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Jedermensch

Zeitschrift für soziale Dreigliederung, neue Lebensformen und Umweltfragen

Winter 2003/2004 - Nr. 629

Inhalt

Der Reformherbst ist vorbei
Dieter Koschek kritisiert die Agenda 2010 und versucht die richtigen Fragen zu stellen

Alternativer Nobelpreis 2003
Globalisierungskritische Netzwerke und wirtschaftliche Alternativen verbinden die fünf Preisträger des "Right Livelihood Award 2003" ("Alternativer Nobelpreis"), der am 9.12.2003 in Stockholm durch den Gründer Jakob von Uexküll überreicht wurde.
Schwerpunkt Demokratieentwicklung

Demokratie als schöpferische Angelegenheit

Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen
Rechtsleben und Demokratie
Wenn man herausfinden möchte, was Rudolf Steiner eigentlich mit dem „Rechtsleben" des sozialen Organismus gemeint hat, wird man am besten möglichst viel Textstellen in seinen Werken aufsuchen, die von diesem Gliede handeln und sie aufmerksam studieren. Dabei kann man bemerken, dass da öfter von dem „eigentlichen staatlichen Gliede" die Rede ist sowie von „Demokratie" und vom „mündigen Menschen". Außerdem tauchen oft die Wörter „jeder" und „alle" auf. Das macht uns kaum Schwierigkeiten; denn wir sind es gewohnt, „alle" und „jeder mündige Mensch" zusammen mit Demokratie vorzustellen und Demokratie mit dem Staatlichen.
von Lutz von Lölhöffel
Regieren im Sinne der Sozialen Dreigliederung
Als erste Regierungshandlung würde ich mir etwas zu denken haben - nicht wahr, wir reden ja natürlich hier ganz offen -, was selbstverständlich mit der Frage wenig zu tun hat, was ich machen würde, wenn ich, meinetwillen, ins Arbeitsministerium gesetzt würde, dadrinnen Gesetzbücher und dergleichen vorfände und nun dort weiterzuarbeiten hätte. Ich bemerke da nur zum voraus formell, daß ich mit der Abfassung der Resolution, von der Sie sprechen, nicht das Geringste zu tun gehabt habe. Ich würde diese Interpretation der Resolution nicht annehmen können, sondern nur meinen Standpunkt charakterisieren können zu dieser Frage.
von RudolfSteiner
Ausverkauf der Städte und Gemeinden - Am Beispiel Bremens
Das "General Agreement on Trade in Services" (GATS) - das "Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen" - wurde in den 90er Jahren innerhalb der GATT-Runden erarbeitet (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen). Seine Auswirkungen auf die Komune zeigt Manfred Steinbach auf.
Der Mißstand mit den Staatsfinanzen
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen
Bürgerliches Engagement
Einen interessanten Beitrag lieferte er im Februar 2001 für die Wochenendbeilage seiner Zeitung. Es ging um die Würdigung für ehrenamtliche Arbeit.Von Jürgen Kaminski
Tagungsrückblick: "Clash of Civilization "
„Neue Soziale Impulse aus der Gesellschaft" vom 25.9. - 29.9. in Überlingen, von Ingrid Feustel
Jean Ziegler: Wie kommt der Hunger in die Welt?
Der Genfer Soziologie-Professor Jean Ziegler war bis 1999 Schweizer Nationalrat. Bekannt wurde er u.a. durch noch heute aktuelle Publikationen wie "Die Schweiz wäscht weißer", in der er die Verstrickungen von schweizerischen Banken in internationale Finanzskandale und Geldwäscheaktionen offen legte. Heute ist Ziegler neben seiner Lehrtätigkeit UNO-Sonderbeauftragter für das Menschenrecht auf Ernährung. Ähnlich wie der Journalist Peter Scholl-Latour kennt er viele Machthaber der vergangenen Jahrzehnte aus eigener persönlicher Begegnung. Ziegler wurde Mitinitiator des Attac-Netzwerkes.
von Andreas Pahl
Nachrichten aus Case Caro Carrubo
In der Zukunftswerkstatt
Als wir uns zum dritten Mal zur wöchentlichen Zukunftswerkstatt von Case Caro Carrubo trafen, ließen wir uns zunächst durch ein Gespräch zwischen Joseph Beuys und Michael Ende (aus dem Buch Kunst und Politik/Freie Volkshochschule Argental) inspirieren
von Elvi Savolainen und Renate Brutschin
Eulenspiegel-Nachrichten
Alles verändert sich – ständig. Und doch bleibt alles wie es war – so scheint es.
Während ich vor dem Computer sitze und diese nachrichten formulieren möchte, gerate ich ständig ins Durcheineander und ich weis nicht woran wir sind. Eigentlich schien alles auf dem besten Weg zu sein. Zwei neue Mitarbeiterinnen stehen vor der tür und eine neuen Gruppe scheint sich zu formieren....
von Dieter Koschek
Überlegungen zur Sommerhitzwelle
Das anhaltend „schöne" Sommerwetter hatten sicher viele Menschen erst einmal als gutes Urlaubswetter begrüßt. Doch da es viele Wochen anhielt und immer mehr Menschen und vor allem auch die Natur darunter litten - man nehme nur als trauriges Beispiel die vielen brennenden Wälder - wollte ich versuchen, dieses Phänomen ein bisschen besser zu verstehen.
von Christian Reinicke
Aufmerksamkeit und Sensibilität in der Gemeinschaft
Peter Schilinski über seine Erfahrungen im "Modell Wasserburg".
Verhandeln statt Hass und Gewalt
Das Lehrstück Südtirol
Als am 22. April 1946 die Südtiroler 160 000 Unterschriften präsentierten, um den Anschluss an Österreich zu verlangen, ahnte das Nachkriegs-Italien, dass ein ernstes ethnisches Problem in Südtirol entstanden war. Die deutschsprachige Mehrheit, die rund zwei Drittel der Bevölkerung stellt, hatte die Abtretung Südtirols an Italien als Konsequenz des Ersten Weltkrieges im Jahr 1919 nie verwunden. Nicht akzeptieren konnte die Bevölkerung auch das Nein der Pariser Friedenskonferenz aus dem Jahr 1946 auf das Begehren des Wiederanschlusses an Österreich.
von Anddreas Englisch
Anthroposophie und jedermensch
Weihnachtlich immer wieder neu geboren
Diesen Beitrag von Anton Kimpfler können sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Weitere Beträge und Kurznachrichten finden sie in der gedruckten Ausgabe

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Der Reformherbst ist vorbei

Allein, dass diese Bundesregierung sich traut den Begriff Reform zu verwenden, ist abscheulich.

Und die Kommentare der SPD-Politiker zu den Hartz 3 und 4 Gesetzen (am 17.Oktober 03 im Bundestag verabschiedet) sind wunderlich. Wolfgang Clement geht wirklich davon aus, dass wenn das Arbeitsamt erst mal „Arbeitsagentur mit Jobcenter" heißt, und der Arbeitsvermittler ein „Fallmanager" ist, damit eine notwendige „Reform" der Sozialversicherung eingeleitet sei und der Standort Deutschland gesichert werden könnte. Er glaubt tatsächlich daran, dass mit diesen Änderungen die Wirtschaft anfängt zu brummen und es neue Arbeitsplätze geben wird, die die Regierung für die Arbeitslosen braucht.

Aber nicht nur der Wirtschaftsminister, sondern auch die Redner der Opposition, Herr Koch oder Herr Westerwelle, denken so, auch wenn sie diese Dinge wirklich schärfer gestaltet sehen wollen.

Und dass das deutsche Fernsehen diese Augenwischerei auch noch in den Nachrichten verbreitet und Wissenschaftler herholt, die einen Kommentar abgeben, der der Regierung bestätigt, auf dem richtigen Weg zu sein, ist schon mehr als obskur.

Bin ich wirklich zu beschränkt, um das zu verstehen?

Die Gesundheitsreform belastet die Versicherten mit rund 20 Milliarden Euro, die Ärzte, Kassen und die Industrie mit drei Milliarden.

Die Arbeitsmarktreform belastet hauptsächlich die Arbeitslosen, indem die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammengelegt wird und Verschärfungen und Verschlechterungen eingebaut sind. Und wie soll ein Jobcenter mit Fallmanager die nicht vorhandenen Arbeitsplätze schneller verteilen?

Nein, Reformen sind das nicht, es sind und bleiben Sozialkürzungen.

Das Einzige, das wahr anmutet ist, dass das System nicht mehr zu funktionieren scheint. Aber selbst das ist Ansichtssache. Genaugenommen: von welcher Seite man schaut.

Bei der Gesundheits-"Reform" wird die paritätische Bezahlung der Versicherungsleistung abgeschafft, also Leistungen zur privaten Versicherungssache erklärt: Zahnersatz und Krankengeld. Das ist der eigentliche Kern der Sache: Privatisierung der Lebensrisiken. Kein Wort über die Ursachen von Krankheit und deren Verhinderung. Kein Wort über ein besseres Bewusstsein für den eigenen Körper. Kein Wort über mehr Eigenverantwortung, wenn der Kranke erst einmal in die Mühlen der Schulmedizin gekommen ist. Wahnsinnige „lebenserhaltende" Technologien werden erforscht und getestet. Warum? Um den Traum vom ewigen Leben zu realisieren? Kein Wort über den Unsinn der Patentierung von lebensrettenden Medikamenten, die bereits über die staatliche Forschung mitfinanziert sind. Hier findet Privatisierung von Wissen statt. Die Lizenzen für lebensrettende Maßnahmen im Kampf gegen Aids kosten viel Geld und füllen die Kassen der Pharmakonzerne. Da dürften gewisse Herren froh sein, dass es Krankheiten überhaupt gibt. Und die sollen ein Interesse haben, Krankheiten zu beseitigen? Das glaube ich nun auch nicht.

In der Arbeitsmarktpolitik deutet bereits das Wort Markt daraufhin: es wird gehandelt. Aber mit was denn? Mit der Arbeitskraft des Menschen und mit der Bereitschaft Arbeit zu geben? Lohnarbeit wohlgemerkt! Das eine ist menschenunwürdig und erinnert uns doch sehr an den Sklavenmarkt. Und das andere nennt sich „Soziale Marktwirtschaft". Das heißt heute: Ich schenke den Unternehmen ihre Verantwortung für das Soziale. Sie müssen keine Steuern zahlen, oder zumindest immer weniger, und wir „der Staat" investiert in Arbeitsplätze. Dabei wird immer verschwiegen, das diese „Soziale Marktwirtschaft" eine kapitalistische ist, und die richtet sich nach der Profitrate, also nicht nach dem Wohle der Menschen im Lande, sondern nach dem Wohle des eigenen Geldbeutels. Hier fragt keiner nach dem Sinn einer Versicherung von Arbeitslosigkeit? Ich zahle Beiträge ein, damit ich, wenn ich keine Arbeit mehr habe, einen Lebensunterhalt bekomme. Die Verantwortung der Arbeitgeber liegt nicht im Arbeitgeben sondern im Beteiligen an den Versicherungsbeiträgen. Die Frage, ob unserer Gesellschaft die Lohnarbeit ausgeht, wird hier unterschiedlich diskutiert, aber in den letzten 30 Jahren ist die Arbeitslosigkeit stetig gestiegen und im System der kapitalistischen Marktwirtschaft liegt die Produktivitätssteigerung, die Menschen aus dem Arbeitsmarkt herauskatapultiert. Immer mehr, bis das Versicherungssystem nicht mehr funktioniert. Und auch die Investitionen des Staates in neue Arbeitsplätze laufen letztlich auf das System der DDR hinaus: Auch Nichtstun wird bezahlt.

In den Fragen verstecken sich ja schon die Ansätze für wirkliche Reformen: Ein Versicherungssystem, das auf der Lohnarbeit beruht, hat ausgedient, wenn die Lohnarbeit zumindest immer weniger wird. Sicher wird es noch für eine Weile – wenn auch eingeschränkt – funktionieren, aber die Zahl derer, die nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt stehen, wird größer.

Das Gebot der Menschlichkeit verbietet Sklavenhandel und –arbeit. Heute müsste es die Lohnarbeit verbieten. An dessen Stelle muss die vielbeschworene Eigenverantwortlichkeit treten. Den Menschen muss klar werden – durch Informationen, Wissen und Lernen – dass eine Gesellschaft nur gemeinsam funktionieren kann. Dann, wenn alle gleichberechtigt Leistungen erbringen, die eine funktionierende Gesellschaft zum Ziel haben, kann dies gelingen. Wenn ein Teil der Gesellschaft bevorteilt wird, hier die Kapitaleigner, dann kann keine gerechte und soziale Gesellschaft entstehen.

Das „schneller, höher, weiter" steht dem im Weg. Die Illusion „jeder kann ein Gewinner sein" und sein Scherflein vom Finanzmarkt herausholen, führt dazu, dass der einfache Anleger seinem eigenen Profitstreben zum Opfer fallen muss und als Kostenfaktor weichen muss.

Ich will jetzt nicht die Wege wiederholen, die Peter Schilinski und andere in dieser Zeitschrift schon zum xten Male aufzeigten – und auf die wir noch x Mal hinweisen werden, sondern allein diesen Tatbestand beleuchten. Menschliche Qualitäten sind heute nur noch in den Illusionen von Hollywood zu entdecken, in den Filmen, die die Liebe, die Gerechtigkeit, Stille, Nachdenklichkeit, den inneren Weg stilisieren. Ein erster Schritt und vielleicht der wichtigste, ist hier auszusteigen aus der Illusion „Jeder ist ein Gewinner, ich bin dabei". Wirtschaftswachstum ist das Credo unserer Zeit, aber die Zukunft des Menschen ist es nicht. Vielleicht führt es nicht direkt in den Ruin der Welt, aber die Qualitäten eines gemeinsamen Lebens werden dadurch zerstört.

Die Filme aus Hollywood haben ja den Erfolg, weil sie die inneren Werte aufzeigen, auf die es auch im wirklichen Leben ankommt. „Zeit für Kinder", diese Kampagne zeigt, wo es im Argen liegt: Nicht mehr im Bewusstsein ist die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft, unsere Kinder. Das ausschließliche Sorgen für den bloßen materiellen Wohlstand bringt für unsere Kinder keine lebenswerte Zukunft.

Dieter Koschek

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Alternativer Nobelpreis 2003

Globalisierungskritische Netzwerke und wirtschaftliche Alternativen verbinden die fünf Preisträger des "Right Livelihood Award 2003" ("Alternativer Nobelpreis"), der am 9.12.2003 in Stockholm durch den Gründer Jakob von Uexküll überreicht wurde.

Walden Bello, ein Philippino, leitet in Bangkok das Netzwerk "Focus on the Global South" und ist weltweit als Globalisierungsgegner aktiv.

Sein Landsmann Nicanor Perlas teilt seine globalisierungskritische Haltung, fundiert sie allerdings aus dem Geist der Anthroposophie. Mit dem "Centre for Alternative Development Initiatives (CADI)" und der "Sustainable Agriculture Coalition" bringt er diese der Bevölkerung nahe.

Die "Bürgerkoalition für wirtschaftliche Gerechtigkeit (CCEJ)" aus Südkorea verbindet die sozio-ökonomische Bewußtseinsbildung der Bürger mit politischem Lobbying. Sie setzt sich auch für eine Aussöhnung mit Nordkorea ein, ist gegen die Entsendung von Soldaten in den Irak und will stattdessen den sozialen Aufbau der Zivilgesellschaft fördern.

Dr. Ibrahim Abouleish, ein Ägypter, der an der Grazer Universität studierte, baute in Ägypten ein "SEKEM-Netz" von biologisch-dynamischen Landwirtschaftsbetrieben und das "Center of Organic Agriculture in Egypt (COAE)" - nach DEMETER-Standards - mit vollständigen Stoffkreisläufen auf, die er durch Gesundheits-, Sozial- und Bildungseinrichtungen ergänzte.

David Lange, bis 1989 Premierminister Neuseelands, hatte die atomwaffenfreie Zone Südpazifik durchgesetzt. Als Advokat verteidigte er vor Gericht Atomgegner und bemüht sich als Delegierter von "Global Action" Staatsmänner von der Atomwaffenfreiheit zu überzeugen, an die sich Neuseeland bis heute hält.

Matthias Reichl

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Rechtsleben und Demokratie

Wenn man herausfinden möchte, was Rudolf Steiner eigentlich mit dem „Rechtsleben" des sozialen Organismus gemeint hat, wird man am besten möglichst viel Textstellen in seinen Werken aufsuchen, die von diesem Gliede handeln und sie aufmerksam studieren. Dabei kann man bemerken, dass da öfter von dem „eigentlichen staatlichen Gliede" die Rede ist sowie von „Demokratie" und vom „mündigen Menschen". Außerdem tauchen oft die Wörter „jeder" und „alle" auf. Das macht uns kaum Schwierigkeiten; denn wir sind es gewohnt, „alle" und „jeder mündige Mensch" zusammen mit Demokratie vorzustellen und Demokratie mit dem Staatlichen.

Um den genaueren Zusammenhang zwischen dem Gliede „Rechtsleben" des sozialen Organismus und „Demokratie" zu ermitteln, wird es nötig sein, näher zu bestimmen, was unter Demokratie zu verstehen ist. Da liegt es nun nahe, ein umfangreicheres Lexikon, zum Beispiel die Enzyklopädie von Brockhaus aufzuschlagen und nachzulesen, was dort unter dem Stichwort „Demokratie" abgedruckt ist. Die Hauptaussage – und dasjenige, worüber volle Einigkeit herrscht – ist, dass „Demokratie" als ein hoher Wert angesehen wird, großes Ansehen genießt. Die nächstwichtige (oder noch wichtigere) Aussage mag manchen überraschen: Über die Frage, was Demokratie ist, bestehen große Meinungsunterschiede.

Wenn umstritten ist, was man unter „Demokratie´" zu verstehen hat, bedeutet das, dass der Demokratie-Begriff noch gar nicht gebildet werden konnte; denn ein Begriff enthält ja alle Elemente, die für einen Sachzusammenhang von Bedeutung sind sowie ihre gegenseitigen Abhängigkeiten. So verstanden ist es ein Unsinn, von einem unklaren Begriff zu sprechen. Ein „Begriff" umfasst die klare Formulierung der betreffendenden Zusammenhänge. Da ist geordnet, was bedeutsam und was weniger bedeutsam ist und diejenigen Gesichtspunkte, die nicht in Betracht kommen, sind ausgeschieden.

Man darf wohl annehmen, dass die Brockhaus-Enzyklopädie den Demokratie-Begriff schildern würde, wenn er in Fachbüchern eindeutig formuliert wäre: woraus sich ableiten lässt, dass er noch nicht gefunden worden ist. Außerdem lässt sich schließen, dass mit dem Wort „Demokratie" viel manipuliert werden wird; denn wenn Demokratie „hoch im Kurs steht", hohes Ansehen genießt und gleichzeitig so unklar ist, worum es sich bei ihr eigentlich handelt, ist das Manipulieren besonders leicht, und es lässt sich mit Erfolg „im Trüben fischen".

Da die verschiedenen Wissenschaftszweige herkömmlicher Art keine eindeutige Aussage liefern, wird uns auch hier nichts anderes übrig bleiben, als nach Äußerungen Rudolf Steiners über Demokratie zu suchen. Der Geistesforscher hat andere Möglichkeiten als wir, die Begriffe zu erleben und dann so zu formulieren, dass mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes begriffen werden kann, worum es geht. Mir sind vier Passagen aufgefallen, in denen Rudolf Steiner näher charakterisiert, was unter „Demokratie" zu verstehen ist. Wenn wir uns mit ihnen befassen, so hat das nicht nur den Sinn, besser zu begreifen, was Demokratie bedeutet, sondern es geht darüber hinaus um das Verständnis des Gliedes „Rechtsleben"; denn wir werden damit – wegen der engen Verknüpfung von beiden – nur vorankommen, wenn wir wissen, was Demokratie ist.

Die erste Passage zum Thema „Demokratie" entnehme ich dem Bande „Soziale Zukunft" (GA 332a). Es handelt sich um eine Reihe von sechs öffentlichen Vorträgen (jeweils mit anschließender Fragenbeantwortung), die Rudolf Steiner Ende Oktober 1919 in Zürich gehalten hat. Der dritte Vortrag trug den Titel „Rechtsfragen. Aufgabe und Grenze der Demokratie. Öffentliche Rechtsverhältnisse und Strafrechtspflege". Darin heißt es:

„Wer lernt, sachgemäß zu sein in der Naturbetrachtung, kann diese sachgemäße Betrachtungsweise auch übertragen auf die Geschichtsbetrachtung. Und da findet man, dass aus den Tiefen der Menschennatur hervorgehend seit der Mitte des 15. Jahrhunderts eben gerade diese Forderung nach Demokratie sich entwickelt hat und in den verschiedenen Gebieten der Erde mehr oder weniger befriedigt worden ist, diese Forderung, dass der Mensch in seinem Verhalten zu anderen Menschen nur dasjenige gelten lassen kann, was er selbst als das Richtige, als das ihm Angemessene empfindet. Das demokratische Prinzip ist aus den Tiefen der Menschennatur heraus die Signatur des menschlichen Strebens in sozialer Beziehung in der neueren Zeit geworden. Es ist eine elementare Forderung der neueren Menschheit, dieses demokratische Prinzip.

Wer diese Dinge durchschaut, der muss sie aber auch völlig ernst nehmen, der muß sich dann die Frage aufwerfen: Welches ist die Bedeutung und welches sind die Grenzen des demokratischen Prinzips? – Das demokratische Prinzip – ich habe es eben charakterisiert – besteht darinnen, dass die in einem geschlossenen sozialen Organismus zusammenlebenden Menschen Beschlüsse fassen sollen, welche aus jedem Einzelnen hervorgehen. Dann können sie natürlich nur für die Gesellschaft bindende Beschlüsse dadurch werden, dass sich Majoritäten ergeben. Demokratisch wird, was in solchen Majoritätsbeschlüssen einläuft, nur dann sein, wenn jeder einzelne Mensch als einzelner Mensch dem anderen einzelnen Menschen als ein gleicher gegenübersteht. Dann aber können auch nur über diejenigen Dinge Beschlüsse gefaßt werden, in denen der einzelne Mensch als gleicher jedem anderen Menschen in Wirklichkeit gleich ist. Das heißt: Es können nur Beschlüsse gefasst werden auf demokratischem Boden, über die jeder mündig gewordene Mensch dadurch, dass er mündig geworden ist, urteilsfähig ist. Damit
aber haben sie – ich meine so klar als nur möglich – der Demokratie ihre Grenzen gezogen. Es kann ja nur dasjenige auf dem Boden der Demokratie beschlossen werden, was man einfach dadurch beurteilen kann, dass man ein mündig gewordener Mensch ist.

Dadurch schließt sich aus von demokratischen Maßregeln alles, was sich auf die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten im öffentlichen Leben bezieht. Alles, was Erziehung und Unterrichtswesen, was geistiges Leben überhaupt ist, erfordert die Einsetzung des individuellen Menschen..., erfordert vor allen Dingen wirkliche individuelle Menschenkenntnis, erfordert in dem Unterrichtenden, in dem Erziehenden besondere individuelle Fähigkeiten, die durchaus nicht dem Menschen dadurch eignen können, dass er einfach ein mündiggewordener Mensch ist. Entweder nimmt man es mit der Demokratie nicht ernst: dann lässt man sie beschließen auch über alles, was an individuellen Fähigkeiten hängt; oder man nimmt es mit der Demokratie ernst; dann muss man ausschließen von der Demokratie die Verwaltung des Geisteslebens auf der einen Seite. Man muss aber auch ausschließen von dieser Demokratie, was das Wirtschaftsleben ist. Alles was ich gestern entwickelt habe, beruht auf Sachkenntnis und Fachtüchtigkeit, die sich der einzelne erwirbt, in dem Lebenskreis wirtschaftlicher Art, in dem er drinnensteht. Niemals kann einfach die Mündigkeit, die Urteilsfähigkeit jedes mündig gewordenen Menschen darüber entscheiden, ob man ein guter Landwirt, ob man ein guter Industrieller und dergleichen ist. Daher können auch nicht Majoritätsbeschlüsse gefasst werden von jedem mündig gewordenen Menschen über dasjenige, was auf dem Gebiete des Wirtschaftsleben zu geschehen hat.

Das heißt, das Demokratische muss ausgesondert werden von dem Boden des Geisteslebens, von dem Boden des Wirtschaftslebens. Dann ergibt sich zwischen beiden das eigentlich demokratische Staatsleben, in dem jeder Mensch dem anderen als urteilsfähiger, mündiger, gleicher Mensch gegenübersteht, in dem aber auch nur Majoritätsbeschlüsse gefasst werden können über das, was abhängt von der gleichen Urteilsfähigkeit aller mündig gewordnen Menschen.

Wer diese Dinge, die ich eben ausgesprochen habe, nicht einfach abstrakt denkend sagt, sondern sie am Leben abmisst, der sieht, dass die Menschen gerade deshalb sich über diese Dinge täuschen, weil sie eigentlich unbequem vorzustellen sind, weil man nicht den Mut entwickeln möchte, in die letzten Konsequenzen dieses menschlichen Vorstellens einzudringen."

Die zweite Passage entstammt demselben Band 332a und steht im zweiten Vortrag. Da heißt es:

„Wer zum Beispiel den Ruf nach Demokratie ernst nimmt, der muss sich sagen: Diese Demokratie kann sich nur ausleben... , wenn jeder einzelne mündig gewordene Mensch, indem er gleichgestellt ist jedem andern mündig gewordenen Menschen gegenüber, entscheiden kann durch sein Urteil, was eben auf demokratischem Boden durch die Urteilsfähigkeit eines jeden mündig gewordenen Menschen entschieden werden kann."

Hier kommt deutlich heraus, wie Stellung und Tätigkeit des Einzelmenschen innerhalb des Staats- oder Rechtslebens aussehen müssen. Die von mir ausgelassene Stelle lautet: „in einer Volksvertretung oder durch ein Referendum". Die Worte „durch ein Referendum" konnten fallen, weil Rudolf Steiner in Zürich sprach.

Die dritte Passage zum Thema „Demokratie" entnehme ich dem Bande „Vom Einheitsstaat zum dreigliedrigen sozialen Organismus" (GA 334). Dort heißt es in der Dornacher Ansprache vor dem Schweizer Staatsbürger-Verein vom 18.4.1920: „Was heißt denn Demokratie? Demokratie heißt die Möglichkeit, dass die Menschen in bezug auf dasjenige, was für alle gleiche Angelegenheiten sind, was für jeden mündig gewordenen Menschen Angelegenheit des Lebens ist, dass darüber die Menschen, sei es durch Referendum, sei es durch Vertretung, selbst entscheiden."

Hier geht es um die Inhalte, die für das Glied „Rechtsleben" in Betracht kommen. Bei Beachtung der zwei von Rudolf Steiner genannten Kriterien kann keine Unterdrückung von Minderheiten entstehen, weil alle Landesbewohner von den Entscheidungsfolgen in gleicher Weise getroffen werden. Geeignet sind nur Inhalte, die im Leben aller Landesbewohner eine wichtige Rolle spielen (Rudolf Steiner: „Angelegenheiten des Lebens" sind) und bei denen die Entscheidungsfolgen alle Landesbewohner in gleicher Weise treffen (Rudolf Steiner: „für alle gleiche Angelegenheiten sind").

Die vierte Passage stammt aus dem öffentlichen Vortag „Geisteswissenschaft ( Anthroposophie) im Verhältnis zu Geist und Ungeist in der Gegenwart", den Rudolf Steiner am 4.5.1920 in Basel hielt (ebenfalls in GA 334). Dort heißt es:

„Es hat sich deutlich ergeben, dass diese neuere Zeit ganz unter dem Einfluss steht des Triebes, demokratisches, wahrhaft demokratisches Leben entwickeln zu wollen. Das hat die Menschen ergriffen, wie sonst den einzelnen Mensch die Geschlechtsreife erfasst oder andere Perioden des Lebens. Seit der Mitte des 15. Jahrhunders macht sich immer mehr und mehr geltend in der ganzen zivilisierten Welt der Ruf nach Demokratie, nach wahrer Demokratie. Und was ist wahre Demokratie? Ehrlich erfasst ist Demokratie ein solches Zusammenleben der Menschen im sozialen Organismus, dass jeder Mündiggewordene als Gleichberechtigter jedem anderen Mündiggewordenen gegenübersteht... Die Demokratie kann nur umfassen das politische Leben. Aber was ist das politische Leben geworden? Weil der Trieb zwar da ist, Demokratie zu bilden, aber dieser Trieb überall unterbrochen wird unter dem Einfluss des modernen materialistischen Ungeistes – was ist dieses Leben geworden? Es ist geworden statt eines rechtlichen Zusammenlebens, statt des wirklichen, vom Inneren des Menschen heraus geborenen Rechtslebens, ein Leben der Konvention. Wie wir im Geistesleben in der Phrase leben, so im Rechtsleben in den Konventionen, in dem, was paragraphenmäßig festgesetzt ist, dem der Mensch nicht mit seiner Seele angehört, sondern gehorcht, indem es von einer absoluten Macht oder zum Beispiel einer Demokratie konventionell festgesetzt wird. Das zweite, das Geisteswissenschaft mit Bezug auf die Dreigliederung des sozialen Organismus will, ist: Wirkliche Demokratie auf dem Gebiet, wo Demokratie sein kann, begründen. So dass die Konvention ersetzt wird durch dasjenige, was sich vom Innersten der Menschennatur heraus unter gleichberechtigten mündiggewordenen Menschen ergeben muss".

Nimmt man alle vier Fundstellen zusammen, so wird ersichtlich, dass es bei „Demokratie" um eine verbindliche Art des Beschließens geht, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts immer stärker angestrebt wird, bei der alle Bewohner eines Landes (geschlossener sozialer Organismus) gleichberechtigt an bestimmten Sach-Entscheidungen mitwirken dürfen.

Verbindlich wird, was die Mehrheit der an der Abstimmung Teilnehmenden will. Sachgemäß können die Ergebnisse nur sein, wenn allein solche Themen behandelt werden, die jedermann beurteilen kann. Das ist nämlich nicht der Fall, wenn es um individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse anderer geht, und auch dann nicht, wenn spezielle Sachkunde und Fachtüchtigkeit Voraussetzung sind.

Grundlage und Ausgangspunkt dafür, wie sich jeder einzelne entscheidet, ist sein Rechtsgefühl, ist dasjenige, „was er selbst als das Richtige, als das ihm Angemessene empfindet". Um welchen Themenkreis es bei wahrer Demokratie geht, lässt sich aus den oben zitierten Äußerungen Rudolf Steiners noch weiter konkretisieren, wenn man darüber nachdenkt, welche Fragen es sind, über die sich „jeder mündig gewordene Mensch" ein zutreffendes Urteil bilden kann. Es sind diejenigen, deren Entscheidungsfolgen jeden in gleicher Weise treffen. „In gleicher Weise" meint, „nach Art und Umfang gleich". Das sind vor allem diejenigen Rechtsansprüche und Pflichten, die nach dem mehrheitlichen Willen des aktiven Teils der Bevölkerung für alle annähernd gleich sein sollen und solche Einzelentscheidungen, deren Folgen nach Art und Umfang alle Bewohner (annähernd) gleich treffen.

 

Lutz von Lölhöffel

 

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Regieren im Sinne der Sozialen Dreigliederung

Als erste Regierungshandlung würde ich mir etwas zu denken haben - nicht wahr, wir reden ja natürlich hier ganz offen -, was selbstverständlich mit der Frage wenig zu tun hat, was ich machen würde, wenn ich, meinetwillen, ins Arbeitsministerium gesetzt würde, dadrinnen Gesetzbücher und dergleichen vorfände und nun dort weiterzuarbeiten hätte. Ich bemerke da nur zum voraus formell, daß ich mit der Abfassung der Resolution, von der Sie sprechen, nicht das Geringste zu tun gehabt habe. Ich würde diese Interpretation der Resolution nicht annehmen können, sondern nur meinen Standpunkt charakterisieren können zu dieser Frage.

Zum Beispiel würde ich zunächst feststellen müssen, daß ich überhaupt in ein Arbeitsministerium durchaus nicht hineingehöre, daß ich da nichts zu tun hätte, aus dem einfachen Grunde, weil es ein Arbeitsministerium innerhalb der einheitlichen staatlichen Gemeinschaft in der nächsten Zukunft schon nicht mehr geben kann. Daher habe ich neulich einmal davon gesprochen in einem Vortrag, daß die erste Regierungshandlung darin bestehen müßte, die Initiative zu verschiedenen Dingen zu ergreifen, um damit zunächst einmal eine Grundlage für [das weitere Vorgehen] zu schaffen.

Erstens muß man verstehen, daß eine heutige Regierung gewissermaßen die Fortsetzung desjenigen ist, was sich als Regierung aus früheren Zuständen ergeben hat. In der gradlinigen Fortsetzung der früheren Zustände liegt aber lediglich ein Teil dieser Regierung, und zwar derjenige, der etwa umfassen würde das Justizministerium, das Ministerium des Innern - für innere Sicherheit - und das Ministerium für Hygiene. Diese Dinge würden in der Fortsetzung desjenigen liegen, was aus früheren Regierungsmaximen sich ergeben hat. Für alles übrige müßte eine solche Regierung die Initiative ergreifen, ein Liquidierungs-Ministerium zu werden, das heißt ein Ministerium, das nach links und nach rechts bloß die Initiative ergreift, um den Boden zu schaffen für ein freies Geistesleben, das auf seiner eigenen Verwaltung und Verfassung beruhen würde und das sich aus sich selbst heraus zu organisieren haben würde, wenn der Übergang überwunden ist von den jetzigen zu den folgenden Zuständen. Da würde diese Verwaltung auch eine entsprechende Vertretung haben, die dann natürlich nicht so gestaltet sein könnte wie die heutigen Volksvertretungen, sondern die herauswachsen müßte aus den besonderen Verhältnissen des geistigen Lebens. Das würde sich bilden müssen rein aus der Selbstverwaltung des geistigen Lebens heraus; es kommt dabei besonderes das Unterrichts- und das Kultuswesen in Betracht - das müßte nach der einen Seite hin abgegeben werden an die Selbstverwaltung des geistigen Lebens.

Nach der anderen Seite müßte wiederum ein Liquidierungs-Ministerium an das autonome Wirtschaftsleben alles das abgeben, was zum Beispiel Verkehr und Handel ist; auch das Arbeitsministerium müßte seine Verwaltung finden in Organisationen, die sich aus dem Wirtschaftsleben herausbilden würden. Das wären natürlich sehr radikale Dinge, aber von dieser Seite aus können das nur radikale Dinge sein. Erst dann würde ein Boden geschaffen sein für irgendeine Behandlung von konkreten Fragen.

Aus einem Frageabend am 25. Mai 1919, als Rudolf Steiner sich äußern sollte, wie er sich die zukünftige Regierungsweise vorstellt (Gesamtausgabe Band 337a)

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Ausverkauf der Städte und Gemeinden - Am Beispiel Bremens

Das "General Agreement on Trade in Services" (GATS) - das "Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen" - wurde in den 90er Jahren innerhalb der GATT-Runden erarbeitet (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen). Es sollte 1. der "Wildwuchs" unzähliger internationaler Handelsvereinbarungen neu geordnet, 2. der sich rapide entwickelnde Dienstleistungshandel mit einbezogen und 3. eine internationale Handelsorganisation geschaffen werden.

Beide Übereinkommen, das zur Errichtung der Welthandelsorganisation WTO und das über den Handel mit Dienstleistungen, wurden 1994 in Marrakesch von den Mitgliedsstaaten beschlossen. Die WTO - Rechtsverordnung trat 1995 in Kraft; Sitz der WTO ist Genf.

Ziel ist hierbei die globale Öffnung und Liberalisierung des gesamten Dienstleistungssektors für den Markt und den Wettbewerb. Und zwar geht es um die kommerziellen Dienstleistungen, um die staatlichen und kommunalen Dienstleistungen und auch um die Dienstleistungen in freier Trägerschaft.

Diese Dienstleistungen werden auch benannt: Sozialdienste, Gesundheitswesen, Energie, Personen- und Gütertransport, Tourismus, Museen, Bibliotheken, Verwaltung, Reinigungswesen, Müllentsorgung, Kultur, Schulen (auch Forschung und Universitäten), Post, Wasserversorgung und -entsorgung, Radio und Fernsehen, Altenpflege, Kinderbetreuung. Auch Banken und Versicherungen fallen darunter.

Dabei sind vier Grundprinzipien von den Mitgliedsstaaten zu beachten: 1. Transparenz (das heißt Regierungen müssen alle Gesetze und Normen offen legen, die den Handel mit Dienstleistungen behindern könnten), 2. Meistbegünstigung (kein ausländischer Anbieter darf schlechter gestellt werden als ein anderer ausländischer Anbieter), 3. freier Marktzugang, 4. Inländerbehandlung (ausländische Anbieter dürfen nicht schlechter gestellt werden als inländische Anbieter).

Bis Juni 2002 mussten alle 144 WTO-Mitgliedsstaaten darlegen, welche Dienstleistungssektoren anderer Mitgliedsstaaten sie zur Liberalisierung erwünschen. Bis März 2003 waren alle jene Bereiche zu benennen, die sie selbst liberalisieren wollen. Die Beschlüsse sollen bis 2005 umgesetzt werden (soweit sie nicht bis dahin bereits auf anderen Wegen realisiert werden).

Innerhalb der Europäischen Union bewilligten nicht die Mitgliedsstaaten das GATS, sondern die EU-Kommis-sion zentral für alle EU-Mitgliedsstaaten. Einmal von den Mitgliedsstaaten eingegangene Liberalisierungs-Verpflichtungen können nicht mehr zurückgezogen werden.

Nach Artikel 1 des GATS gilt das Abkommen für Maßnahmen der Mitglieder, „die den Handel mit Dienstleistungen beeinträchtigen". Gemeint sind „Maßnahmen" von zentralen, regionalen oder örtlichen Regierungen und Behörden sowie von nichtstaatlichen Stellen, denen Aufgaben übertragen wurden. Unter "Maßnahmen" werden Gesetze, Vorschriften, Regelungen, Beschlüsse, Verwaltungshandeln oder sonstige Formen verstanden. "Erbringung einer Dienstleistung" umfaßt die Produktion, den Vertrieb, die Vermarktung, den Verkauf und die Bereitstellung der Dienstleistung.

Zwar sollen nach dem weiteren Wortlaut des Artikels 1 Dienstleistungen in Ausübung hoheitlicher Gewalt, die "weder zu kommerziellen Zwecken noch im Wettbewerb mit anderen Dienstleistungsanbietern erbracht werden", ausgenommen sein. Aber: Stehen öffentliche Universitäten, Schulen, Krankenhäuser etwa nicht mit privaten Trägern im Wettbewerb? Sind Studiengebühren, Rezeptgebühren und Straßenbahntickets etwa nicht eine "kommerzielle Basis"?

Es wird künftig einen absoluten Vorrang für die kommerziellen Anbieter geben. Jedesmal, wenn ein privater Anbieter in bestimmter Qualität eine Dienstleistung erbringt, hat sich die Kommune oder der gemeinnützige Träger zurückzuziehen und dem Privaten das Feld zu überlassen, andernfalls sind Sanktionen auch wegen unzulässiger Subventionierung zu befürchten. Es können dann auch die kommerziellen Anbieter öffentliche Zuschüsse oder Fördergelder im Sinne der Gleichbehandlung beanspruchen - es sei denn, die Kommune verzichtet auch für ihre eigenen oder gemeinnützigen Einrichtungen auf eine Finanzierungshilfe.

Das GATS greift also auch stark in den Bereich hinein, der auf kommunaler Ebene besonders stark ausgeprägt ist: in das gemeinwohlorientierte Betätigungsfeld der Gemeinnützigen, der freien Träger, der Eltern- und Bürgerinitiativen mit selbstverwalteten Einrichtungen, die Dienstleistungen selber organisieren und in Eigenverantwortung erbringen. Gerade auch im eigentlich rechtlichen Bereich wird die Kommune angegriffen, also nicht nur dort, wo sie sich vielleicht tatsächlich fragwürdig im Kultur- oder Wirtschaftsbereich betätigt. Das noch vorhandene Gemeineigentum wird "unter der Hand" (ohne die Bürger zu beteiligen) verkauft. Nicht mehr die gewählten Volksvertreter bestimmen über Fragen der kommunalen Dienstleistungen, sondern private - auch ausländische - Investoren.

Was wird hier denn eigentlich gespielt?

Renato Ruggiero, ehemaliger Direktor der WTO: "Das GATS umfaßt Bereiche, die noch nie zuvor als Handelspolitik angesehen wurden. Ich vermute, daß weder die Regierungen noch die Geschäftswelt die volle Reichweite und den Wert der eingegangenen Verpflichtungen erkannt haben".

David Hartridge, ehemaliger Direktor der GATS-Abteilung im WTO-Sekretariat: "Ohne den enormen Druck der amerikanischen Finanzdienstleistungsindustrie, insbesondere von Firmen wie American Express oder Citicorp, hätte es kein GATS gegeben."

Leon Brittan, ehemaliger EU-Handelskommissar und jetziger Lobbyist des Finanzzentrums der Londoner City: "Die enge Verbindung zwischen der EU und der US-Industrie war ein wesentlicher Faktor beim Zustandekommen des endgültigen Deals."

Die Börsen setzen weltweit etwa 1,5 Billionen Dollar täglich auf den Finanzmärkten um. 1970 waren es noch 70 Milliarden Dollar, Die Riesensummen an privatem Geldvermögen wollen sich wie ein Naturgesetz aufgrund der bestehenden Geldordnung mit ihrem Zinseszinssystem immer weiter vermehren. Immer mehr Reichtum schafft immer mehr Armut und immer mehr Armut /Verschuldung schafft immer mehr Reichtum in immer konzentrierterer Form. Die Geldbesitzer betrachten das gesamte Wirtschaften als Mittel der Geldvermehrung – und das Geldsystem verleitet sie dazu.

Aus der Sicht der Spekulanten entziehen ihnen nun die kommunalen Dienstleistungen Unsummen an Geldern. Veröffentlichungen der Weltbank besagen, dass weltweit mit der Trinkwasserversorgung über eine Billion Dollar jährlich erzielt werden könnte. Im Gesundheitswesen rechnet man mit etwa zwei Billionen Dollar und im Bildungswesen sogar mit 3,5 Billionen Dollar.

Die Grundidee der Freihandelstheorie, auf die das alte GATT noch baute, ist hierbei nicht mehr zu sehen. David Ricardo drückte die Theorie der komparativen Kostenvorteile 1817 noch folgendermaßen aus: "Bei einem System des vollkommen freien Handels wendet natürlich jedes Land sein Kapital und seine Arbeit solchen Zweigen zu, die jedem am vorteilhaftesten sind. Dieses Verfolgen des individuellen Vorteils ist bewundernswert mit dem allgemeinen Wohl des Ganzen verbunden."

Das "allgemeine Wohl des Ganzen" ist verschwunden. Geblieben ist allein der "individuelle Vorteil".

Emfehlungen der Enquete-Kommission des Bundestages

Die Kommission arbeitete von 2000 bis 2002 und legte dem Deutschen Bundestag die folgenden Empfehlungen vor (und machte sie dadurch öffentlich bekannt):

1. Erhaltung der Flexibilität (die souveräne Entscheidungskompetenz der EU-Mitgliedsstaaten muss erhalten bleiben).

2. Folgeabschätzungen vor Übernahme weiterer Verpflichtungen (plus öffentliche Diskussion darüber).

3. Ausschluss von Bildung und weiteren Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge aus den GATS-Verhandlungen.

4. Keine Unterschreitung der EU-Standards und Normen im Bereich der Berufsqualifikationen, technischen Normen und Lizenzierungsverfahren.

5. Einbeziehung von Arbeits-, Sozial- sowie Umweltstandards.

6. Einbeziehung aller Beteiligten in die Beratungen (Parlamente, Wirtschaftsverbände, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und andere Verbände).

Im März 2003 äußerte der Bundestag mehrheitlich „schwerwiegende Bedenken" gegen die GATS-Bestrebungen. Die Abgeordneten sehen unter anderen Probleme bei der Definition des Begriffs der öffentlichen „Daseinsvorsorge", deren Dienstleistungen bevorzugt liberalisiert werden sollen.

Auswirkungen von GATS

Der Kreis Nordfriesland verkauft seine drei Kreiskrankenhäuser in einem einzigen Akt und mit dem Personal an eine große Kapitalgesellschaft.

Kommunen in Nordrhein-Westfalen verkaufen ihre Aktienanteile an der Gelsenwasser Aktiengesellschaft (Trinkwasserversorger für sieben Millionen Menschen) an Private. Die Aktiengesellschaft will nun an die Börse gehen.

Jegliches "Tafelsilber" in Form von Gebäuden und Grundstücken haben die Kommunen des Ruhrgebiets bereits an Private verkauft.

In Recklinghausen hat das Leihwagenunternehmen Sixt versucht, die behördliche Kraftfahrzeug-Zulassungsstelle selber kostensparend für bundesweite Zulassungen zu übernehmen.

In Großbritannien sind die Wasserpreise nach der Liberalisierung um knapp 50 Prozent, in Bolivien innerhalb weniger Wochen sogar um 100 Prozent gestiegen.

In Großbritannien wurde bis zu 19000 Haushalten der Wasserhahn vorübergehend abgedreht, weil sie die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten.

In Großbritannien wurden die privaten Wasserversorger bereits 128mal wegen Vernachlässigung der Infrastruktur und minderer Wasserqualität verurteilt. Die Hepatitis-A-Fälle haben sich um 200 Prozent erhöht.

Bei der privaten britischen Eisenbahngesellschaft Railtrack gibt es wieder 72-Stunden-Wochen und keine bezahlten Urlaubs- und Krankheitstage.

Amerikanische Investoren leasen das Gelsenkirchener Kanalnetz. Erlös für die Stadt: 12,4 Millionen Dollar. US-Investoren leasen in Nürnberg das Untergrundbahn-Netz, in Köln die Klärwerke.

Die kommunalen Kliniken in Bremen sollen in eine GmbH unter dem Dach einer Holding überführt werden.

Das Untergrundbahn-Netz in Frankfurt soll an einen US-Investor vermietet und wieder zurückgemietet werden. Mit den Einnahmen von 100 Millionen Euro sollen die Schulden abgebaut werden.

In Niedersachsen bestehen Pläne, Schulen zu vermieten, Rathäuser zu verkaufen und Straßenbahnen an US-Investoren zu verpachten. In Goslar wurde das Kreishaus verkauft und anschließend zurückgemietet. Dadurch sollen in fünf Jahren 33 Millionen Euro Schulden abgebaut werden,

Die Hannoverschen Verkehrsbetriebe vermieteten Stadtbahnwagen für rund 235 Millionen Dollar an ein US-Unternehmen und leasten sie zugleich wieder zurück. Ebenso Bonn.

Eine Stadt zum Konzern machen?

Es ist auch in Bremen klar: Dem beabsichtigten Durchmarsch des GATS "von oben" bis in das Kommunalwesen hinunter kommt Bremen - aufgrund der dramatischen Haushaltsverschuldung - nun mit offenen Armen "von unten" entgegen. Schuldenstand 2002: 9,3 Milliarden Euro. Haushaltsdefizit aller Gebietskörperschaften Bremens 2002: 1,2 Milliarden Euro. Die Zinsleistungen und die Schuldentilgung am Kreditmarkt sind zusammengerechnet der größte Ausgabenposten im Lande Bremen (Land und zwei Kommunen).

Da eine Entschuldung der Bremer Haushalte a) mit den bisherigen Rezepten: Steuererhöhung, Einnahmensuchprogramme (zum Beispiel auf der Autobahn), Wirtschaftsinvestitionsprogramme (Space-Park, Ocean-Park) und Sparen sowie b) aufgrund der jetzigen Geldordnung mit dem Zinseszinssystem überhaupt ganz unmöglich ist, will man nicht das gesamte Gemeinwesen Bremen kaputt sanieren, wird nun nach dem "Rettungsanker" GATS und der Liberalisierung kommunaler Dienstleistungen mit gleichzeitiger Beseitigung gesetzlicher Privatisierungshindernisse gegriffen. Die "GATS-Modell-Stadt Bremen" soll entstehen.

Wenn kommunale Dienstleistungen von weltweit agierenden Konzernen aufgekauft werden, damit Geldanleger aus ihrem Geld immer noch mehr Geld machen können, wird verfassungswidrig unser Rechts- und Sozialstaat sowie überhaupt unser demokratisches Gemeinwesen beseitigt. Darüber hinaus agieren die Konzerne und Geldanleger innerhalb des GATS wie "Schmarotzer", denn sie saugen den sozialen Organismus aus.

Bremen kommt dem GATS entgegen mit dem von der Unternehmensberatung Roland Berger impulsierten "Bremer Modernisierungs-, Steuerungs- und Sanierungskonzept", in dem dann nicht mehr vom „Bundesland Bremen", der "Freien Hansestadt Bremen" oder der "Stadt Bremen" die Rede ist, sondern bezeichnenderweise vom "Konzern Bremen" (unter einem Konzern versteht man bislang den Zusammenschluss von wirtschaftlichen Unternehmen). Ziel ist es hierbei, Bremen zu sanieren und 2005 einen - im Gegensatz zu heute - verfassungskonformen Haushalt vorzulegen.

Die Bürger werden - so scheint es - ihre Stadtverwaltung dann nicht mehr wiedererkennen. Zitat aus dem Konzept: "Es ist ein umfassender Umbau der Verwaltung erforderlich... Eine solche Verwaltung der Zukunft erfordert ein verändertes Denken bei allen Beteiligten in Politik und Wirtschaft, bei den Bürgern und bei den Dienstleistern. Dabei müssen alle Glaubenssätze und althergebrachte Grundsätze öffentlichen Handelns neuen Paradigmen weichen."

Welche Paradigmen sind hier wohl gemeint? Als Kommunalbeamter der Stadt Bremen habe ich meinen Amtseid auf das Grundgesetz und auf die Bremische Landesverfassung abgelegt. Nach dem Bremischen Beamtengesetz bin ich "Diener des ganzen Volkes und nicht einer Partei". Und ergänzend muss gesagt werden: "Ich bin auch nicht Diener eines Konzerns!"

Mit ihrem Volksentscheid vom 12.10.1947 gaben sich die Bremer Bürgerinnen und Bürger ihre Bremische Landesverfassung selbst, gaben sich selbst den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen sie ihr Gemeinwesen freiheitlich, demokratisch und solidarisch gestalten wollen.

Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung ist nicht nur im Artikel 144 der Bremischen Landesverfassung verankert, sondern wird bundesweit im Artikel 28 des Grundgesetzes gewährleistet.

Wichtig ist in dem hier beschriebenen Zusammenhang erst einmal der Artikel 23 des Grundgesetzes, der die Europäische Union zum Gegenstand hat; die EU-Kommission ist ja Beteiligte und Partnerin bei den GATS-Verhandlungen: "Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist..."

Dieser Grundsatz der Subsidiarität fordert einen grundsätzlichen Vorrang der jeweils unteren Ebene in Europa bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, meint also insbesondere auch die kommunale Selbstverwaltung im Sinne des Artikels 28. Der Vertrag der Europäischen Gemeinschaft von Maastricht hat diesen Gedanken selbst in Artikel 5 des EG-Vertrages aufgenommen.

Zum Ausdruck kommt hierbei die Aktivierung der Gemeindebürger für ihre eigenen Angelegenheiten und damit ein Stück Demokratie durch Beteiligung der Staatsbürger an der Gestaltung ihres engeren Lebenskreises.

Das Recht der Selbstverwaltung ist den Gemeinden ausdrücklich nur im Rahmen der Gesetze gewährleistet. Dieser Gesetzesvorbehalt ermächtigt das Bundesland zu Eingriffen durch Regelung über die Art und Weise der Erledigung der örtlichen Angelegenheiten, durch Entzug und Schmälerung kommunaler Aufgaben, aber auch durch Übertragung neuer Aufgaben. Dem Gesetzgeber kommt dabei ein weiter Regulierungsspielraum zu. Seine Gestaltungsfreiheit ist jedoch insofern begrenzt, als die kommunale Selbstverwaltung in ihrem Kernbestand und Wesensgehalt unangetastet bleiben muss.

Der Entzug von Aufgaben mit relevantem örtlichen Charakter kommt danach nur aus Gründen des Gemeininteresses, insbesondere dann in Betracht, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre.

Zwar kann also durch gesetzliche Regelung in das kommunale Selbstverwaltungsrecht eingegriffen werden, doch ist nach alledem, was hier beschrieben wurde, zu befürchten, dass der "Rettungsanker" GATS dann aber den "Kernbestand" und "Wesensgehalt" der kommunalen Selbstverwaltung beseitigen wird. Diese Maßnahme, die gesetzlich beschlossen werden soll, ist somit nach der oben genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig! Außerdem macht die Maßnahme offenbar, dass die Kommunen bankrott sind.

Mahnend erklingt jetzt an dieser Stelle und unter Hinweis auf die in der Bremischen Landesverfassung durch Volksentscheid beschlossenen Gemeinwohl-Werte die - in diesem Zusammenhang abgewandelte - alte Indianerweisheit:

Erst wenn unsere Gemeinden und unser Land

in den Händen von Großkonzernen sind,

werden wir begreifen, dass wir versäumt haben,

miteinander unsere Zukunft zu gestalten!

Was ist zu tun?

In bezug auf die GATS-Verhandlungen ist darauf hinzuweisen, dass die Stadt Göttingen sich durch Beschluss des Stadtrats den Forderungen von Attac angeschlossen hat: - Verhandlungsstop, - Abschätzung der Folgen, - verfassungsmäßige Garantie der Rechte auf Wasser, Bildung, Gesundheit, - Umkehr der Beweislast, - demokratische Modernisierung durch Bürgermitgestaltung.

In bezug auf die Situation in Bremen sind folgende Wege gangbar:

1. Umgehend Gespräche führen mit dem Bürgermeister und mit den Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft.

2. An die "Reformkommission" sich wenden.

3. Petitionen an die Bremische Bürgerschaft richten,

4. Leserbriefe und offene Briefe mit Unterschriftenliste schreiben.

5. Einen Gesetzesvorschlag durch Bremer Bürger der Bürgerschaft vorlegen mit dem Inhalt, dass die Verwaltung des Haushalts der Stadt Bremen einer Stiftung übertragen wird (wenn der Haushalt in Bremen bereits jetzt von einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung geführt wird, dann muss es erst recht möglich sein, eine Stiftung dafür zu gründen, die gemeinnützig arbeiten und Zustiftungen und zweckgebundene Spenden vereinnahmen kann); bei Ablehnung einen Volksentscheid herbeiführen.

6. Einen Gesetzesvorschlag durch Bremer Bürger der Bürgerschaft vorlegen mit dem Inhalt, dass Volksentscheide auch über den Haushalt Bremens rechtlich möglich sein müssen; bei Ablehnung einen Volksentscheid herbeiführen.

7. Einen Gesetzesvorschlag durch Bremer Bürger der Bürgerschaft vorlegen mit dem Inhalt, in Bremen eine lokale Zweitwährung einzuführen mit dem Ziel, damit ausschließlich die regionale Wirtschaft zu unterstützen und - unter Beteiligung der Stadt Bremen an dieser Währung - damit die Stadt Bremen zu entschulden; bei Ablehnung einen Volksentscheid herbeiführen.

8. Individualverfassungsbeschwerde einreichen, da Grundrechte verletzt werden,

9. Kommunalverfassungsbeschwerde versuchen durch Parteien und Fraktionen.

10. Die "Pflicht" zum Widerstand gemäß Artikel 19 der Bremischen Landesverfassung ausüben.

 

Manfred Steinbach, Institut für Soziale Ökologie,
Weißenberger Straße 29, 28211 Bremen.
(Ein ausführlicherer Text zum
Thema steht dort zur Verfügung.)

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Bürgerliches Engagement

Die aus München stammende „Süddeutsche Zeitung" ist durchaus im bürgerlichen Kreise eingebettet. Doch gelangen immer wieder auch sehr unkonventionelle Gedanken zum Vorschein, werden alternative Bemühungen oft mit Sympathie begleitet, und es wird nicht mit Kritik am selbstgefälligen Establishment gespart, gerade auch was bayrische Verhältnisse angeht. Durch den im Frühjahr 2003 verstorbenen Herbert Riehl-Heyse war über Jahre hinweg jene journalistische Offenheit mit möglich geworden.

Einen interessanten Beitrag lieferte er im Februar 2001 für die Wochenendbeilage seiner Zeitung. Es ging um die Würdigung für ehrenamtliche Arbeit. Er fand unter anderem die Formulierung, diese sei als „Kitt der Gesellschaft" zu bezeichnen. Über zehn Millionen Bundesbürger, so wird geschätzt, üben eine freiwillige Tätigkeit im sozialen Umfeld aus. Der stille Einsatz für Alte, Heranwachsende, Nachbarschaft, sonstige Gemeinsamkeiten verschiedenster Art, Projekten auch in ferneren Regionen der Erde und für die Anliegen der Natur findet nur selten Würdigung in den Medien. Aber die Regeln des Massenjournalismus, das beklagte auch Herbert Riehl-Heyse, meiden die ruhige Arbeit des Guten.

Das Verbrechen, die Katastrophe wird bevorzugt. Weniger interessiert, wo solches verhindert worden ist. Er vermutet, dass die Schilderung dieser Tätigkeit in Bereichen von Krankheit und Not, also wo naheliegend wirklich Helfendes geschieht, die Leute abschreckt, weil sie selber viel von den dunklen Seiten verdrängen, die mit ihnen zu tun haben. So ist das fernere Unglück eher zugelassen (und rückt vielleicht doch ganz schön nahe).

Jedenfalls findet das, was man jetzt offiziell „bürgerschaftliches Engagement" nennt, auch neuen Zuspruch. Jugendliche engagieren sich möglicherweise weniger bei der heimatlichen Freiwilligen Feuerwehr. Doch werden zunehmend Angebote wahrgenommen, eine Zeitlang bei sozialen oder ökologischen Projekten, auch in anderen Ländern, mitzumachen. Woraus dann sogar berufliche Perspektiven hervorgehen können! Da ist etwas im Gange, was auch wesentlich zur Globalisierung gehört. Die ganz konkret und praktisch wahrgenommene Verantwortung des Einzelnen für Vorgänge auf der Erde insgesamt.

Daneben brechen auch alte Festlegungen immer mehr auf. Etwa wenn Herbert Riehl-Heyse schreibt, wie bei der Aktion Seitenwechsel erfolgreiche Manager „bei der Schuldnerberatung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes arbeiten und erfahren, wie viel Schaden sie anrichten, wenn sie in ihrer Eigenschaft als Bankchefs den Leuten zu viel Kredit geben".

Aber auch die „jungen Alten", die gar nicht ausgelasteten Pensionäre mit teilweise reicher Berufserfahrung, werden immer wichtiger für den Bereich freiwilliger Arbeit. Es müssen zwar manche Klippen genommen werden, bis ein ehemaliger Personalchef sich in die Arbeitsgemeinschaft einer Projektgruppe hineingefunden hat, ohne gleich alles umkrempeln und dirigieren zu wollen, doch ist seine fachliche Beratung oft von großem Wert.

Man sollte „viel mehr solche Geschichten und Biographien erzählen, um eine Ahnung davon zu erzeugen, wie spannend es werden kann, wenn jemand eines Tages feststellt, dass der Aufstieg vom stellvertretenden Filialleiter zum Filialleiter nicht der Sinn des Lebens ist", resümiert Herbert Riehl-Heyse vielleicht auch die eigene journalistische Tätigkeit. So erwähnt er die Sekretärin, „die eines Tages die Berichte über die Kriegsgreuel am Balkan nicht mehr aushielt und fast im Alleingang eine Ambulanz für vergewaltigte Frauen in Bosnien einrichtete; oder von der 85-jährigen Dame, die ganz allein die Aktion ‚Jugend für Jugend’ zugunsten sozial benachteiligter Schüler gründete..."

Solches Aufbrechen in der Biographie zu einer wirklich freien Hinwendung lässt eine Zukunft erahnen, wohin wohl auch Herbert Riehl-Heyse mit diesen Zeilen zielt. In der ein eigenes Aufgreifen von Verantwortlichkeit nicht nur „Kitt einer sonst zerbröselnden Gesellschaft" ist, sondern geradezu deren Fundament wird.

Jürgen Kaminski

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Tagungsrückblick: "Clash of Civilization "
„Neue Soziale Impulse aus der Gesellschaft" vom 25.9. - 29.9. in Überlingen
Veranstalter: Freie Waldorfschule am Bodensee in
Überlingen, Initiative Bodensee der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland e. V. mit Unterstützung der Initiative Colibri.
Den Eröffnungsvortrag hielt Nicanor Perlas, Direktor des "Center for alternative Development Initiatives " und Berater im Präsidialamt der Philippinen zum Thema: "Die Zukunft Europas im Zeitalter des US-Imperiums".
Bestimmte geäußerte Aspekte über die USA, so Perlas, haben nichts mit der Sympathie für Amerika oder den Amerikanern zu tun, sondern mit der Struktur der Macht. Was bringt einen Asiaten dazu, in Europa über die USA zu sprechen? Erfahrungen im eigenen Land als biologisch-dynamischer Landwirt. Vor 30 Jahren begann Nicanor Perlas auf den Philippinen Prozesse zu verfolgen. Man hatte schließlich ein Einfuhrverbot für Pestizide im ganzen Land erreicht. Durch die WHO (Welthandelsorganisation) 1993 in Malaysia wurde dieses Verbot umgestossen. Durch GATS war es seitdem sehr schwer, das Erreichte zu erhalten.
Perlas machte die Zusammenhänge der Ziele sowie auch der Strategie der USA als Weltmacht deutlich. Diese sind "der Kampf der Kulturen", die führende Rolle in den Organen des Imperiums: Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Welthandelsorganisation (WHO) einzunehmen und Kriege zu führen.
Daneben hat sich die "Zivilgesellschaft" ( Bürgerbewegung) weltweit entwickelt. Sie ist jetzt im Bewusstsein der Mächtigen. Sie rechnen in ihren Verhandlungen mit ihr. Sie ist die dritte Kraft im Weltprozess neben den Kräften des Staates und der Märkte. Es geht darum, dass sie diese Identität selbst erkennt und bewahrt. Es gibt einen Kampf um Seele und Geist Europas.
Europa ist am Scheideweg zweier Optionen:
1) Europa als wirtschaftliche Gegenmacht zu den USA. mit wirtschaftlicher Kontrolle über andere Länder
2) Die Wirtschaft in ein gesundes Verhältnis zur Politik und Kultur bringen.
Dies ist der eigentliche Zukunftsweg.
Zweiter Vortrag: "Israel zwischen westlichem und östlichem Fundamentalismus." mit Dr. Jesaiah Ben Aharon. Gründer des Kibutz Harduf und der NGO "Activists for Israeli Civil Soziety.
Er bezog sich auf die Darstellung von Nicanor Perlas und sah den Krisenherd in Nahost als ein von den USA gelenktes Szenario. Er entwickelte die politische und menschliche Lage der Israelis und Palästinenser. Seit der 2. Intifada (Oktober 2000) geht der Riss durch Israel selbst. Die USA und der Islamismus rechnen mit der Schwäche der "Verschwundenen Mitte". Das ist die Wunde der Menschheit im 20. Jahrhundert. Sie bestehe überall, aber besonders im 21. Jahrhundert könne man die Wunde sehen und heilen, wenn einzelne freie moralische Menschen, die die beiden Seiten sehen können, sich in schmerzhafte und gefährliche Situationen hineinstellten. Man muss dem Bösen ins Antlitz schauen. Es geht auch um die moralische Substanz des jüdischen Volkes. Dies sei die Situation unserer Zeit, so Dr. Jesaiah Ben Aharon.
Carol Bergin, Johannes Lauterbach und Ulrich Morgenthaler (Inititative Colibri) gaben am dritten Abend Beiträge von eindrucksvoller Art über ihre Aktivitäten als Teilnehmer des letzten Weltsozialforum in Mexiko.
Die Initiative Colibri ist ein freier Zusammenschluss von Menschen, die sich entschlossen haben, mit ihren Mitteln Beiträge für eine menschenwürdigere Welt im Sinne der individuellen und sozialen Menschenrechte, der globalen Gerechtigkeit und Solidarität zu leisten
Die Vorträge waren sehr gut besucht; in den Seminaren und beim Podiumsgespräch wurde vertieft und erweitert durch die Fragestellungen z.B. wie die Dreigliederung des sozialen Organismus in diesen Prozessen wirksam wird, oder welche Ideen die Aktiven von der Dreigliederung im Sozialen entwickeln. Nicanor Perlas schilderte drei Stufen der Dreigliederung:
1) De Facto Dreigliederung (man findet sie, wenn man soziale Verhältnisse konkret studiert)
2) Bewusste Dreigliederung
3) Fortgeschrittene Dreigliederung (Ideen zur Handhabung der vorgefundenen Prozesse)
Man muss alle drei Stufen durchlaufen, sonst wird man nicht verstanden.
Die Veranstalter haben eine sehr gründliche Vorbereitungsarbeit geleistet; die vielen Teilnehmer brachten den sichtbaren Erfolg. Genau wie beim Beuys-Symposion im Mai in Achberg stellt sich die Frage, wer unterstützt und hilft diesen Initiativen weiter. Den Veranstaltern war es von vornherein wichtig, daß es bei der Frage der Globalisierung um ein Tätigwerden geht.
Es lagen Listen aus, in die sich Interessierte eintragen konnten.

Informationen zu den einzelnen Organisationen:

Activists for Israeli Civil Soziety: www.civilsoziety.co.il/eng.
Initiative Colibri: www.globenet3.org.(GN3)
EvB Erklärung von Bern Quellenstr. 25, 8031 Zürich Homepage:
www.evb.ch
attac - Illerwinkel (Legau), über Lindengarten e.V. Tel 08330-1043

Ingrid Feustel

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Jean Ziegler: Wie kommt der Hunger in die Welt?

Der Genfer Soziologie-Professor Jean Ziegler war bis 1999 Schweizer Nationalrat. Bekannt wurde er u.a. durch noch heute aktuelle Publikationen wie "Die Schweiz wäscht weißer", in der er die Verstrickungen von schweizerischen Banken in internationale Finanzskandale und Geldwäscheaktionen offen legte. Heute ist Ziegler neben seiner Lehrtätigkeit UNO-Sonderbeauftragter für das Menschenrecht auf Ernährung. Ähnlich wie der Journalist Peter Scholl-Latour kennt er viele Machthaber der vergangenen Jahrzehnte aus eigener persönlicher Begegnung. Ziegler wurde Mitinitiator des Attac-Netzwerkes.

Das Buch "Wie kommt der Hunger in die Welt?" ist entstanden aus einem Gespräch mit seinem ägyptischen Sohn Karim. Ziegler beschreibt im Frage-Antwort-Stil die Verhältnisse, unter denen ganze Völkerschaften verhungern, während die Fruchtbarkeit der Erde ohne Weiteres 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. So wird in manchen afrikanischen Gegenden nur etwa 3% der möglichen Anbaufläche genutzt. - "Der Hunger tötet weltweit ungefähr 100.000 Menschen täglich. Kaum jemand spricht über diesen Völkermord, von Abhilfe ganz zu schweigen. Vor diesem Hintergrund und angesichts des zügellosen Neoliberalismus der Finanzmärkte entlarvt sich das Reden der Mächtigen von christlichen Werten, von Solidarität und Gerechtigkeit als pure Heuchelei."

Ein Beispiel dieser Heuchelei gab US-Präsident Bush dieses Jahr mit seiner Ankündigung, den Hunger in Afrika mit gentechnologischem Saatgut bekämpfen zu wollen. Damit bezeugte er seine Abhängigkeit von Konzernen wie DowChemical oder Monsanto, die lediglich das Weltmonopol für patentiertes Saatgut und die Abhängigkeit der Landwirte davon anstreben (Informationen dazu auch über: www.saveourseeds.org, Zukunftsstiftung Landwirtschaft, Marienstr. 19-20, 10117 Berlin). Eine Aktion der Nächstenliebe ist diesen Firmen kaum zu unterstellen, jedoch die Unterwanderung der Möglichkeiten lokaler Selbstversorgung. Das Monopol auf Weltvorräte zu bekommen, sei es an Rohstoffen, Erdöl oder Nahrungsmitteln, ist der Traum all jener machtgierigen Neurotiker, die von Weltherrschaftsparanoia besessen sind. - Wo immer gesunde Entwicklungen der Autonomie und Selbstbestimmung sich entwickelten, wie in Nicaragua, Chile, Bangladesh, welche Beispiele und Musterstaaten für viele hätten werden können im friedlichen Miteinander der Völker und Kulturen, schafften es jene Chaoten und Störenfriede, durch ihre mehr oder weniger verdeckten Aktionen und mit ihren "Geheimdiensten" die Entwicklungen zu sabotieren (Ermordung von Salvador Allende, Ernesto "Che" Guevara etc.) und schließlich zunichte zu machen. Auch in afrikanischen Staaten, die teils in wunderbaren und fruchtbaren Landschaften gelegen sind, hat sich immer wieder derartiges abgespielt und spielt sich noch ab. Jean Ziegler beschreibt - unter anderen - eine Entwicklung am Beispiel von Burkina Faso (ehem. frz. Obervolta), welches er in den Jahren 1983-87 selbst oft bereiste.

Ein Auszug: "Aufgrund der unglaublichen Unfähigkeit und Korruption der aufeinander folgenden Regierungen, die alle unter der Kontrolle der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich standen, war Burkina Faso damals mit tausend Wunden geschlagen. In den Statistiken der Weltbank rangierte es … von 170 Ländern an 161. Stelle hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens. Mit Ausnahme des Südens ist der Boden größtenteils trocken, schwierig zu kultivieren und weitgehend unfruchtbar [Anm.: Im Norden liegt die sog. Sahelzone]. Nur 25% des kultivierbaren Landes wurden tatsächlich bestellt. Der Getreideertrag lag bei 540 kg/ha, während er in Frankreich 4883 kg/ha beträgt. Noch 1984 lag die Einschulungsquote der Kinder bei nur 20%. … Die Außenhandelsbilanz wies ein permanentes Defizit auf. Der in der Ebene östlich von Bobo-Dioulasso produzierte Zucker kostete 18-mal soviel wie der importierte Zucker. Wie praktisch alle Länder der Region litt auch Burkina Faso unter einem aufgeblähten und oft parasitären Beamtentum. 38.000 Beamte verschlangen mehr als 70% des Staatshaushalts. Jedes Jahr war die Staatskasse im Oktober leer…" - Ziegler beschreibt des weiteren seine eigenen Reiseerlebnisse dort, die Trockenheit, die hungernden Menschen und die trostlose Situation der wandernden Hirten: "Die überlebenden Tuareg erbettelten ihren Lebensunterhalt vor dem Hotel de France in Ouagadougou." Er war auf Einladung des jungen Revolutionshauptmanns Thomas Sankara im Januar 1984 dorthin gekommen, und bereiste das Land noch einige Male während dessen Regierungszeit. Ziegler schildert dessen umfassende Verwaltungsreformen, Abschaffung der Kopfsteuer und Inangriffnahme überregionaler Projekte, um der ethnischen Zersplitterungsproblematik entgegenzuwirken [Im 1992 erschienenen Buch "Sieg der Besiegten" von J. Ziegler ist ein ganzes Kapitel Thomas Sankara gewidmet]. Die Ländereien wurden entsprechend den Bedürfnissen der Familien neu verteilt. - "Und was war das Ergebnis all dieser Reformen?" - "Es war spektakulär! Innerhalb von nur vier Jahren war die Agrarproduktion drastisch gestiegen, die Staatsausgaben gesunken, und das dadurch freigesetzte Kapital war in erster Linie in den Straßenbau, kleine Bewässerungsdämme, die landwirtschaftliche Ausbildung und das örtliche Handwerk investiert worden. Innerhalb von nur vier Jahren konnte sich das Land selbst versorgen und die komplexe Gesellschaft der Burkinabé war demokratischer und gerechter geworden." - "Sankara ist bestimmt zum Vorbild für ganz Afrika geworden?" - "Unglücklicherweise ja!" - "Weshalb sagst Du »unglücklicherweise«?" - "Weil sich in diesem Land, das halb so groß wie Frankreich ist und in dem kaum 10 Millionen Menschen leben, wovon 99% bettelarm sind, eine grandiose Hoffnung erhoben hat - die Hoffnung auf Würde, Gerechtigkeit und Stolz. Sie hat auf ganz West- und Zentralafrika ausgestrahlt. Diese Hoffnung hat so korrupte Regimes wie das von Félix Houphouet-Boigny in der Elfenbeinküste, von Omar Bongo in Gabun und von Gnassimbé Eyadema in Togo in den Grundfesten erschüttert. Gewisse französische Kreise - Beschützer und Komplizen der Regimes, die ich eben aufgezählt habe - waren nicht gewillt, solche Zustände zu tolerieren. Der Prophet musste getötet werden. Das geschah schließlich durch Sankaras besten Freund, Blaise Compaoré. Der Mörder ist heute Staatspräsident. … Burkina Faso ist heute unter Campaoré zur Normalität zurückgekehrt: Die Korruption ist wieder da und mit ihr die extreme Abhängigkeit vom Ausland, die chronische Unterernährung im Norden, neokoloniale Entwürdigung und Demütigung, verschwenderische Staatsausgaben, das Schmarotzertum der Bürokratie, die Verzweiflung der Bauern." - Jean Ziegler schrieb diese Zeilen 1999. Am 11.7.2000 gewährten IWF und Weltbank dem Land einen Schuldenerlass über 400 Mio$ im Rahmen der Initiative für "Highly Indebted Poor Countries" (Verschuldung über 250% der Staatseinnahmen). - Trotz viel wiederkehrender Bitterkeit der Ereignisse ist Zieglers Buch nie resignativ, sondern appelliert unerschüttert an die Kräfte des Guten. So schließt er denn auch auf die Frage seines Sohnes, was denn angesichts so vieler zerstörter Hoffnungen zu tun sei, mit den Worten:

"Die mörderische Ordnung der Welt muss umgestürzt werden. Eine Horde wild gewordener Börsentrader, Spekulanten und Finanzbanditen hat eine Welt des Schreckens und der Ungleichheit errichtet. Denen müssen wir das Handwerk legen."

Andreas Pahl
Jean Ziegler: "Wie kommt der Hunger in die Welt? – Ein Gespräch mit meinem Sohn"
(C. Bertelsmann 1999)

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Nachrichten aus Case Caro Carrubo

In der Zukunftswerkstatt

Als wir uns zum dritten Mal zur wöchentlichen Zukunftswerkstatt von Case Caro Carrubo trafen, ließen wir uns zunächst durch ein Gespräch zwischen Joseph Beuys und Michael Ende (aus dem Buch Kunst und Politik/Freie Volkshochschule Argental) inspirieren:

Ende: Ja, wissen Sie, Gesellschaft verändern, ohne sich selbst zu verändern, ist natürlich ein etwas zielloses Unternehmen. ... .... Man sollte nicht immer alles mit soviel Absichtlichkeit betreiben. Es gibt auch Dinge im Leben, die ihren Wert gerade in der Absichtslosigkeit haben, weil sie ihren Wert in sich selbst haben. Es gibt sehr viele Dinge im Leben, die ihren Wert in sich selbst tragen, Erlebnisse, die nicht deswegen wichtig sind, weil sie zu etwas anderem gut sind, sondern einfach weil sie sind.

Beuys: Weil sie ihren Wert in sich selbst haben, ist sehr richtig und gut ausgedrückt.

Ende: Und so ist es auch zum Beispiel mit bestimmten künstlerischen Werten für mich. Die sind nicht deswegen großartig, weil sie zu etwas anderem nützlich sind, sondern weil sie da sind, weil sie in der Welt sind, weil sie vorhanden sind; das verändert nämlich bereits die Welt, dieses Vorhandensein. Ich würde sagen, so wie man Bäume pflanzen kann, kann man auch Gedichte machen. Man starrt heute immer nur hin auf die Umweltverwüstung. Es gibt aber ein Phänomen, das viel weniger beachtet wird, das ist die Innenweltverwüstung, die genauso bedrohlich und genauso gefährlich ist. Und gegen diese Innenweltverwüstung können Sie mit einem inneren Bäume pflanzen anzugehen versuchen, und das ist zum Beispiel der Versuch, gute Gedichte zu schreiben, das ist ein innerer Baum, der da gepflanzt wird. Man pflanzt nicht nur einen Baum, um Äpfel davon zu haben, sondern ein Baum ist einfach schön, und es ist wichtig, dass er da ist, nicht nur, weil er zu etwas nütze ist. Und so ist das, was viele Schriftsteller, nicht viele, aber doch einige Schriftsteller und Künstler versuchen, nämlich einfach etwas zu schaffen, was dann da ist und was gemeinsamer Besitz der Menschheit werden kann – einfach, weil es gut ist, dass es da ist. …"

Wenn ich jetzt auf unsere Werkstattarbeit zurückblicke und lasse das erwähnte Gesprächsereignis noch einmal auf mich wirken, bemerke ich, dass wir in Case Caro Carrubo auf gutem Weg dazu sind. Im Winter entschlossen wir ja, nicht nur das Projekt CCC in die Werkstatt zu bringen, sondern auch uns selbst.

Unsere erste Werkstatt fand am 9. und 10. Mai 2003 statt. Wir arbeiteten nach der Art und Weise von Robert Jungk’s Zukunftswerkstatt (siehe ‚jedermensch’ Winter 2002/2003 Seite 4 „Kommendes hereinholen"/Anton Kimpfler). Für die Vorbereitungsphase entschieden wir uns für den Werk- und Malraum von Renate, wo auch die nötigen Materialien zum Schreiben und Aufzeichnen vorhanden sind. Wir legten einen ungefähren Zeitplan fest. Die intensive Gesprächsarbeit sollte durch körperliche Arbeit ergänzt werden. Es wurde auch überlegt, wie wir das Ausgedrückte auf dem Papier sammeln wollen und in welcher Sprache wir uns möglichst gut verständigen und verstehen könnten. Wir haben drei verschiedene Muttersprachen: Deutsch, finnisch und italienisch. Nur zwei davon sind für uns alle einigermassen verständlich. Der finnischen Sprache verblieb die Arbeit in meiner Gedankenwelt. Die fortlaufende Wiederholung des Gesagten durch die andere Sprache und die Vergewisserung, ob der Inhalt so stimmt, führte in den Phasen spontan zu einer therapeutischen Methode, den anderen Mensch besser zu verstehen.

Vor der Kritikphase machten wir die Runde, warum für uns die Zukunftswerkstatt wichtig ist. Hauptbeweggrund war bei uns allen dreien, dass wir Stagnation fühlten und uns Veränderung und mehr Klarheit für uns und das Projekt wünschten. Für die Kritikphase schufen wir uns bestimmte Regeln: Nicht vom ‚wir’, sondern vom ‚ich’ ausgehen. Jede/r sollte die Freiheit haben, alles zu sagen und dass wir auf die Stimmung Acht geben wollten.

In der Kritikphase drückten wir dann nacheinander aus, was für uns unbefriedigend ist und der Wandlung bedarf. Zuhörend und schreibend wurde so abwechselnd jede/r von uns begleitet. Das gleiche galt dann auch für die danach folgende Phantasiephase, mit dem Unterschied, dass jetzt jede/r von uns möglichst ungezwungen, seinen, ihren Vorstellungen, Wünschen und Träumen nachging.

Die Phantasiephase sollte den Übergang zur nächsten Stufe, der Verwirklichungsphase erleichtern. Hat sie uns erleichtert? Der Schritt in die Verwirklichung hinein, war uns in jedem Fall nicht einfach. Mit was anfangen und wie? Ein zentrales Problem ist unsere Wohnsituation. Der knappe Wohnraum reicht nicht aus unser individuelles Bedürfnis nach einer Rückzugsmöglichkeit in „eigene vier Wände" zu schaffen. Auch reicht er nicht, um Menschen, die kurz oder lang mitleben und –arbeiten möchten, Unterkunft zu bieten und entspricht nicht dem Wunsch nach Vergrößerung der Gemeinschaft. Durch das Bearbeiten dieser Frage stellte sich uns eine grundlegendere Frage: Chi porta avanti il progetto? – Wer bringt das Projekt weiter? In der Kritikphase kamen doch einige tiefgehende Unzufriedenheiten zur Sprache, die durch ihre Ungelöstheit auch die Beziehung zum Projekt beeinträchtigen. Entschieden wurde, dass wir drei – auf irgendwelche Weise, das Projekt weiterbringen sollen, - und auch wollen. Betont wurde, dass jede/r seine Entscheidungen bei sich unabhängig treffen sollte, in Freiheit; soweit wie das gelingen kann, FREI zu entscheiden.

In der Nachbereitungsphase schauten wir noch mal zurück, betrachteten das, was wir auf dem Papier aufgeschrieben hatten und ordneten es durch Farben unterschiedlichen Themenfeldern zu: Eigene Entwicklung, Soziales, Bau, Amore, Projektentwicklung, Finanzen. Wir entschieden, dass wir uns weiter regelmässig einmal die Woche „in die Werkstatt" begeben und legten die wichtigsten Themen dafür fest. Deutlich wurde in dieser ersten Werkstatt, dass wir als Grundlage dieser Arbeit, sowie im Alltag, unsere Konfliktfähigkeit bessern und neue Wege im Umgang miteinander finden wollen und schrieben uns dafür einige Grundsätze auf.

Während der Werkstattarbeit bekamen wir liebevolle Unterstützung durch eine in dieser Zeit bei uns weilende Freundin mit ihren beiden Kindern. Sie kochte uns leckeres Essen und wir durften uns an den gedeckten Tisch setzen. Sie begrüsste uns mit den Worten".. Ihr strahlt richtig – ihr solltet öfters eine Zukunftswerkstatt machen!" Auch klingelte das „telefonino", das Handy, wunderbarerweise kein einziges Mal während unserer Arbeitszeiten. Auch einigen Rundbriefleser/innen danken wir für die Briefe, in denen sie uns ihre Gedanken zu Case Carrubo mitteilten.

 „Das Atelier ist zwischen den Menschen." Joseph Beuys

 Viermal konnten wir uns noch zur wöchentlichen Zukunftswerkstatt treffen, bevor wir uns in der Sommerzeit trennten: Renate ging nach Deutschland wegen ihrer Ausstellung und ich ‚flüchtete’ vor der südlichen Hitze in den Norden (obwohl es dann dort auch eine lange Hitzeperiode gab). Nunzio kümmerte sich in der Zeit allein um den Alltag in Case Caro Carrubo.

Was kristallisierte sich in diesen nachfolgenden Treffen heraus, wie wir CCC in irgendeiner Weise gemeinsam weiterbringen wollen? Nunzio schlug ein ‚Ruhejahr’ vor, uns ein Jahr Zeit zu lassen und erstmal die Situation so zu akzeptieren wie sie ist. Das fanden wir eine gute
Idee. Langsamer weiter zu gehen, uns selbst auch genauer wahrzunehmen, bewusster zu werden, was jede/r von uns will. Inhaltlich gingen wir mit drei Schwerpunk-ten weiter: der Frage, wie der Sommer zu organisieren ist, da Nunzio alleine hier bleibt; der Entscheidung über die Vereinsgründung und die weitere Finanzierung, sowie in diesem Zusammenhang, wie beides voranzubrin-

gen ist. Als Verein haben wir die Möglichkeit anders um finanzielle Unterstützung zu werben.

Die Situation heute

Anfang Oktober waren wir dann alle wieder da. Doch die Werkstattarbeit konnten wir erst Anfang November wieder aufnehmen, da Renate noch einmal für kurze Zeit wegen einer Ausstellung nach Deutschland musste. Trotz der räumlichen Trennung über die Sommerzeit hatten wir alle aus der Ferne das Gefühl eine Gruppe zu sein. Was ging in der ersten Halbzeit des ‚Ruhejahres’ weiter? Nunzio hatte in der Zeit doch einige Gäste, das Giessen forderte seine Zeit, Steine sammeln im Mandelhain, Computerarbeit, lokale Treffen. Renate’s Ausstellung im Sommer erbrachte ein kleines finanzielles Ergebnis und neue Kontakte. In Finnland entstand mit einigen FreundInnen von CCC der Wunsch, auch dort in einem Sommer eine sizilianische Woche in Verbindung mit dem Thema Frieden zu organisieren. Trotz der turbulenten Arbeitsperiode auf einem biologisch-dynamischen Hof in Finnland konnte ich etwas in mir ‚zur Ruhe’ kommen: Da entstand das Bedürfnis, mehr Zeit zu haben, auch in Finnland leben zu können. So bleibe ich diesmal nur für zwei Monate in Sizilien. Zum Glück haben wir seit Mitte August fortwährende Hilfe in CCC. Mattias, er war im Frühsommer schon bei uns, entschied sich für zwei Monate wiederzukommen, Miriam besuchte uns für zwei Wochen im September. Seit Mitte Oktober sind Monika und Crisha da. Sie möchten eventuell sogar bis über den Winter bei uns bleiben. Das Zusammenleben von nun fünf Menschen bringt eine ganz neue Dynamik in die Gruppe und nährt bei uns den Wunsch der grösseren Gemeinschaft.

In der wöchentlichen Werkstatt beschäftigen wir uns momentan mit den Finanzen und der Vereinsgründung. Auch die zwischenmenschlichen Fragen haben jedes Mal ihren Platz darin.

Für die wackligen Finanzen der alltäglichen Versorgung zeigt sich für uns eine neue Möglichkeit auf, Einnahmen durch den Direktverkauf unserer Produkte zu erwirtschaften. Einmalig auf Sizilien gibt es seit ein paar Wochen einen wöchentlichen Biomarkt in Siracusa. Markttag heißt nicht nur Gelderwerb und Warenaustausch, sondern auch immer wieder Knüpfen von neuen Kontakten und Austausch von Mensch zu Mensch. In diesem Jahr haben wir u.a. ein paar Menschen von dem Verein ‚Le cittä vicine’ kennen gelernt. Einige Gedanken von ihrem Rundbrief inspirieren uns:

„…Anna Maria Ortese sagt in einem Essay (‚Corpo Celeste’), dass überleben und sich ausdrücken (im Sinne von sich verwirklichen), sich auf einer gleichen Notwendigkeitsebene befinden. Sich zu verwirklichen ist unentbehrlich wie sich Essen zu besorgen und wem es nicht gelingt sich auszudrücken neigt zu Zerstörung. (Zitat im BriefJ „Ich habe schon immer gedacht, dass sich das grösste Problem in der Welt und ihres Friedens in Bezug dazu, darin stellt, Kinder groß werden zu lassen, die fähig sind, in die sogenannte Erwachsenenwelt ‚creando’ – schaffend (im Sinne von schöpferisch sein) einzutreten und nicht die Welt sich aneignend und zerstörend…. Nicht schöpferisch sein heisst sterben…"

Tanti cari saluti

Elvi Savolainen
in Zusammenarbeit mit Renate Brutschin

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Eulenspiegel-Nachrichten

Betriebsgruppe

Alles verändert sich – ständig. Und doch bleibt alles wie es war – so scheint es.

Während ich vor dem Computer sitze und diese Nachrichten formulieren möchte, gerate ich ständig ins Durcheinander und ich weis nicht woran wir sind. Eigentlich schien alles auf dem besten Weg zu sein. Zwei neue Mitarbeiterinnen stehen vor der tür und eine neuen Gruppe scheint sich zu formieren.

Ausgelöst durch die Kunstaktion mit Mario Ohno kommen die Gespräche in Gang. Äußerlich soll einiges renoviert werden: Wohnzimmer, 1.Stock, Gaststätteneingang...

Und wir werden uns mehrmals zu Gesprächen treffen. Bereits bei einem ersten Gespräch über Konzeptionelles unter dem Motto: Wer will mit wem was arbeiten, wird deutlich, dass sich zwei Richtungen entwickeln: Fried-Günter entwickelt ein Konzept, dass er allerdings ohne Brigitte verwirklichen will. Ein gemeinsames neues Konzept ohne ein Gruppenmitglied war dann doch eine große Überraschung....aber vielleicht war es dann doch nicht so gemeint.

Arbeitsbesprechungen über den Service und die Küche folgten.

Und dann wollen wir über einen möglichen Neuen reden, einen ausgebildeten Jungkoch, der 2004 für 9 Monate mitarbeiten möchte. Daran wird überdeutlich, dass sich die Wege trennen. Brigitte will mit dem Koch die Karte erneuern und neue Abläufe in der Küche in die Wege bringen. Fried-Günter will nicht.

Da haben wir dann zwei Wege in die Zukunft, die sich gegenseitig im Wege stehen.

Brigitte steht kurz vor ihrer Kur und es wird klar, dass es eine Entscheidung geben muß:

Auf grund dieser Situation und mehrer weiterer Ereignisse habe ich zu entscheiden, mit wem ich in das kommende Jahr gehen will. Ich stehe voll und ganz zu Brigitte, mit der ich nun schon Jahre zusammenarbeite und ihre Motivation und Vorstellungen kenne. Das heißt, dass wir uns von Fried-Günter trennen werden und den Jungkoch einstellen. Damit wird zumeindest die Situation geklärt.

Fried-Günter kann sein Konzept der Mitgliederversammlung vorstellen und diese soll dann entscheiden, welchen Weg der Eulenspiegel letztlich gehen wird.

Die Wirtschaftliche Situation

Nach wie vor scheint sich im Eulenspiegel die wirtschaftlichen Vorgänge in Deutschland zu wiederholen. Beiom Treffen der Kollektive Amfang November wurde klar, das sowohl in München wie in Reutlingen Umsatzrückgänge von rund 10 Prozent zu verzeichnen sind. In Wasserburg scheint die Talfahrt beendet zu sein, der Tiefpunkt erreicht und bereits im November gibt es die ersten Steigerungen. Doch damit bleibt natürlich die finanzielle Situation weiterhin angespannt, aber es gibt Licht am Horizont. (Die Hoffnung stirbt zuletzt!)

Nach wie vor müssen wir Aktionen planen, wie wir den Umsatz wieder steigern können (siehe die unterschiedlichen Vorstellungen dazu) und dazu sparsam wirtschaften.

GaumenKitzelKopf

An drei Abenden gestaltete Mario Ohno mit zwei Studentinnen die Gaststätte. Eine Videoprojektion, Dias und ein Lesepult vollendeten die Verwandlung der Gastätte. Alle Bilder und Pflanzen waren entfernt, die Tische und Stühle standen im Foyer, als die Gäste kamen. Mit einem Aperitiv standen die Gässten zumeist ratlos im Raum. Diejenigen, die sich kannten unterhielten sich bis Mario Ohno in die Aktion einführte und die Gäste begrüßte. Die Gäste waren aufgefordert sich die Tische und Stühle so hinzustellen wie sie es wünschten. Mit weißen Tischdecken und Kerzen verwandelten sich die Tische in ein festliches Gedeck. Die Menüs wurden sehr gelobt. Die Texte zwischen den Gängen führten die Aktion in die Richtung eines friedvollen, menschlichen Miteinanders. Liebe und Kommunikation standen im Mittelpunkt und regten zum gemeinsamen Gespräch nach dem Essen an. Heftige Gesprächsrunden, die schnell zum Eingemachten kamen, spiegelten eher die Unfähigkeit zum gemeinsamen Gespräch als zu einem kommunikativen Miteinander. Filmangebote zu später Stunde rundeten die Abende dann ab.
Kunst gestaltet Gesellschaft – dieser Anspruch kann natürlich nicht überprüft werden, aber bei uns im Eulenspiegel kam einiges in Bewegung (siehe oben!)

Workshop Soziale Projekte – die zukunft der Kollektive

Es kamen Menschen von Cafè Ruffini aus München, dem Café Nepomuk aus Reutlingen und der Schäfereigenossenschaft Finkhof im Allgäu. Es war eigentlich schnell klar, dass niemand der Gäste an der kollektiven Form der Betriebe zweifelte. Spürbar war der wirtschaftliche Druck im Gastronomiebereicht und die Suche nach den „richtigen" Strukturen in den Projekten. Je „idealistischer" der Anspruch war, dest schwieriger gestaltete sich die Struktur.

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Überlegungen zur Sommerhitzwelle

Das anhaltend „schöne" Sommerwetter hatten sicher viele Menschen erst einmal als gutes Urlaubswetter begrüßt. Doch da es viele Wochen anhielt und immer mehr Menschen und vor allem auch die Natur darunter litten - man nehme nur als trauriges Beispiel die vielen brennenden Wälder - wollte ich versuchen, dieses Phänomen ein bisschen besser zu verstehen.

Eine Bekannte, die viele Jahre im Orient verbracht hatte, sagte am Telefon: "Ich fühlte mich wie in Ägypten!" Dies war für mich ein Stichwort, das mir die dumpf geahnte Suchrichtung vorgab.

Wo blieben die Wolken? Gab es sie nicht oder kamen sie einfach nicht zu uns? Auf dem Satellitenbild sah man deutlich, dass es genügend von ihnen gab, aber sie blieben aus irgendwelchen Gründen über dem Atlantik und mieden Europa.

In der Meteorologie kann man zwei wichtige Arten von Hochdruckgebieten unterscheiden: Erstens die dynamischen Hochdruckgebiete, die zusammen mit den entsprechenden Tiefdruckgebieten rhythmisch unseren Erdball umströmen, und zweitens die thermischen Hochdruckgebiete. Die letzteren gehören nicht zu den überwiegend horizontalen Erdzirkulationen, sondern haben vertikalen und regionalen Charakter.

Es ist oft typisch für die Nordhalbkugel, dass sich beides miteinander verbindet, dass also zum Beispiel eine Erdgegend durch ihre extremen Bedingungen ein dynamisches Hoch heranzieht und dann „thermisch fixiert", also festhält. Diese für die Wüste Sahara ganz gewöhnliche Situation schien nun unter anderem auch für Europa zu gelten. Die Hochdruckgebiete bringen in der Höhe große Massen an trockener, heißer Äquatorluft herbei, die dann permanent absinkt und so jegliche, auch thermische Wolkenbildung verhindert, denn warme Luft kann viel mehr Wasser aufnehmen - ohne Wolken bilden zu müssen - als kalte Luft.

Es ist „normal", dass sich der sogenannte Hochdruckgürtel im Sommer nach Norden, also Richtung Mittelmeer verlagert. Aber für den Sommer 2003 darf sicher behauptet werden, dass sich eine Ausbuchtung dieses Wendekreis-Wüsten-Hochdruckgürtels bis zu uns nach Europa vorgearbeitet hat.

Orientalisch-arabische Einflüsse können sicher auch Europa befruchten. Doch wenn sie zu stark eindringen, können auch Zerstörungen entstehen.

Das ganze Mittelalter hindurch gab es offenkundig die allergrößten Bestrebungen, orientalisch-arabisches Gedankengut abzubremsen, damit es nicht stürmisch alles überflute, sondern langsam einsickernd kulturfördernd wirken könne.

Man schaue sich einmal die Gebirge Südeuropas (Spanien, Italien, Balkan) an! Wirken sie nicht wie ein partiell durchlässiger Schutzwall?

Sobald man sich ein bißchen näher mit der Wüste befaßt, kann man durchaus Unerwartetes antreffen, zum Beispiel dieses alte Sprichwort ihrer Bewohner: In der Wüste sind schon mehr Menschen ertrunken als verdurstet.

Diese Aussage ist nicht gleich einsehbar, aber dennoch wohl begründet: Das Wasser der seltenen, aber heftigen Regenschauer sammelt sich in wenigen Trockentälern (Wadis). In ihnen kann es innerhalb von Minuten oder Stunden zu reißenden Strömen anschwellen. Diese wiederum überraschen dann viele Reisende oder Touristen, die gerade im Schutz der Vertiefung ausruhen oder übernachten wollten.

Die Wüste kennt also nicht nur die Trockenheit, sondern auch Überschwemmungen, nicht nur die Hitze, sondern auch extremste Kälte. Flüchtig betrachtet hält man die Wüste oft für unfruchtbar, doch kann man nach Regenfällen blühende Blumenlandschaften antreffen, oder strotzend-üppige Gärten in gut geführten Oasen.

Kurz gesagt: Die Wüste ist eine Landschaft voller Extreme und voller Gegensätze (und natürlich auch voller Möglichkeiten). Dennoch stechen ihre Vereinseitigungen deutlich ins Auge, besonders wenn man sie mit dem auffällig ausgewogenen Europa vergleicht.

Hier bei uns spielen die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde vergleichsweise harmonisch ineinander, so dass mit einer gewissen Hilfe des Menschen problemlos blühende, saftige Landschaften entstehen können.

Ganz anders ist es in der Wüste: Nachhaltig fruchtbare Gärten und Oasen entstehen nur, wenn der Mensch sein ganzes Können und Wissen unermüdlich dafür einsetzt. Tut er es nicht, dominieren eindeutig zwei
Elemente: einerseits „Feuer", andererseits lebloses Gestein, Sand und Staub.

Größtes Geschick und unermüdliche Anstrengungen sind erforderlich, um die beiden anderen Elemente, Luft und Wasser, sinnvoll einzubinden, denn sonst laufen sie ins Leere:

- Obwohl die Sandstürme für das globale Klimageschehen offenbar eine wichtige Bedeutung haben, an Ort und Stelle wirken sie eher wie eine zusätzliche Erschwernis, eine Plage. Ganz anders wirkt dagegen die frische, kühle labende Luft zwischen den Oasenpflanzen.

- Auch das lebensspendende Wasser kann ungenützt in Wadis vorbeirauschen, oder in für die Pflanzenwurzeln kaum erreichbare Tiefen herabsinken, wo es sich in riesigen Schichten und unterirdischen Seen ansammelt. Ohne die menschliche Technik wäre auch dieses Wasser „verloren".

Man hat das Gefühl, als müssten die vier Elemente durch ausgeprägten menschlichen Fleiß immer wieder in ein Zusammenspiel gebracht werden. In der Wüste scheinen die Elemente auseinander zu streben, sich zu separieren und in Einseitigkeiten zerfallen zu müssen.

Für die anthroposophische Medizin beherbergt gerade das mittlere System des Menschen die Kräfte für die Heilung. Dieses Blutkreislaufsystem oder Rhythmussystem ermöglicht nicht nur den Gas- beziehungsweise Luftaustausch und die Zirkulation des Blutes, sondern es kann, den ganzen Körper durchdringend, die verschiedenartigen Kräfte des oberen und des unteren, also des Nerven-Sinnessystems und des Stoffwechsel-Gliedmaßensystems verbinden und ausgleichen.

Viele menschliche Krankheiten resultieren demnach oft aus der Vereinseitigung eines dieser Systeme und aus einer gehemmten Fähigkeit des mittleren Systems, den Ausgleich zu schaffen, das Gleichgewicht und damit die Heilung herbeizuführen.

Die Wüste ist ganz offensichtlich eine Landschaft, in der die Elemente der Mitte, Luft und Wasser, und damit auch die Lebendigkeit stark zurücktreten oder aber ausgegrenzt werden.

Eine menschliche Kultur, die sich in diesen Gegenden entfalten will, müsste vermutlich gerade dieses Mittlere besonders kultivieren, und in der Tat sind ja auch schon die mannigfaltigsten Gartenbau-, Brunnen-, Kanalsystem- und Bewässerungstechniken gerade hier gefunden worden.

Aber umgekehrt kann eine Vernachlässigung der mittleren Kräfte die oberen und unteren um so mehr überwuchern lassen: Auf die menschliche Seele bezogen bestünde dann die Gefahr, dass ein eiskalter Intellekt gepaart mit feurig-explosiven Trieben aus der Bauchregion Unheil anrichtet, wenn das Versöhnende, Künstlerisch-Gemüthafte Mittlere fehlt.

Dass diese Tendenz nicht auf ein bestimmtes Volk fixiert werden muss, zeigen Beobachtungen an Jugendlichen aus Europa und anderen westlichen Ländern. Die allgemein bekannte Beschleunigung der Reifeprozesse junger Menschen bezieht sich hauptsächlich auf den Körper und auf den Intellekt, aber nicht auf das Seelische, das oft sogar verstärkt zurückbleibt.

Vielleicht sind der Kaktus und kaktusähnliche Gewächse ein besonders sprechendes Bild für das Leben und Überleben in der Wüste. Man findet an ihm Wurzel, Spross und mit viel Glück sogar eine Blüte, doch die "richtigen" Blätter sucht man vergeblich. Sie sind zu harten, spitzen Dornen zusammengezogen und ansonsten weitgehend im verdickten Spross zurückgehalten. Kaum eine Pflanze in der Wüste kann es sich leisten, in aller Ruhe große, lappige Blätter, wie beispielsweise die einer Seerose, zu entfalten. Stattdessen findet man bei den meisten Wüstenpflanzen im Bereich der Blattbildung Zurückhaltung, Verhärtung und Vertrocknung. Selbst die Dattelpalme, die "Beschützerin" und Schattenspenderin aller anderen Kulturpflanzen in Wüste und Oase, hat ungewöhnlich harte Substanzen in ihre großen Blätter eingelagert.

Auch wenn der Kaktus äußerlich wirkt wie eine Pflanze ohne Bezug zur Blattentfaltung und damit zum Wässrigen, inwendig ist er immerhin ein Meister der Wasseraufbewahrung. Mit Hilfe seiner dicken, verdunstungsresistenten Haut gelingt es ihm, mitten in der Wüstenhitze richtige Wasserreservoirs anzustauen.

Wenn sich der Geist der Wüste nicht nur klimatisch, sondern auch kulturell weiterhin nach Europa und andere eigentlich gemäßigte Gebiete ausweiten sollte, ist es vielleicht gerade die Pflanze die weiterhelfen kann: Der Kaktus und andere Wüstenpflanzen zeigen uns, wie man in Extremsituationen das Fehlende dennoch notdürftig herbeiziehen und einbinden kann. Doch kann nicht gerade auch die "normale" Pflanze als das Lebewesen angesehen werden, das uns die vielfältigste und phantasievollste Entfaltung des mittleren Blattbereichs zwischen Wasser, Luft und Lebendigkeit vorlebt?

Der gierige Esoteriker in uns will am liebsten die lästigen kleinen Schritte überspringen, und der ungeduldige Machtmensch hat keine Zeit und will sofort Ergebnisse sehen. Die Pflanze kann uns möglicherweise besonders gut die Geduld lehren: In aller Bescheidenheit bildet sie ein Organ nach dem anderen, jedes ein bisschen vollkommener als das vorherige. Die Hinwendung zur Sonne und zum Geistigen, die wir ja im Grunde auch kennen, geht ganz allmählich vonstatten, und wenn wir uns Zeit nähmen, könnten wir einen geduldig ausgeführten Veredlungsprozess bis hin zur Blüte erleben. Allerdings würde zuviel Sonne diese Entfaltung im Bereich des Lebendigen beschleunigen, verkürzen und zur frühzeitigen Vertrocknung und Verbrennung führen. Vermutlich lässt sich ein geeignetes Heilmittel gegen wüstenähnliche Hitzewellen finden, wenn man diesen pflanzentypischen Merkur-Wasser-Prozeß noch viel mehr beachtet, ihn fördert, wo es geht, und natürlich vor der allgemeinen Beschleunigung schützt.

An Straßenkindern kann man sehen, wie sie, dieser Beschleunigung hilflos ausgeliefert, viel zu früh, aber notgedrungen ihre Kindlichkeit verlieren und stattdessen Eigenschaften von Erwachsenen übernehmen. Auch die üblichen Erziehungsmethoden tendieren dazu, den Bereich der Kindheit, in dem die Entfaltung von Spiel, Phantasie und Künstlerischem erlebbar wäre, immer mehr zu verkürzen.

Für mein Empfinden gibt uns die reich beblätterte Blütenpflanze ein ideales Vorbild für die menschliche Entwicklung. Der Kaktus könnte dann eher für ein geschicktes Überbrücken von Notlagen stehen oder für bestimmte seelische Prüfungssituationen, von denen zu hoffen ist, dass sie bestanden werden und nicht
ewig dauern!

Christian Reinicke

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Aufmerksamkeit und Sensibilität in der Gemeinschaft

 In der Gemeinschaft, in der ich nun schon einige Jahre leben darf, besteht für mich eine Gewissheit darin, dass jeder sich zwar hin und wieder einmal in Erregung gegenüber einem anderen gewissermaßen "ausmisten" kann, dass aber im Grunde genommen für jeden sehr deutlich und auch in Einzelheiten bewusst ist, wo die positiven Eigenschaften dessen liegen, über den er sich zu gewissen Zeiten aus subjektiv berechtigten Gründen furchtbar ärgert. Es kommt nie zu einer grundsätzlichen und langdauernden Abschätzung eines Menschen. Wenn Fehler eines Menschen ausgesprochen werden, und das geschieht häufig, so ist doch das Bewusstsein vorhanden, dass der betreffende Mensch auch wirklich positive Gewissheiten hat. Dieses Bewusstsein besteht nicht nur theoretisch, sondern wirklich praktisch, und wenn über negative Seiten gesprochen wird, so eigentlich immer mit dem Untergrund, dass man nicht nur theoretisch weiß, sondern auch praktisch davon überzeugt ist, dass der Betreffende die Möglichkeit hat, diese Fehler selbst zu erkennen und an ihrer Überwindung zu arbeiten. Auch die kritischen Gespräche, die geführt werden, empfinde ich als eindeutig unter diesem Leitmotiv stehend.

Es gibt sicherlich für sehr viele Menschen Vorstellungen, die sie in mehr oder weniger starker Form ihr ganzes Leben hindurch begleiten. Für mich war und ist es die Vorstellung, dass es in einer Gruppe von Menschen möglich sein müsste, dass mit jedem Einzelnen eine besondere Art positiver und produktiver Verständigung möglich ist, die mit allen anderen in dieser Art nicht gegeben ist, und dass auf diese Weise die Menschen, wenn sie lange zusammenleben, sich wirklich gegenseitig ergänzen können. So ergänzen, dass für jeden praktisch spürbar wird, was der eine nicht hat, kann von dem anderen kommen, was der eine nicht verstehen kann, ist für den anderen ohne weiteres einleuchtend, wozu der eine nicht fähig ist, kann der andere beinahe mühelos. Ich glaube, dass die Entwicklung der einzelnen Menschen und der Gemeinschaft als Ganzes, in der ich nun schon mehrere Jahre leben kann, in diese Richtung geht; und nicht nur das, sondern dass für jeden fühlbare und merkbare Erlebnisse da sind, die er etwa in der Form ausdrücken würde, dass er von dem einen empfangen kann, was dem anderen nicht möglich ist, und dass das, was der andere nicht geben kann, eben bei dem einen durchaus in seiner Fähigkeit liegt. Ich weiß, und ich habe es selbst erlebt, dass in sehr vielen Wohn- und Arbeitsgemeinschaften dieses Ziel, bewusst oder unbewusst, nicht erreicht werden kann, so dass die Hoffnung, die jeder Einzelne mit seinem Leben in der Gruppe verbindet, sich nahezu in ihr Gegenteil verbindet. Anstatt von dem einen Menschen besonders verstanden zu werden in einer Weise, die allen anderen nicht möglich ist, bilden sich vielfach geschlossene Vorurteile, die sich gegen einen Einzelnen richten und die ihn letzten Endes aus der Gemeinschaft innerlich und auch äußerlich entfernen. Ich glaube, dass auch in unserer Gemeinschaft in gar keiner Weise etwa mit Sicherheit gesagt werden kann, dass der Weg und das Ziel, das ich immer wieder real erreicht finde, auch weiterhin mit Sicherheit erreicht werden kann. Das ist nicht der Fall, und es wird für jeden klar sein, dass eine solche Sicherheit eben deshalb niemals möglich ist, weil derartige Ziele und vor allem Wege buchstäblich täglich neu beschritten und neu errungen werden müssen. Jede Gemeinschaft, selbstverständlich auch die, in der ich zur Zeit lebe, ist fortdauernd gefährdet, einfach deshalb, weil immer möglich ist, dass das gegenwärtige Verständnis nicht gelingt, oder besser gesagt, dass das gegenseitige Unverständnis und Missverständnis, welches immer wieder auftritt, nicht abgebaut werden kann, sondern sich vertieft. Jede Gemeinschaft von Menschen ist etwas Lebendiges; das sage ich wirklich nicht als Phrase, sondern als Ergebnis jahrzehntelanger Erlebnisse„ - und alles Lebendige kann niemals mit Sicherheit in einen harmonischen Zustand geführt werden und so bleiben. Alles Lebendige ist immer in Entwicklung, und diese Entwicklung kann jederzeit in eine zerstörende Richtung oder auch in eine harmonisierende Richtung geführt werden. Geistesgegenwart bedeutet für mich in diesem Zusammenhang: möglichst schnell fühlen und erkennen, wann unter Umständen nur durch ein Wort, nur durch ein paar "falsche" Sätze Missverständnisse entstehen, die sich, wenn sie nicht behoben werden, verheerend auswirken können. Ich selbst habe diese Geistesgegenwart nicht, und ich muss auch sagen, dass ich sie bei noch keinem anderen Menschen gefunden habe. Ich meine jene Geistesgegenwart, die sehr schnell in der Lage ist, zu fühlen und zu erkennen, dass in diesem Wort oder in diesem Gedanken oder in diesem Gespräch eine Gefahr für die Beziehung zwischen zwei Menschen oder sogar für die ganze Gruppe liegt, die Geistesgegenwart, die das sofort erkennt und sofort entsprechende Ausgleiche schaffen kann. Ich erlebe bei mir selbst, und ich erlebe es auch immer wieder bei den anderen, dass im Zustand mangelnder Bewusstheit und mangelnder Aufmerksamkeit Dinge getan oder gesagt werden, die sich verheerend auswirken. Erst indem man bemerkt, dass hier etwas Zerstörendes geschehen ist, oft erst, nachdem man darüber richtig entsetzt oder auch gelähmt ist, kann der Prozess eintreten, der dann dazu führt, die Sache wieder auszugleichen. Ich meine, dass es bisher gelungen ist, diese Ausgleiche zu schaffen, oft erst, nachdem mit großem Erschrecken erkannt worden ist, was falsch gemacht wurde und was versäumt worden ist, dann ist mir gerade durch diese Erlebnisse klargeworden, dass es nur darum gehen kann, die Bewusstheit, die Aufmerksamkeit, die Sensibilität für den anderen und für die Lage der anderen fortdauernd zu verstärken. Es kann niemals ein Punkt eintreten, an dem man etwa sagen könnte, jetzt ist es geschafft, jetzt brauche man nur noch in der bisher gewohnten Weise miteinander weiterzugehen. Ich bin mir dessen bewusst, dass ein solcher Zustand niemals erreicht werden kann, sondern dass es immer darum gehen wird, einerseits die Aufmerksamkeit, die Bewusstheit und Sensibilität zu schärfen - und andererseits sich im Ganzen und vor allem im konkreten Fall darüber klar zu sein, dass diese Bewusstheit und Sensibilität in einem absolut unzureichenden Maße vorhanden ist, dass also neue Schwierigkeiten eintreten werden.

Was ich versuche, hier in sehr unzureichender Weise über die Gruppe, in der ich zur Zeit lebe, mitzuteilen, gilt selbstverständlich nur für diese Gruppe. Für mich ist es ganz klar, dass es Gemeinschaften gibt, die eine sehr viel größere Kraft haben, Konflikte zu harmonisieren. Ich denke dabei besonders an religiöse Gemeinschaften, die es sicherlich gibt, und die soweit gelangt sind, dass der Einzelne es wirklich geschafft hat, ohne Kampf, wirklich freiwillig seine eigenen Ansprüche und Bedürfnisse zugunsten anderer Menschen, und vor allem zugunsten anderer eigener Bedürfnisse, dabei denke ich an die Liebe in einem höheren Sinne, zu verbinden. Ich habe von solchen Gemeinschaften bisher nur über ihre eigenen schriftlichen Aussagen erfahren, kann mir also kein eigenes Urteil bilden, aber ich müsste schon sehr vorstellungs-behindert sein, wenn ich mir nicht vorstellen könnte, dass es Gemeinschaften mit einer sehr viel größeren individuellen und sozialen Kraft gibt als diejenige, in der ich zur Zeit lebe. Wer seine eigenen Bedürfnisse unterdrücken muss, um die Bedürfnisse anderer überhaupt in sich aufnehmen zu können und um den Versuch zu machen, sie zu erfüllen, der ist gewiss nicht weiter als die Menschen der Gruppe, in der ich lebe, und auch nicht weiter, als ich es selbst bin. Aber ich kann mir durchaus auch vorstellen, es gibt sogar einige Erfahrungen, in denen es mir gelungen ist, und vor allem solche, in denen ich bemerkt habe, dass es Mitgliedern unserer Gemeinschaft gelungen ist, wo es in der Erfüllung eines eigenen Bedürfnisses liegt, dem Bedürfnis des anderen zu entsprechen. Liebe in einem höheren Sinne besteht für mich darin, dass es meinem ureigensten Bedürfnis, auch meinem Gefühl entspricht, für den anderen das zu tun, was nach meiner Anschauung für ihn notwendig ist, ohne dabei bedrückt oder deprimiert auf eine Nicht-Erfüllung eines eigenen Bedürfnisses hinschielen zu müssen. Es ist mir natürlich bewusst, und dafür gibt es sehr viele Erfahrungen im Gesprächsaustausch, zum Beispiel der Rundgespräche, die wir mit anderen Gruppen regelmäßig führen, dass es recht viele Gruppen gibt, welche den inneren und äußeren Standort noch nicht erreicht haben, auf dem wir uns zur Zeit, ich weiß nicht, ob vorübergehend oder dauerhaft, befinden. Es gibt jedenfalls in wachsendem Maße Einzelne aus Wohngemeinschaften und ganze Wohn- und Arbeitsgruppen, die uns besuchen, mit denen wir Gespräche führen und die nach ihrer eigenen Aussage sehr wichtige Anregungen für ihr eigenes Leben von uns erhalten.

Peter Schilinski
über seine Erfahrungen im "Modell Wasserburg".

Aus einem unveröffentlichten Manuskript in Erinnerung an seinen Todestag vom 24. Dezember 1992

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Verhandeln statt Hass und Gewalt

Das Lehrstück Südtirol

Als am 22. April 1946 die Südtiroler 160 000 Unterschriften präsentierten, um den Anschluss an Österreich zu verlangen, ahnte das Nachkriegs-Italien, dass ein ernstes ethnisches Problem in Südtirol entstanden war. Die deutschsprachige Mehrheit, die rund zwei Drittel der Bevölkerung stellt, hatte die Abtretung Südtirols an Italien als Konsequenz des Ersten Weltkrieges im Jahr 1919 nie verwunden. Nicht akzeptieren konnte die Bevölkerung auch das Nein der Pariser Friedenskonferenz aus dem Jahr 1946 auf das Begehren des Wiederanschlusses an Österreich.

Wie während der Entwicklung anderer ethnischer Konflikte in Europa war der Schritt vom Protest der Sprach- und Kulturgemeinschaft der Südtiroler bis hin zum bewaffneten Kampf nur kurz. Am 12. Juni 1961 war der erste Tote zu beklagen. Dann ging es Schlag auf Schlag.

Ein harter Kern Südtiroler Terroristen bildete sich:

20. Oktober 1962: Ein Bombenattentat fordert zwei Menschenleben in einem Zug, 20 Passagiere werden verletzt.

3. September 1964: Zwei Carabinieri werden erschossen, vier verletzt.

26. August 1965: Wieder sterben zwei Carabinieri.

25. Juli 1966: Zwei Soldaten werden erschossen.

30. September 1967: Zwei Polizisten sterben bei einem Anschlag.

Am 21. September 1959 hatte Bruno Kreisky die Südtirolfrage vor der UNO erörtern lassen und Autonomie für Südtirol gefordert. Italien fühlte sich gedrängt, warf den Österreichern eine aktive Unterstützung der Terroristen vor.

Doch in dieser verfahrenen Situation geschah so etwas wie ein Wunder. Auf beiden Seiten begann trotz der vielen Toten nicht der Hass, sondern Verständnis zu wachsen. Ministerpräsidenten wie Giulio Andreotti, Francesco Cossiga und Aldo Moro setzten den weitreichendsten Minderheitenschutz der Welt durch. Neben Italienisch wurde Deutsch Amtssprache. Über eine Proporz-Regelung wurde der deutschsprachigen Mehrheit die Selbstverwaltung gestattet. Rom gewährte einen sehr weitreichenden Schutz für die Südtiroler Kultur und Traditionen. Zudem bekam die Region Südtirol massive Finanzmittel, die auf die Bevölkerung umgerechnet weit großzügiger ausfielen als in vergleichbaren Regionen.

Das Rezept, Toleranz zu zeigen, funktionierte ausgezeichnet. Sobald Rom Verständnis zeigte, gingen die Attentate rasch zurück. Da die militanten Gruppen noch nicht sehr groß waren und zunehmend Rückhalt in der Bevölkerung verloren, kam es nie wieder zu Anschlägen, die ernsthaften Schaden anrichteten oder Menschenleben kosteten.

Andreas Englisch

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