bewusstsein auf, und damit auch das früheste Erinnerungsvermögen. Es ist eine Art natürlicher Schutz, dass die Erwachsenen – auch durch Reflexe wie das berühmte “Kindchen-Schema” – kleine Kinder für etwas Erfreuliches, Entzückendes hinnehmen, da oft herumtutteln und sich nicht selten kasperartig benehmen. Dadurch suggeriert sich dem Kinde, dass das Dasein, dem es entgegentritt, dem es meist mit natürlicher Angst begegnet, schon sein Gutes habe, dass es schon in Ordnung ist. Manchen Völkern gelingt es, diese Positivität dem Kinde gegenüber bis etwa zum siebten Lebensjahr hinzustrecken – das ist schon eine große kulturelle Leistung. Dadurch prägt sich dem Kinde ein gesunder Lebensboden ein, der viele Jahre, unter Umständen das ganze Leben hindurch, tragen kann.

Natürlich hat das “Kindchen-Schema” auch einen geistigen Hintergrund – denn es ist ja sonst ein bloßer Name –, und der liegt darin, dass das Kind in den ersten Lebensjahren noch geradezu vom Geistigen, von den Himmelswelten, aus denen es auf die Erde herabgestiegen ist, umflort ist. Es hat einen – oft jahrhundertelangen – gei-stigen Reinigungsprozess hinter sich, bevor es wieder mutvoll in den Erdenschlamassel heruntergeht. In manchen Völkern gibt es daher auch eine geradezu religiöse Verehrung des Kindes. Unsinn entsteht daher auch nie aus dem Wesen des Kindes, welches von feierlichem Ernst erfüllt ist, sondern erst wieder durch irdischen Einfluss, durch Nachahmung von Blödsinn, der von der Erde herrührt.

Wird das Kind älter, so bildet sich das Individualgefühl meist an der Menschengemeinschaft, in der es lebt, am sozialen Spiegel. Wieder ist Rilke ein Meister der präzisen Beschreibung, wenn er über den heranwachsenden Knaben dichtet:

“Die Vögel fliegen leichter um mich her,

die fremden Hunde wissen: das ist der;

nur einzig meine Mutter kennt es nicht,

mein langsam mehr gewordenes Gesicht.”

Hier deuten sich langsam gewisse Differenzen zu den Eltern an, die sich später, etwa zur Pubertät, noch massiv auswachsen können. Erziehung wurde oft als käfigartige Dressur missverstanden, während sie vielmehr darüber wachen soll, dass der Mensch stets die “goldene Mitte” findet, ohne zu sehr auf seitliche Abirrungen und Absonderlichkeiten zu geraten. Das Vertrauen in die sich entwickelnde Individualität ist dabei die stärkste Kraft – sie darf nicht mit naivem, hilflosem Glauben verwechselt werden, sondern ist eine tatsächlich speisende, rückenstärkende Energie, die natürlich auch keinen Allzweck-Schutzzauber gegen jegliche Fährnisse darstellen kann, aber doch eine ungeheure Hilfe.

Schon in der Schulzeit macht sich der ganze Typenkreis menschlicher Individuation geltend, und verschiedene Sortiersysteme finden hier ihren Gegenstand, wie in Temperamente, Sternzeichen, Charakteren, Konstitutionstypen, Physiognomietypen, Rassen, Nationalitäten, Hauttypen usw. usf., in welchen sich in reicher Vielfalt der Mensch ausbildet. Und doch steht hinter all diesen hübschen Fassaden der Urmensch (religiös gesprochen: Der Christus oder das I-CH), welcher das spezifische Schicksal dieser oder jener Individuation durchmacht. Insofern sind die Menschen keinesfalls gleich: Ein sehr verschiedenartiges Erleben bildet sich heraus: “Des einen Freud, des andern Leid” – schnell zeigen sich schon im Kindesalter Führernaturen, Mitläufer, Anhänger, Unabhängige, Eigensinnige, Eigenbrötler und auch Geprügelte. Das bildet die zweite Stufe schöner oder traumatischer Erinnerungen, die in die spätere Lebensbasis des Menschen herabsinken. Es gibt beliebtere Kinder und eher ausgegrenzte, welche Verhältnisse meist von früheren Leben her widergespiegelt werden: “…unwissend noch des dunklen Loses, dumpf es ahnend doch.” (Christian Morgenstern)

In diesem Alter ist der Mensch schon so weit individualisiert, dass Verwechslungen auftreten können: “Du Idiot, du Trottel” heißt es schon zuweilen. Die römische Rethorik-Kunst nannte diese Wendung einen “pars pro toto” – ein Teil wird für das Ganze verwendet. Hier wären einige Unterleibsvokabeln zu nennen, aber auch der “helle Kopf” gehört dazu. Zugleich bringen sich hier die Emotionen des Menschen zur Geltung in Anziehung und Abstoßung, gnadenloser Sym-Pathie oder Anti-Pathie, das Pathos oder die Pathetik also schlechthin. Es kann ein Tröstliches, ein Entwaffnendes  gegenüber starker Antipathie sein, wenn man sie als pathetisch erkennen kann, als in gewissem Sinn theatralisch. Sie ist nur eine Art karmischer Sortierhilfe, aber noch nichts im eigentlichen edlen Sinne Menschliches. Der eigentlich als fast unvermeidlich antipathisch empfundene Mensch legt oder weckt Erkenntniskeime, deren Ausreifung oft sehr lange Zeiten in Anspruch nehmen kann. Albert Steffen thematisierte dies in dem Roman “Die Bestimmung der Rohheit”.

Die ganze Palette menschlichen Wahnsinns blüht mit der “pars pro toto”-Fehlidentifikation auf. Werner Kuhfuss wies einmal darauf hin, wie es in Skandinavien heißt: “dein Ochse, dein Esel…” usw., und nicht wie in deutscher Grobheit irrtümlich: “Du Ochse, Affe, Esel” usw.  Es wird im Skandinavischen richtig die Hülle vom Kern, welcher unangetastet bleibt, unterschieden. Besonders gravierend wurde die fälschliche Identifikation “du Affe” natürlich mit dem englischen Darwinismus, der sich auch pseudowissenschaftlich gibt. Darwin selbst wurde im Alter noch schwermütig von seiner eigenen Weltanschauung, konnte aber nicht mehr wirklich herausfinden. Sie liegt aber in der wissenschaftlichen Vorgeschichte begründet, nur das vordergründig Sichtbare, “Faktische” als Realität anerkennen zu wollen und damit keinen Platz zu haben für das eigentliche Wesen des Menschen, sein Ich-Selbst. Merkwürdigerweise erlebt der Mensch sein Wesen (oder das eines Anderen) besonders dort sehr stark, wo physisch nichts ist, wie z.B. am Loch der Pupille. “Augen wie zwei Stern‘” jammert jeder drittklassige Schlager. Ebenso bemerkenswert ist der Trend insbesondere bei weiblichen Jugendlichen, den Bauchnabel auszustellen. Diese – wegen möglicher Nierenunterkühlung –etwas heikle Demonstration soll “sehr süß” aussehen, weist aber mit dem Bauchnabel, der oft noch durch Juwelenartiges verziert wird, auf ebenfalls einen physischen Nichts-Punkt des Menschen, dem Abstammungspunkt seiner ehemaligen Verbindung mit dem Uterus. “In deinem Nichts hoff‘ ich das All zu finden” entgegnet Faust dem lästernden Mephisto. Die Exhibitions-KünstlerInnen sind sich natürlich meist nicht dessen voll bewusst, welche genialen Schachzüge sie da ausführen, welche Botschaften sie vermitteln. –

Der Aufprall des Geistes auf seine Körperorganisation und deren Entwicklung bringt meist zwei dramatische Grundtendenzen mit sich, die sich nach und nach herausstellen: Sie stellen sich vor allem ein, wenn mit der Pubertät das Seelenleben aufflammt und das Vorhandene mit der ihm eigenen Art von Sym- und Antipathie zu bewerten beginnt, die Welt in Gefallen und Missfallen unterteilt. Hier kann am eigenen Leib die Polarität von Selbsthass und Selbstliebe (Narzissmus) sich entzünden. Das ist auch noch nicht wirklich menschlich, sondern unterwirft die Welt den eigenen Launen. Durchaus ergibt sich aber auch ein Spektrum zwischen Lähmung und Überschwang, “himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt”. Das Seelische verbindet sich mit der Form, es erlebt Auftrieb durch Schönheit und freie Lebenskräfte, oder es leidet an der Schwere. Eine gewisse ärztliche Kunst kann hier lindernd mitwirken, andererseits ist der Gegenwartsmensch etwa durch schlackenreiche künstliche “Nahrung”, durch in die Atmosphäre hochgeholte unterirdische Schlacken (chemische und Kohleindustrie) vielem Niederziehenden ausgesetzt. Die Industrie pumpt hier mit hunderten dümmlicher Schornsteine das Untere nach oben, wo es keinesfalls hingehört. Was hier als “Fleiß” (lat. industria) verpackt wird, ist in Wahrheit Faulheit, nämlich der Einsatz künstlich evozierter Fremdenergie (Wasserkraft, Kohle,

Atomkraft) zu Zwecken bequemer kaufmännischer Rendite. Kein Wunder, dass Menschen “ohne Arbeit” dastehen, wenn die durch und durch egozentrische kulturfreie Krämergesinnung, deren ganzer Zerstörungswert wohl erst mit der Zeit deutlich werden wird, es so lanciert und einrichtet. Der bloße Selbstfrust wird hier noch von einem Weltfrust übersteigert, welcher daher rührt, dass man die natürliche Vierheit der atmosphärischen Schichtung in Wärme, Luft, Wasser und Erde nicht mehr respektiert, sondern wahllos durcheinandermischt und so erhebliches Chaos hervorruft.

Die Identität des Menschen nimmt mit dem Weltinteresse einen größeren Raum ein. Nicht mehr nur geht es um sein eigenes Wohl und Wehe, sondern um das der ganzen Erde. Genauso, wie es ein Fehler ist, den Menschen mit Teilwahrheiten zu identifizieren, so ist es ein Fehler zu meinen, der Weltzustand ginge ihn nichts an. Die Beschränkung der menschlichen Identität auf die Körperform ist ebenso eine Illusion. Am Luftartigen ist es am einfachsten zu sehen: Der Inhalt der menschlichen Lunge steht in fortwährendem Austausch mit seiner Umgebung. Dergleichen ließen sich viele Beispiele anführen: Beim Austausch mit dem Wasser, ebenso mit der Umgebungswärme. Der Jugendliche, der sich seelisch erlebt, tut allerdings gut daran, das Seelische auch in seiner Umgebung aufzusuchen, z.B. in der Blumen- und Tierwelt. Letztere wurde durch die Kunst, etwa von Franz Marc, genial geschaut. Der Materialismus, welcher hier nur Anatomie, Zellen und chemische Prozesse sehen will und lehrt, vergiftet das Weltbild für die Jugend, indem er es entseelt. Fruchtbarer ist hier das Mittelalter und die Renaissance, welche zu jeder Blume noch eine ihrem seelischen Wesen entsprechende Geschichte wusste.

Hier kann der Mensch die begrenzte Körper-Illusion überwinden und erleben lernen, dass er die Welt – selbst! – ist und also Weltinteresse erst zu wahrer Selbsterkenntnis führen kann. Letztlich allerdings muss dieser Weg dahin führen, auch das Geistige der Welt wiederzufinden und dem eigenen Wesen verwandt zu sehen, welches nur vorläufig mit provisorischer Identität und vermeintlicher Einsamkeit sich durch sein Schicksal bewegt. –

Andreas Pahl

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Gedanke und Gefühle der Menschen

Bei den einen sieht es so aus, als würde ihnen in einer gewissen Selbstverständlichkeit zu den Gefühlen, die sie in sich erleben, auch beinahe gleichzeitig die genau diesen Gefühlen entsprechenden Gedanken kommen, und bei anderen hat man den Eindruck, dass die gedankliche Seite ihres Wesens beinahe unbesetzt bleibt. Sie leben einfach in ihren Gefühlen und scheinen gar keinen Wert darauf zu legen, gedankliche Klarheiten zu finden. Am auffälligsten ist es vielleicht bei der akademisch gebildeten Gruppe unserer Zeitgenossen, die durch Schule und Studium gewissermaßen säckeweise Begriffe geliefert bekommen, noch bevor sie überhaupt Gefühle erleben und starke, Gefühle erleben können. Für sie entsteht die schlimme Lage, dass sie sofort eine Fülle von Begriffen zur Verfügung haben, mit denen sie sich ihre Gefühle erklären können. Nur leider ist es in den meisten Fällen so, dass die Begriffe, die sie zur Verfügung haben, die Gedanken, angelernt, anstudiert sind. Sie haben wenig bis nichts mit ihren wirklichen Gefühlen zu tun. Es entsteht dadurch die Täuschung, dass es sich bei diesen Menschen gewissermaßen um reife Menschen handelt, die eben diese schwere Arbeit hinter sich gebracht haben, die darin besteht, gedankliche Klarheit in gefühlsmäßige Verwirrung zu bringen, ohne durch die gedankliche Klarheit die Gefühle zu vereisen und abzutöten.

Friedrich Schiller sagt das, glaub ich, ungefähr so, dass die Menschen "Barbaren" sind, die durch eine Fülle angelernter Gedanken an ihren wirklichen Gefühlen vorbeidenken, sie verfälschen und tyrannisieren, während die Menschen "Wilde" sind, die auf jede gedankliche Klärung verzichten, weil sie sowieso davon nichts halten, mehr noch, weil sie unfähig dazu sind, und die nur in Gefühlen leben.

   Für mich ist die Erkenntnis von der Notwendigkeit dieser anstrengenden Selbst-­Aufklärungsarbeit durch die Schriften von Rudolf Steiner deutlich geworden, aber eben nicht nur die Erkenntnis von der Notwendigkeit dieser wahnsinnig schwierigen Prozesse, sondern auch die Mittel und Wege, um diese Dinge überhaupt erstmal durchmachen zu können, um die Kraft dazu zu gewinnen und um auch ganz langsam und allmählich zu Ergebnissen zu kommen, deren Kraft dann im eigenen Leben für sich und für andere Menschen anwendbar wird.

Peter Schilinski

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