jedermensch
 

Jedermensch

Zeitschrift für soziale Dreigliederung,
neue Lebensformen und Umweltfragen

Winter  2007 - Nr. 645
Peter Schilinski und Rudi Dutschke

Inhalt

Die folgenden Beiträge und etliches darüber hinaus finden Sie in unserer Druckausgabe:

Deutschland in Bewegung

Dieter Koschek reflektiert die Zustände in Detuschland und gibt einen Rückblick auf das Sozialforum in Cottbus.

Die Schock-Strategie
Andreas Pahl bespricht Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus.

Das Klima in der Globalisierungsfalle
 Als in Neurath bei Düsseldorf im Jahr 1858 die Baumeister eines Brunnens zufällig auf Braunkohle stießen, konnten sie nicht wissen, dass dieser Ort 2007 zum Symbol deutscher Klima- und Energiepolitik werden würde. In Neurath baut RWE zwei neue Braunkohle-Kraftwerksblöcke. Im selbsternannten Klimaschutz-Vorreiterland Deutschland entsteht die größte C02-Schleuder ganz Europas. Und das, obwohl schön jetzt in Deutschland sechs von Europas zehn schädlichsten Kohlekraftwerken stehen. Von Chris Methmann

Hauptklimabelaster Kohlendioxyd
 Die Erderwärmung durch vermehrten Kohlendioxydausstoß im Rahmen großindustrieller Verwendung von Öl, Erdgas, Kohle und Holz kommt durch die Rückstrahlung der von diesen Partikeln in der Höhenluft zurückgestrahlten Erdwärme, welche üblicherweise sich im Weltall verlieren würde. Es wird dies in der Klimaforschung Treibhauseffekt genannt. Von Michael Hufschmidt.

Nein zum Vertrag von Lissabon!
Wider die Fortsetzung antidemokratischer und menschenrechtswidriger Politik im Namen der Europäischen Union.  Zum arglistigen Ersatz der an der französischen und niederländischen Bevölkerung gescheiterten „Verfassung für Europa" durch einen von den Institutionen der EU abgesegneten „Reformvertrag" Von Wolf dieter Narr.

Alternativer Nobelpreis 2007

Auf Sylt
Aus der Biographie über Rudi Dutschke: "Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben" von Gretchen Dutschke.

An den Sozialistischen Deutschen Studentenbund
Auszüge eines Briefes von Peter Schilinski im Febraur 1968

Briefwechsel mit Rudi Dutschke
mit Peter Schilinski

Mangel an gesprächsbereiten Dreigliederern
Peter Schilinski in einem Brief vom 22. Dezember 1982 an Anne Drüke. Sie hatte Rudi Dutschke im Herbst 1979 in der Stadthalle von Bremen erlebt.

Rudolf Steiner und Rosa Luxemburg
Renate Riemeck in dem von Angelika Oldenburg herausgegebenen Buch: Zeitgenossen Rudolf Steiners

Konkurrenz und Individualität
 Es mag zunächst “weit hergeholt” erscheinen, aber die Lebenskonflikte vieler Menschen sind im Grunde die zwischen Sein und Werden. Ein jeder Mensch hat sein Sein von Natur aus, es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er ist; ob er aber auch die Möglichkeit zum Werden hat, zur Ent-Wicklung, dies hängt vom Zustand der Erde, von den Sozialformen der Menschengemeinschaften und von vielen derartigen Faktoren ab. Von Andreas Pahl.

Ulrike Meinhof und Renate Riemeck - Hätte es auch anders laufen können?
Den Beitrag von Anton Kimpfler können Sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

Anthroposophie & jedermensch: Existieren wir gar nicht wirklich?
Den Beitrag von Anton Kimpfler können Sie nur in der gedruckten Ausgabe lesen

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Deutschland in Bewegung

Kassel und Wolfshagen haben ihre Verträge mit den großen Stromanbietern gekündigt und werden insgesamt auf Alternaive Stromversorger umsteigen. Volvo hat im Rahmen seiner Imagekampagne angekündigt, auf umweltfreundliche Wasserkraft umzusteigen.

So wie es ausschaut kommt langsam in die Klimadebatte Bewegung. Da wird auch die Diskussion um ein Tempo 130 auf deutschen Autobahnen weiterhelfen. Die eigentliche Forderung lautete ja 100 auf Autobahnen und 80 auf Landstrassen. Aber bis es so weit ist, wird sich die Wettersituation in Deutschland ja noch weiter verschärfen müssen. Die üblichen Verdächtigen schreien ja bei 130 schon laut genug.

Von dem SPD-Parteitag gehen noch weitere Signale aus. Die stimmlose Volksaktie für die Bahnprivatisierung ist so was wie der Bremsklotz für die Privatisierung überhaupt. Bahnchef Mehdorn jammert bereits um seine verlorenen Milliarden. Sein Rücktritt ist jetzt fällig und eine neue Kampagne für „Unsere Bahn“ muss in Schwung kommen, damit die Bahn ein klimaschonendes Fortbewegungsmittel mit attraktiven Angeboten und Preisen wird.

Unglaublicherweise hat die SPD den schlafenden Hund „demokratischer Sozialismus“ wieder geweckt. Sozialismus und Freiheit gehören unzertrennlich zusammen, so hörte ich in Berichten vom Parteitag. Zwar konnten die Befragten nicht genau sagen, was denn Sozialismus bedeuten könnte, doch es sei sozial und gerecht. Wenn ich da noch daran dachte was vor 10 Jahren mir noch um die Ohren flog, als ich von gesellschaftlicher Verantwortung für Großindustrien und Konzerne sprach.

Doch Vorsicht ist geboten. All zu deutlich ist die SPD nicht mehr regierungsfähig, zumindest befürchtet sie ein klares Verschwinden im Abseits von Grünen und Linkspartei und auf der anderen Seite Angela Merkel, die ja viele grüne und sozialdemokratische Momente für sich beansprucht. Wollen wir hoffen, dass der inhaltliche Umschwung in der SPD auch anhält – über Oppositionszeiten hinaus.

Auch die Grünen spüren den frischen Wind der Opposition. So fordert der Tübinger Oberbürgermeister ein Grundeinkommen für jeden – das ist sehr beachtlich, auch wenn er gleichzeitig seine Zustimmung für eine Grundsicherung etwa 70 Euro über dem Hartz IV Niveau verspricht. Das sind auch hier neue Töne. Die Mahnungen der Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV kommen zumindest in Teilen der ehemaligen Regierungsparteien an.

Doch Vorsicht: vertraue keinem Politiker! In der Opposition verspricht er viel und in der Regierung hat er viel vergessen. Oder er macht es so, wie die Europapolitiker: Da stößt das tolle Reformwerk Europaverfassung auf erhebliche Widerstände in der Bevölkerung, so dass die Verfassung nicht zu verwirklichen ist. Was macht man dann? Eine kleine Denkpause, eine Umbenennung in „Vertrag von Lissabon“ und flutsch setzt man das Ding ohne die Bevölkerung um. Angela Merkel feiert den Erfolg! Lügenmärchen und Täuschungsmanöver.

Bei so viel erfreulichen – wenn auch mit Vorsicht zu genießenden – Bewegung in Deutschland sollte sich der Blick der Dreigliederer auf die Impulsgeber dieses Aufbruchs lenken. Trotz Enttäuschung über die Teilnehmerzahl, haben sich Ende Oktober in Cottbus doch 1000 bis 1500 Teilnehmer beim Sozialforums getroffen, um den Protest, der sich in den Demonstrationen von Heiligendamm gezeigt hat, weiterzutragen.

Das Sozialforum ist einer der Orte, wo sich die kritischen Geister dieser Republik themenübergreifend treffen und diskutieren: Umweltschützen, Friedensbewegte, Betroffenenorganisationen, NGOs und Einzelkämpfer trafen sich mit Unterstützung der Gewerkschaften (allen voran ver.di) unter anderem auch zu einem Dialog mit den Parteien. Neben der DGB hat auch die GEW Bayern eine Kontaktstelle zu sozialen Bewegungen eingerichtet. Und die Linkspartei ist dabei, dies ihnen nachzutun. Hier zeigt sich die Spitze der Bedeutung der sozialen Bewegungen. Die Größe dieses Eisberges ist nicht zu erkunden – und auch sicher nicht an der enttäuschenden Teilnehmerzahl in Cottbus zu messen.

Den Gesprächen war zu entnehmen, dass es eine größere Zahl von radikalisierten - vor allem Jugendlicher - gibt, die eine Diskussion mit Gewerkschaftlern und Parteienvertretern eher langweilig erachtet und sich für andere Aktionen bereithält.

Ich konnte die meisten der Konferenzen in der Stadthalle verfolgen, da ich einen Büchertisch vor dem Konferenzraum hatte –und der war nicht so sehr frequentiert, sodass ich Zeit für die inhaltlichen Debatten hatte.

Die Konferenz „Für eine Politik des Friedens“ war gut besucht und Tobias Pflüger berichtet über den neuen europäischen Vertrag und die Bedeutung der gemeinsamen Militäreinsätze, die vom Europaparlament nicht kontrolliert werden können, da diese Militäreinsätze aus einem zwar gemeinsamen Fonds finanziert werden, der aber nicht im Haushalt erscheint. So bekommt der Parlamentarier die Auskunft, dass darüber somit auch keine Auskunftspflicht besteht. Die Konferenz verabschiedete die kurze Erklärung gegen den Europäischen Vertrag von Lissabon (siehe Seite  ).

Interessant war die Konferenz „Anders leben – für eine andere Welt“, in der Vertreter einer neuen Lebenskultur miteinander redeten. So hieß es , dass nicht nur eine andere Politik wichtig sei, sondern gerade auch ein authentisches Leben der Beteiligten, denn ansonsten sei auch eine alternative Politik nicht glaubwürdig. Hier wurde besonders auf gemeinschaftliches Leben hingewiesen.

In der   Konferenz „Welche Wirtschaftsordnung braucht die ökologische Wende“ wurde auf die Kampagne von attac hingewiesen, die die Politik der großen vier Energiekonzerne ins Visier nimmt. Die „Zerschlagung“ wurde angemahnt, aber über das „Wie?“ Und das „Was dann?“ besteht noch reger Diskussionsbedarf. Eine Vergesellschaftung findet noch nicht wieder eine Mehrheit, aber eine Dezentralisierung der Stromversorgung erscheint heute machbar. Denken  doch sogar CDU-Politiker laut darüber nach.

Die Konferenz “Globale soziale Rechte“ war die dritte Diskussionsveranstaltung über die Frage, ob und wie es einen gemeinsamen Kampf für globale soziale Rechte geben kann. Attac, medico international, die IG Metall und „kein mensch ist illegal“ haben seit April dieses Jahres einen gemeinsamen Diskussionsprozess angestoßen. Geplant ist nun, solche Diskussionsveranstaltungen mit Akteuren aus den genannten Bereichen (Greenpeace käme noch dazu) lokal durchzuführen, um den Prozess örtlich zu verankern.

Die Konferenz „Mindestlöhne statt Armutslöhne in Europa“ in der die Gewerkschaften dominierten führt wohl zu einer größeren Kampagne für den Mindestlohn in Deutschland, was auch im nächsten Wahlkampf allen Anschein nach ein Thema sein wird.

Die abschließende Versammlung sozialer Bewegungen war wohl eher ein Durcheinander. Es wurden keine Resolutionen und keine gemeinsamen Kampagnen beschlossen, vielmehr nur einige große Richtungen aufgezeigt. Da im kommenden Jahr kein Weltsozialforum stattfinden wird, soll für Aktionstage mobilisiert.

Am 26. Januar 2008 wollen die Initiativen den Global Action Day popularisieren und öffentlich machen. Das fünfte Europäische Sozialforum wird vom 18. bis 21. September 2008 in Malmö / Schweden stattfinden und das Weltsozialforum 2009 in Amazonien.

Dieter Koschek

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 Die Schock-Strategie 

Die 1970 geborene Kanadierin Naomi Klein, die vom SPIEGEL neben Arundhati Roy, Jean Ziegler, Noam Chomsky und anderen unter die zwölf prominentesten Globalisierungskritiker gekürt wurde und die mit ihrem ersten Buch “No Logo!”, einer beißenden Abhandlung über die kriminellen Usancen internationaler Markenfirmen, Weltruhm erlangte, hat mit ihrem neuen Werk “Die Schock-Strategie” eine noch tiefer schürfende Analyse über den “Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus” vorgelegt. Arundhati Roy nennt es ein “brillantes, mutiges und beängstigendes Buch, … nicht weniger als die inoffizielle Geschichte des »freien Marktes«”. Mehr noch als in “No Logo!” wirkte Naomi Klein bei diesem 650-Seiten-Opus (mit zusätzlich 100 Seiten Anmerkungen und Register) eher als “Chefredakteurin” und spart nicht an Lob und Erwähnung all jener, ohne deren engagierten Einsatz das Buch nicht zustandegekommen wäre. Allein die “Danksagungen” belegen sechs Seiten. Dies kann einerseits einem voreiligen Personenkult oder auch einseitiger Personenkritik vorbeugen, andererseits ist es ein Hinweis auf die von vielen jahrelang durchgeführten Recherchen und das reichhaltige Fachwissen, was hier zusammengetragen ist. Eine konzertierte Aktion der beteiligten Verlage machte es möglich, dass das Buch im September in sieben Weltsprachen gleichzeitig erschien. Insbesondere ihren Lektorinnen aus Kanada, den USA und England weiß sich Naomi Klein zu Dank verpflichtet, die das Werk zu dem ausweiteten, was zunächst jenseits ihrer eigenen, eingereichten Konzeption lag. Erstmals erwähnt die Autorin auch etwas wie ihren familiären Hintergrund, etwa gegenüber ihren Eltern – “schon ihr ganzes Leben lang verteidigten beide die Idee einer öffentlichen Sphäre außerhalb des Marktes. Michael im Gesundheitswesen und Bonnie in der Kunst” – oder ihren Bruder Seth Klein, Direktor des British Columbia Centre for Policy Alternatives.

Die Wurzeln dieses Buches liegen gemäß der Verfasserin in Recherchen, die sie über die Folter in Argentinien und deren Zusammenhang mit neoliberalistischen Ideen der “Chicagoer Schule” Milton Friedmans machte, gemäß denen auch die Strukturreformen Chiles nach 1973 durchgeführt wurden. Hierbei kamen ihr freigewordene Dokumente, die teils von südamerikanischen Menschenrechtsgruppen aufgearbeitet wurden und Studien wie “Brasilien: nie wieder!” zu Hilfe. Naomi Kleins besondere These ist nun, dass Erscheinungen wie Inhaftierung, Folter und “Beseitigung” von Andersdenkenden nicht lediglich Attribute willkürlicher Terrorregimes und chaotischer Diktaturen sind, sondern vielfach von “zivilen” Vordenkern neoliberaler Wirtschaftspraxis geradezu nahegelegt werden. Friedmans zunächst allgemein klingende Erkenntnis: “Nur eine Krise – eine tatsächliche oder empfundene – führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die in Umlauf sind” bekommt einen etwas maliziösen Unterton, wenn er es im Nachsatz als Aufgabe seiner Schule darstellt, diese Ideen dann “auf Abruf” parat zu halten. Damit enthüllt sich allerdings äußerst Bemerkenswertes, nämlich dass auch die von vielen als “selbstregulierend” eingestufte und gepriesene “freie Marktwirtschaft” auch nichts anderes als eine Planwirtschaft ist, die eben zwanghaft jenen Ideen folgen soll, die ihre Denkfabriken auf der Basis von Adam Smith, Ricardo, Malthus ausgebrütet haben – notfalls dann auch mit nachhelfender Gewalt. Es entlarvt sich die Illusion, dass deren Propagandisten “wertfrei” argumentieren und handeln würden, nur dem “Naturgesetz” optimaler wirtschaftlicher Entwicklung verpflichtet. Dies bestätigt nebenbei, was Steiners Lehre zur “Sozialen Dreigliederung” schon in den 1920er Jahren feststellte, daß es in Bezug auf menschliches Sozialleben ein Naturgesetz nicht geben kann, und ebenso den Beuys’schen Gedanken, dass alles menschliche Handeln, erst recht das soziale oder wirtschaftliche, “Kunst” ist, d.h. ohne menschliche Absicht und Denkbeteiligung nicht zustandekommen kann. – In dem Moment, wo massiv gegen die sozialistisch orientierten Sozialstrukturen eines Salvador Allende und ähnliches vorgegangen wurde, kann von “freier Marktentfaltung” keine Rede mehr sein. Klein demaskiert das demagogische Vokabular, welches bei Anwendung der “reinen” neoliberalen Lehre von “Säuberung” oder “Reinigung” etc. redet, wenn es sich um Inhaftierung und Bekehrungsfolter sozialistischer Dissidenten handelt, und das bedenkliche Andenken an den Nazi-Terrorstaat stellt sich um so kräftiger ein, wenn man die Fluchtwege ehemaliger Nazi-Koryphäen bedenkt, die z.B. in der Ära Péron sich in Südamerika niederlassen und dort zu gefragten “Lehrmeistern effektiver Verhörmethoden” werden konnten. So beschäftigt sich denn auch ein düsterer Teil des Buches detailliert mit “modernen” Verhör- und Foltermethoden, welche, ursprünglich zu psychiatrisch-therapeutischen Zielsetzungen entwickelt, dankbar von CIA und ähnlichen Vereinigungen aufgenommen und bis in die jüngste Gegenwart (etwa in Guantánamo) angewendet wurden.

In vielen Punkten weist das Buch akribisch nach, wie die neoliberale “heilige Dreiheit” von Privatisierung, Deregulierung und Reduktion der Sozialausgaben überall dort – notfalls militant – durchgeführt wird, wo eine Volkswirtschaft krisenhaft in den Sog ihrer Wirtschaftspraxis gerät oder diese, z.B. um Kredite von Weltbanken erhalten zu können, aufgepresst bekommt. Das in einer globalen Weltwirtschaft Krisen auch künstlich erzeugt werden können, versteht sich von selbst. Problematisch ist hierbei das ewige Polarisierungsspiel zwischen “kommunistisch” und “kapitalistisch”, als gäbe es keinen “3. Weg”, und auch Naomi Klein kann man mit ihrer eindeutigen Sympathie für den Sozialismus nicht gänzlich davon freisprechen. So verschleißen sich die Anhänger beider Lager in einem aussichtslosen Kampf, das jeweils eigene Ideal als allheilsam zu propagieren und jegliche Versagensschuld dem anderen System zuzuschieben, was de facto niemals gänzlich zutreffen kann. Ähnlich liegt die Polarisierung zwischen Keynes’scher “Nachfragepolitik” und der im Gegenzug dazu von Friedman gelehrten “Angebotspolitik”, welche beide ebenso nur weitreichende Teilwahrheiten darstellen können. So wie der den Versailler Verträgen beiwohnende Engländer John Maynard Keynes ein staatliche Regulierung in Wirtschaftsprozessen für unabdingbar hielt, halten die Chicagoer Neoliberalen jegliche Reglementierung für störend. Unter Kohl schrammte Deutschland nur knapp an der Einführung von ihrer “Angebotspolitik” vorbei.

Kleins Buch repetiert noch einmal beispielhaft die Tatsache der wahrhaft “feindlichen Übernahme” der irakischen Wirtschaft und Infrastruktur durch ausländische, vor allem amerikanische Unternehmen. Neu ist die eigentümliche Parallelität, die sie zwischen Psychotherapien, Foltermethoden und militärisch unterstütztem oder auf der Basis von Naturkatastrophen gründenden Unternehmensexpansionen sieht. “Shock and awe”, Schrecken und Furcht, hieß bekanntlich auch die US-Militärstrategie zum 2. Golfkrieg. Wem dieses damals nicht schon merkwürdig vorkam, der hat jetzt noch einmal Gelegenheit, darüber nachzudenken, was eine solche Bezeichnung eines Militärschlags seitens eines sich als christlich und zivilisiert gebenden Landes bedeuten mag. “Kampf gegen Terror” hört sich da schon besser an, würde dieser Kampf nicht gerade selbst mit Terrormethoden, eben “shock and awe”, geführt.

Neben neoliberalen Umstrukturierungen in Folge aggressiver Kriegspolitik und der Politik der “Neocons” in Lateinamerika werden solche anlässlich von Naturkatastrophen angeführt, betreffend etwa die Hotelneubauten an der Küste Sri Lankas auf Kosten der früheren Fischerdörfer, die durch den Tsunami vernichtet wurden, oder die privatisierende Umstrukturierung des Bildungswesens von New Orleans nach der Überschwemmungskatastrophe. Selbst die Kritiker dieses Buches, die ihm gewagte Theoriekonstruktion, die ans Phantastische, ja Verschwörungstheoretische grenze, vorwerfen, müssen eingestehen, dass es summa summarum nachdenklich macht und inhaltlich nicht von der Hand zu weisen ist. Man kann vielleicht sagen, Naomi Klein hebt an einer Ecke den Teppich hoch, unter den der Dreck der Geschichte gekehrt ist. Und dies ist ein zwar für manche unbequemer, aber wichtiger Beitrag zur Grundlegung einer ehrlichen und aufrichtigen Zukunftsgestaltung, die nicht auf selbstbetrügerischer Verdrängung beruht. Insofern ist das Buch trotz aller unvermeidlichen Darstellung von Entsetzlichem ein mutiges und ermutigendes, heilsames Buch, eine unbeirrte Platzergreifung von Humanität. –

Andreas Pahl

 Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. S. Fischer Verlag 2007

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 Das Klima in der Globalisierungsfalle

 Als in Neurath bei Düsseldorf im Jahr 1858 die Baumeister eines Brunnens zufällig auf Braunkohle stießen, konnten sie nicht wissen, dass dieser Ort 2007 zum Symbol deutscher Klima- und Energiepolitik werden würde. In Neurath baut RWE zwei neue Braunkohle-Kraftwerksblöcke. Im selbsternannten Klimaschutz-Vorreiterland Deutschland entsteht die größte C02-Schleuder ganz Europas. Und das, obwohl schön jetzt in Deutschland sechs von Europas zehn schädlichsten Kohlekraftwerken stehen.

Man braucht, gar nicht auf die anderen 28 Kohlekraftwerke schauen, die momentan in Deutschland geplant werden. Mit einem jährlichen Ausstoß von etwa 30 Millionen Tonnen C02 würde das neue Kraftwerk Neurath allein etwa 15 Prozent der C02Menge ausstoßen, die Deutschland sich 2050 erlauben dürfte, wenn wir die Erwärmung wirklich auf gerade noch tolerierbare 2 Grad Celsius begrenzen wollen. Allein diese Zahl entlarvt die Klimapolitik der Bundesregierung als Heuchelei.

Und das hat Tradition. Auch im Vorfeld der großen UN-Umweltkonferenz von Rio de Janeiro im Jahr 1992 gab es einen vergleichbaren Medienhype um das Klima. Auch damals versprachen die Politiker sofortiges Handeln. Geändert hat sich seitdem nur eines: Der Treibhausgas-Ausstoß der Industrieländer ist um 16 Prozent gestiegen.

Woher kommt diese katastrophale Bilanz von 15 Jahren Klimapolitik? Was muss sich ändern?

Nicht zufällig verläuft die Verschärfung der Klimakrise parallel zur neoliberalen Globalisierung: Der globalisierte Kapitalismus erhebt die Rendite zum alleinigen Maßstab des Handelns. Mensch und Umwett werden dem Profit untergeordnet. Anspruchsvolle Klimapolitik wird so zum Standortnachteil. Dazu kommt das Anschwellen der globalen Verkehrsströme. Diese sind die Lebensadern der globalisierten Weltwirtschaft. Damit globale Konzerne selbst kleinste Kostenvorteile ausnutzen können, sind sie darauf angewiesen, möglichst schnell Waren um den gesamten Planeten zu schicken. Allein der globale Schiffsverkehr verursacht inzwischen mehr Treibhausgasemissionen als ganz Afrika. Die gesamte Architektur der Weltwirtschaft steht dem Klimaschutz im Wege. Deswegen muss der Kampf gegen die globale Erwärmung immer auch ein Kämpf gegen die neoliberale Globalisierung sein.

Kein Wunder also; dass Klimaschutz nur dort propagiert wird, wo er den mächtigen Interessen der Konzerne nicht im Wege steht. Daraus folgen zwei Dinge. Erstens: Wir alle sind als Bürgerinnen und Bürger gefragt, die Machtverhältnisse gerade zu rücken. Eine Klimabewegung muss her. Eine Klimabewegung, die den Zusammenhang zwischen Ökologie und Gerechtigkeit, Globalisierungskritik und Klimapolitik in den Mittelpunkt rückt. Eine Klimabewegung, die gemeinsam in Nord und Süd für eine andere Umwelt streitet. Eine Klimabewegung, die mit politischem Protest, juristischer Gegenwehr und zivilem Ungehorsam offensiv die Machtfrage stellt. Als Mitglied der Klima-Allianz mobilisiert Attac für den globalen Klimaaktionstag am 8. Dezember 2007. In Berlin und Neurath wollen wir mit Tausenden auf die Straße gehen und diese Bewegung initiieren.

Zweitens: Wir müssen die Verhinderer des Klimaschutzes direkt angehen. Heute kontrollieren die vier großen Energiekonzerne - E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW - über 80 Prozent der Stromerzeugung und 100 Prozent der Netze - und setzen einseitig auf Kohle und Atomkraft. Unter dem Strich konnten sie einen Gewinn von 11 Milliarden Euro einstreichen - auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger: Seit dem Jahr 2000 ist der Strompreis in Deutschland um etwa 30 Prozent gestiegen. Und kürzlich verkündete E.ON-Chef Bernotat, dass Strom eigentlich noch immer viel zu günstig sei. Weil die Energiewirtschaft wie keine andere Branche mit der Politik verflochten ist, ist von politischer Seite keine Gegenwehr zu erwarten.

Die strukturelle Vorherrschaft der Energiekonzerne ist einer der neuralgischen Punkte für echten und gerechten Klimaschutz in Deutschland. In ihr überschneiden sich die soziale, die ökologische und die demokratische Frage. Als Bewegung müssen wir uns für eine Energieversorgung unter gesellschaftlicher Kontrolle stark machen. Eine Kampagne, die sich für die Zerschlagung der „großen Vier" stark macht, ist daher mehr als überfällig.

Chris Methmann

Mehr Infos zum Thema:

Attac-Basistext Nr. 26: Wem gehört der Himmel? Das Klima in der Globalisierungsfalle. Von Chris Methmann, Alexander Haack und Jesko Eisgruber. Hamburg, VSA www.attac.de/klima/

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 Hauptklimabelaster Kohlendioxyd

 Die Erderwärmung durch vermehrten Kohlendioxydausstoß im Rahmen großindustrieller Verwendung von Öl, Erdgas, Kohle und Holz kommt durch die Rückstrahlung der von diesen Partikeln in der Höhenluft zurückgestrahlten Erdwärme, welche üblicherweise sich im Weltall verlieren würde. Es wird dies in der Klimaforschung Treibhauseffekt genannt. Der Zusammenhang mit dem menschlichen Verhalten ist eindeutig wissenschaftlich erforscht. Unklar sind jedoch die übrigen Störeinflüsse und wie sie sich gegenseitig steigern (Synergieeffekte),

In dieser Grauzone tun sich gerade auch von Ölmultis wie Exxon-Mobil in den Vereinigten Staaten von Amerika (der 2006 seinen höchsten Umsatz in der Firmengeschichte gemacht hat) finanzierte Wissenschaftler gütlich, um mit pseudowissenschaftlichen Studien zu belegen, dass diese Zusammenhänge gar nicht so eindeutig und eine globale Klimaerwärmung auch ganz andere Ursachen wie etwa wellenförmig ab- und zunehmende Sonnenfleckenaktivitäten haben kann. Von 1998 bis 2005 erhielten von letztgenanntem Konzern 43 Lobbyorganisationen fast 16 Millionen Dollar dafür, dass sie die Öffentlichkeit durcheinanderbringen, damit nur ja der Absatz infolge Sparsamkeitsdenken aus Vor- und Rücksicht auf die Umwelt nicht zunimmt! Dies geht soweit, dass, wie im Kapitel „Die Klima-Krise" der neuesten Schrift des ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore "Angriff auf die Vernunft'' (Riemann-Verlag München) beschrieben ist, die Konzernleitung Absprachen mit dem Mitarbeiterstab des amtierenden Präsidenten der USA, George W. Bush praktiziert, um zur Desinformation beizutragen

Ein neuer internationaler Forschungsbericht eines zwischenstaatlichen Expertengremiums zu Klimafragen war Anfang 2007 Anlass für Exxon-Mobil, Pseudostudien mit jeweils 10 000 Dollar zu unterstützen, die diese Ergebnisse bestreiten. Selbst das englische Pendant der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA hat förmlich ihre Forderung an Exxon-Mobil bekräftigt, die Verbreitung "besonders irreführender" und "unrichtiger" Informationen einzustellen!

George W. Bush ging sogar soweit, diejenigen Wissenschaftler öffentlich zu diskreditieren, welche Berichte verfassen, wonach die USA und die Welt mit einer besonderen Gefahr durch die Klimaerwärmung konfrontiert sind. Dabei konnte zum Beispiel die Gruppe von 22 Wissenschaftlern, die im Jahr 2007 am Südpol im Auftrag von England arbeiteten, den Meeresspiegelanstieg aufgrund Gletscherschmelzen sowie den Artenrückgang bei Meerestieren, auch die Verletzung des Höhenozons in der Stratosphäre, eindeutig durch Messungen belegen. Deshalb waren es auch sie, die gern ein Benefiz-Konzert im antarktischen Eis vor laufender Kamera gaben, um auf die Klimagefährdung weltweit hinzuweisen. Es bleibt also eine unwiderlegliche Aufforderung, die Gefährdungen der Umwelt durch Maßnahmen zur Verringerung der Kohlendioxydbelastung abzumildern.

Michael Hufschmidt

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 Nein zum Vertrag von Lissabon!

Wider die Fortsetzung antidemokratischer und menschenrechtswidriger Politik im Namen der Europäischen Union

 Zum arglistigen Ersatz der an der französischen und niederländischen Bevölkerung gescheiterten „Verfassung für Europa" durch einen von den Institutionen der EU abgesegneten „Reformvertrag"

 I. Die Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten der EU im Oktober 2007 soll einen so genannten Reformvertrag beschließen. Dieser Reformvertrag ist pure Tünche. Er soll erlauben, das Monstrum einer „Verfassung für Europa", mit einem Sprachfilter versehen, durch die einschlägigen europäischen Institutionen zu pauken. Und er soll vermeiden lassen, dass europäische Regierungen, die nicht wie die Berliner dem nachdemokratischen repräsentativen Absolutismus frönen, den als „Reformvertrag" anscheinhaft unverbindlicheren Text erneut der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen. Damit ist der „Reformvertrag" in der Prozedur von vornherein noch weniger demokratisch als dies für den Verfassungsentwurf galt.

II. Tatsächlich aber sind die im „Reformvertrag" vorgesehenen Änderungen der gescheiterten Unionsverfassung minimal. Alle haupt-sächlichen Mängel des Verfassungsentwurfs bleiben bestehen:
- Die Konzeption der EU primär als Wettbewerbsblock auf dem Weltmarkt;
- Dementsprechend Regelungen zur „Sicherheits- und Verteidigungspolitik", die den überragenden großen ökonomischen Interessen nach außen und nach innen dienen;
- Die einseitige Fixierung auf expansive Konkurrenzmacht und ihre Sicherung kommt dadurch zum Ausdruck, dass die EU wie ein übermäßiger Nationalstaat Vorkehrungen trifft, eine repressiv-selektive „Steuerung der Migrationsströme" zu betreiben - mit Lagerbildungen innerhalb der Mitgliedstaaten und vor diesen.
- Konsequent werden die ihrerseits nicht mehr funktionsfähigen Einrichtungen liberaldemokratischer Verfassungen so geschwächt, dass demokratische Verfahren und politisches Ernstnehmen von Bürgerinnen und Bürgern wie ein Hauch „europäischer Werte" verduften.
- Die EU als Staatengemeinschaft traktiert ihre Mitgliedstaaten (und damit auch deren Bevölkerungen) hochgradig ungleich. Die fünf ökonomisch und qua Bevölkerung mächtigsten Staaten können die anderen durchgehend in ihre Richtung drängen.

III. Um einen Eindruck dieses minimalistischen, zugleich in Sachen ökonomischer Größe und Expansion herrschaftsmaximalistischen „Reformvertrags" zu gewinnen, dient ein genauer Blick auf die Schlussfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat (Brüssel) vom 21./22.Juni 2007. Unvereinbare Ziele werden mit unschuldigen Kommas und der Koppula „und" verbunden. Unter 1. heißt es so: Die Europäische Union ist entschlossen, mit ihren Vorstellungen von einer nachhaltigen, effizienten und gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung einen Beitrag zum globalen Prozess zu leisten." Über die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in diesem übergroßen, fast eine halbe Milliarde Menschen umfassenden Raum wird unter 7. verlautbart, „von entscheidender Bedeutung" sei es, „die Kommunikation mit den europäischen Bürgern zu verstärken, indem sie uneingeschränkt und umfassend über die Europäische Union informiert und in einen ständigen Dialog einbezogen werden." Der Nachsatz lässt den Pferdefuß wenigstens ahnen. „Dies wird während der bevorstehenden Regierungskonferenz und des Ratifizierungsprozesses besonders wichtig sein." Kein Hinweis findet sich (...) wie diese Information aussehen solle, wie die BürgerInnen instandgesetzt werden könnten, diese zu verstehen, was mit der Leerformel „Dialog" umgesetzt auf besagte halbe Milliarde von Menschen gemeint sein könnte. (...)

Richtig konkret wird es erst im Abschnitt „Justiz und Inneres". Jetzt gibt es fürs abwehrbereite Europa gegenüber nichteuropäischen Menschen kein Halten mehr (grotesk, dass - freilich wieder eher in repressiver Prävention zugespitzt - den eigenen BürgerInnen gegenüber formuliert in Punkt 27 von einer „Bekämpfung des Rassismus" pauschal die Rede ist). Von einer „europäischen Migrationspolitik" wird gesprochen, die „allen Aspekten der Migration Rechnung" tragen solle; einer „echten Partnerschaft mit Drittländern" ; die gesamte „Migrations- und Entwicklungsagenda" solle „ganz in die außenpolitischen Strategien der Union integriert" sein. Dann könnte die „Steuerung der Migrationsströme" gelingen, vermöchten die „spezifischen Bedürfnisse" der „Arbeitsmärkte" in den Mitgliedstaaten berücksichtigt zu werden; könne „Frontex" endlich „gemeinsame Aktionen an den Außengrenzen" bewirken, die „illegale Migration" bekämpften und sogar der „Rettung von Menschenleben" dienten. Der Rettung von Menschen gilt auch der folgende Satz (Ziffer 18): „Der Europäische Rat begrüßt daher die Einigung über die Einrichtung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke, die Einführung des Küstenpatrouilliennetzes und die Schaffung einer zentralisierten ,Toolbox` mit technischer Ausrüstung, die den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt wird."

IV. Und so geht es weiter mit dem begrüßenden Hinweis auf ein VisaInformationssystem und ähnliche die „Wertegemeinschaft" der EU belegende „Errungenschaften" mehr.

Kann irgendeine Bürgerin, kann irgendein Bürger dieses Europa wollen? Es dient aktuell gewiss herrschenden Interessen - auch denen der Mehrheit der europäischen Bevölkerung heute und morgen? Nein! Diese EU lebt zu Unrecht vom attraktiven Charme, nationalstaatliche Engen und Aggressionen zu überwinden. Sie hebt diese Verblendungen und Aggressionen nur auf das heute qua Globalisierung angeblich sachzwangsartig zu erreichende Niveau. Wem Demokratie und Menschenrechte ernst sind, weil sie ihr und ihm wie anderen Menschen nützlich sind, der muss gegen diese EU bürgerlich kämpfen. Als Citoyen und als Citoyenne. Ein anderes Europa ist möglich und nötig!

Wolf-Dieter Narr (veröffentlicht als Presseinformation am 25. September 2007)

 "Für eine Politik des Friedens" 

 "Die Teilnehmerinnen der Konferenz „Für eine Politik des Friedens“ beim 2. Sozialforum in Deutschland bringen ihre entschiedene Ablehnung des heute in Lissabon von den EU-Regierungschefs erarbeiteten so genannten „EU-Reformvertrags“ aus folgenden Gründen zum Ausdruck:
Das geplante Vertragswerk stimmt in allen wesentlichen Teilen inhaltlich mit dem in Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassungsvertrag überein. Insofern ist die Verabschiedung des Reformvertrags ein grober Verstoß gegen die demokratischen Grundregeln.
Auch der Reformvertrag schreibt eine neoliberale Wirtschaftspolitik und eine Militarisierung für die Europäische Union fest. Zum Beispiel wird im neuen Artikel 27.3 die Aufrüstungsverpflichtung für die EU-Mitgliedstaaten festgelegt; im zukünftigen Artikel 27.7 wird die NATO als Bezugsrahmen für die EU-Militärpolitik ausdrücklich erwähnt.
Neu im Reformvertrag ist die Einführung eines eigenständigen EU-Militärhaushaltes (der so genannte „Anschubfonds“), den der bisher gültige Vertrag von Nizza nicht vorsieht.
Die EU-Rüstungsagentur wird durch den Reformvertrag erstmals vertraglich legitimiert.
Die Teilnehmerinnen sprechen sich für eine bundes- und europaweite Kampagne gegen die Ratifizierungen des „EU-Reformvertrags“ aus. Die Umgehung von Referenden in den Mitgliedsstaaten über den EU-Reformvertrag wurde deutlich kritisiert."
Diese Erklärung wird von der "Versammlung der Sozialen Bewegungen" per Akklamation unterstützt.

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 Alternativer Nobelpreis

 Praktische Lösungen für drängende globale Probleme. Dafür werden die in Stockholm bekanntgegebenen diesjährigen PreisträgerInnen des "alternativen Nobelpreises" geehrt. Ausgezeichnet werden der sri-lankanische Jurist Christopher Weeramantry und die Friedensaktivistin Dekha Ibrahim Abdi aus Kenia, welche den Preis erhalten, weil sie - so die Begründung des Preisstifters Jakob von Uexküll - mit ihrer Arbeit demonstrieren, wie Krieg und Terror durch das Völkerrecht und durch aktive Konfliktlösung verhindert werden können". Ausserdem Percy and Louise Schmeiser aus Kanada und das Unternehmen Grameen Shakti aus Bangladesch, "weil sie uns gezeigt haben, wie zwei unentbehrliche Bausteine unseres globalen Ökosystems, unsere landwirtschaftlichen Ressourcen und unser globales Klima, noch zu retten sind" (Uexküll).

Grameen Shakti ist ein 1996 gegründetes Nonprofit-Unternehmen, das zur - im letzten Jahr mit dem Friedensnobelpreis geehrten - Grameen-Bank gehört. Dessen Ziel ist es, eine kostengünstige und klimafreundliche Energieversorgung für die arme dörfliche Bevölkerung bereitzustellen. Das Konzept sind vor allem Photovoltaic-Solarpanele, die an Batterien gekoppelt sind. Bislang wurden über 100.000 derartige Solaranlagen in 30.000 Dörfer geliefert. Das Ziel sind 1 Million Installationen bis zum Jahr 2015. Daneben beschäftigt man sich auch mit Wind- und Biogasanlagen.

Durch den so gewonnenen Strom wird nicht nur die feuergefährliche Kerosinbeleuchtung ersetzt, sondern, so die Jury "in Tausenden bangladeschischen Dörfern eine nachhaltige Beleuchtung und Energieversorgung möglich gemacht, die die Gesundheit, Bildung und Produktivität fördert." Die Finanzierung der Anlagen geschieht nach dem Vorbild des Mikrokreditsystems der Grameen-Bank. Für deren technischen Unterhalt wurden vor allem Frauen entsprechend ausgebildet.

Das kanadische Ehepaar Percy und Louise Schmeiser das, so die Jurybegründung, die Artenvielfalt und der Rechte der Bauern verteidigt, weil "sie die derzeitige ökologisch und moralisch perverse Auslegung des Patentrechts in Frage stellt", wird für ihren Kampf gegen die Praktiken der Firma Monsanto geehrt. Das Farmerehepaar hatte einen Musterprozess gegen Monsanto bis zum Obersten Gerichtshof geführt, als diese Firma 1998 von ihnen Lizenzgebühren für genmodifiziertes Saatgut verlangen wollte, welches die Schmeisers nie ausgesät hatten. Das aber von Nachbaräckern auf ihre Felder geweht worden war. Diese Forderung wurde gerichtlich abgewiesen.

Der Prozess führte ausserdem dazu, dass das Oberste Gericht das kanadische Parlament ermahnte, ein Gesetz für den Umgang mit gentechnisch verändertem Pflanzengut zu verabschieden, damit in Zukunft derart bizarre Verfahren vermieden würden. Derzeit führen die Schmeisers einen weiteren Musterprozess, in dem sie von Monsanto Schadensersatz für das Ausjäten genmodifizierter Pflanzen haben wollen, deren Saat wiederum von Nachbarfeldern auf die ihren geweht wurde. Die Jury ehrt ihren Kampf, "die Welt auf die Gefahren für die Landwirtschaft und die Artenvielfalt aufmerksam zu machen, die von der zunehmenden Marktdominanz und dem aggressiven Marketing von Firmen ausgeht, die Saatgut gentechnisch manipulieren".

Der Juraprofessor Christopher Weeramantry aus Sri Lanka wurde vor allem bekannt, weil er als Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag 1996 in einem abweichendem Votum begründete, warum die Anwendung oder Drohung mit Nuklearwaffen immer gegen das Völkerrecht verstößt. 2001 gründete er in Sri Lanka das Weeramantry-Friedenszentrum. Die Jury würdigt "seine lebenslange bahnbrechende Arbeit für die Stärkung und Ausweitung des Völkerrechts".

Die 1964 in der nordkenianischen Provinz Wajir geborene Dekha Ibrahim Abdi wird ausgezeichnet "weil sie in unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Situationen gezeigt hat, wie religiöse und andere Differenzen sogar nach gewalttätigen Konflikten versöhnt werden können und wie in einem kooperativen Prozess Frieden und Entwicklung erreicht werden kann". Abdi war u.a. Gründungsmitglied von COPA ("Coalition of Peace in Africa") und gehört seit kurzem zum Beratergremium des Berghof Forschungszentrums für konstruktive Konfliktbearbeitung. 2005 war sie zu einer der "1000 Frauen für den Nobelpreis" nominiert worden.

Der "Right Livelihood Award", so die offizielle Bezeichnung des "alternativen Nobelpreises" wurde 1980 von dem deutsch-schwedischen Publizisten, Philatelisten und späteren Europa-Abgeordneten Jakob von Uexküll ins Leben gerufen. Geehrt werden sollen nach den Statuten "Menschen und Initiativen, die Lösungen für die dringendsten Probleme unserer Zeit finden und erfolgreich umsetzen". Über die Vergabe entscheidet eine internationale Jury. In diesem Jahr traf sie die Auswahl zwischen 84 vorgeschlagenen KandidatInnen aus 42 Ländern. Die PreisträgerInnen teilen sich das Preisgeld von 2 Millionen Kronen, umgerechnet 220.000 Euro. Bisher wurden 123 Organisationen und Einzelpersonen aus fast 60 Ländern geehrt. Aus dem deutschsprachigen Raum beispielsweise Hermann Scheer, Petra Kelly, Hans-Peter Dürr und Robert Jungk. Die diesjährige Preisverleihung findet am 7. Dezember - zwei Tage vor der Nobelpreisvergabe - im schwedischen Reichstag statt.

Taz 2.10.2007

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 Auf Sylt

 Rudi musste etwas schreiben. Aber er kam nicht dazu, pausenlos lenkten ihn andere ab. Ich glaube nicht, dass es ein Artikel für den "konkret"-Verleger Klaus Rainer Röhl war, aber eines Tages rief dieser an: "Nimm dir ein paar Tage frei und verschwinde, wo sie dich nicht finden, und schreibe. Ich habe ein Haus in Kampen gemietet. Da können du und deine Frau hin." "Kampen?", fragte Rudi skeptisch. "Kampen auf Sylt. Es ist sehr schön dort an der Nordsee: Es gibt gute Luft und den Strand", sagte Röhl.

"Und die höheren Damen und Herren, Axel Springer", ergänzte Rudi. "Es gibt da meistens nur ganz gewöhnliche Menschen, und sie werden dich nicht stören."

Wir machten Zwischenstation in Hamburg, wo wir zum ersten Mal Ulrike Meinhof begegneten, die damals mit Röhl verheiratet war. Rudi diskutierte mit Ulrike, die sich vermutlich zum ersten Mal mit der antiautoritären Linie auseinandersetzte. Die Hamburger Linksschickeria, zu der sie gehörte, bestand vor allem aus Altkommunisten.

In Kampen wohnten wir in einer roten Backsteinhütte mit Reetdach in den Dünen zwischen verwehtem Sand und knisterndem Sandgras. Ein paar Tage blieb es ruhig. Dann wurde Rudi entdeckt. Ein älterer Mann erschien und stellte sich als Peter Schilinski vor. Er vertrat eine anthroposophische Richtung, eine Alternative zu Kapitalismus und Kommunismus. Und er arbeitete an einer Kampagne für direkte Demokratie. Seine Gruppe hatte einen Plan für eine offene Stadt WestBerlin ausgearbeitet, der in einigen Punkten Rudis Freistaatskonzept glich, was diesen neugierig machte.

Schilinski wohnte auf Sylt und organisierte wöchentlich Diskussions-Veranstaltungen. Er fragte Rudi, ob er nicht an einem solchen Gespräch teilnehmen wolle. Rudi reizte es, weil Springer einen Wohnsitz in der Nähe hatte. Damit war der Urlaub von der Politik zu Ende. Schon am Abend zog Rudi mit ein paar politischen Freunden von Schilinski los, um auf einer Klippe "Enteignet Springer" einzuritzen. Ein paar Tage später hatte Schilinski ein Flugblatt hergestellt: "Einladung, 20 Uhr, Hofbräuhaus, Westerland. Axel Cäsar Springer - was stört uns?" Springer wurde auch eingeladen, um entgegnen zu können. Rudi war etwas nervös vor der Veranstaltung. Vor Unternehmern zu sprechen war er nicht gewohnt.

Der Versammlungsraum, eine Teestube, war gerammelt voll, und davor drängten sich die Menschen. Schilinski erinnerte sich später an diese Veranstaltung: "Was rüber kam, war der Mensch Rudi Dutschke, er erreichte den Menschen selbst im hartgesottenen Unternehmer. Nie habe ich einen Politischen erlebt, der sich so um die ihm zuhörenden Menschen bemühte wie er. Ich sehe es noch vor mir, wie er menschlich auf die blödesten Springer-Argumente antwortete, wie er einem bulligen Dicken, der empört gehen wollte, sagte, bleiben Sie doch, wir können ja noch nachher sprechen. Der Mann blieb wirklich, irgend etwas, was ganz einfach von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz ging, hatte ihn erreicht... Ich höre noch, wie einer unserer wütendsten Gegner in den Rundgesprächen, ein 'realistischer Manager', nicht umhin konnte, in der Runde zu sagen: Ich verstehe den Dutschke nicht, ich bin auch weiter ein Gegner aller Linken, aber der Junge ist ein anständiger Mensch, das steht fest, der ist anatändiger als alle Politiker zusammen."

Aus der Biographie über Rudi Dutschke: "Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben" von Gretchen Dutschke (Köln 1996)

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An den Sozialistischen Deutschen Studentenbund

 Vorausschicken möchte ich, dass ich die politische Bewegung, besonders die, die vom SDS ausgeht, deshalb bejahe, weil sie sich kompromisslos zu dem Ziel der Befreiung aller Menschen von geistiger Unterdrückung und materieller Ausbeutung bekennt, kompromisslos deshalb, weil sie eine tiefgreifende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Voraussetzung für die Befreiung des Menschen erkennt. Meine politische Verbindung zum SDS ergibt sich daraus, dass ich aus eigener Arbeit und Anschauung seit 20 Jahren für die jetzt vom SDS zu öffentlicher Wirksamkeit gebrachten Ziele kämpfe: Befreiung aller Menschen aus geistiger Unterdrückung und wirtschaftlicher Ausbeutung, radikale Demokratisierung, Abschaffung kapitalistischer und bürokratischer Formen der autoritären Herrschaft, Selbstbestimmung des Menschen als Ergebnis einer Bewusstwerdung auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens, Selbstbestimmung des Menschen als Ziel eines Weges, dessen einzelne Stationen die Herrschaft des Menschen über den Menschen auf immer mehr Gebieten des politischen Lebens überwinden. Wenn die führenden SDS-Mitglieder der Ansicht sind, dass die Lehre des Marxismus die Gedankengrundlage dieser Veränderung zu sein hat, so kann ich dem nur zustimmen, soweit es die großen Ziele betrifft, die Marx verkündet hat. Im einzelnen vertrete ich zum Teil sehr viel radikalere Anschauungen als Marx, zum Teil humanere.

Wenn ich die nachfolgenden Gedanken schriftlich äußere, so deshalb, weil ich nunmehr aus Erfahrung weiß, dass es vollkommen aussichtslos ist, in einer Beiratssitzung des SDS oder auch vor einem anderen größeren Forum, wo angeblich eine Diskussion geführt werden soll, diese Gedanken auch nur zu äußern, geschweige denn diskutieren zu können...

In den Beiratssitzungen des SDS habe ich immer nur erlebt, dass stets die gleichen in den Führungspositionen sich befindlichen Mitglieder die Diskussion führten. Das entscheidende Ziel der Demokratisierung ist hier sehr auf dem Wege, zur phrasenhaften Formalie abzusinken. Die Atmosphäre der Beiratssitzung ist nicht mehr demokratisch, sondern eindeutig autoritär. Von einigen wenigen wird von der Person her ein derartiger Druck ausgeübt, dass nur das, was sie diskutieren wollen, diskutiert wird, und dass in den Abstimmungen von vornherein durch den Druck dieser Führer feststeht, dass in ihrem Sinne abgestimmt wird.

Wenn der SDS und die außerparlamentarische Opposition absolut berechtigt - endlich! - gegen die herrschenden Parteien im Bundestag den Vorwurf erheben, dass es keinen echten Dialog mehr bei ihnen zwischen Parteivolk und Führung gäbe, so trifft dieser Vorwurf in der gegenwärtigen Situation den SDS von Berlin in vollem Umfang selbst. Auch im SDS von Berlin gibt es keinen Dialog mehr zwischen der Basis - den Mitgliedern - und der Führungsspitze. Dabei spielt es praktisch keine Rolle, dass die Mitglieder noch bei den Beiratssitzungen physisch vorhanden sind. Die autoritäre Struktur kommt darin zum Ausdruck, dass sie sich aufgrund der geistigen Repressionen, die von den Führenden ausgeübt wird, nicht äußern. In zahlreichen Gesprächen, die ich mit Mitgliedern der Basis führte, wurde diese Situation sehr deutlich ausgesprochen. Auf meine Frage, warum die Betroffenen diese Ansichten nicht im Beirat äußern, wurde immer wieder die Hoffnung - allerdings schon mehr resignativ als überzeugt - geäußert, dass ja "demnächst" über diese Fragen in der notwendigen Ausführlichkeit gesprochen werden solle.

Die Notwendigkeit einer solchen grundlegenden Aussprache über die Struktur des SDS in Berlin wurde von Mitgliedern der Führungsspitze bisweilen mit wenig überzeugender deklamatorischer Geste betont. In Wirklichkeit hat sie nie stattgefunden. In der Diskussion herrschten dann die Tagesprobleme absolut vor. Ihre vordringliche Behandlung, die sich dauernd wiederholte, lässt die Frage entstehen, ob hier bereits eine bewusste Manipulation vorliegt, derart, dass die Aktions-Hektik den Führenden willkommener Anlass ist, um die Diskussion über Grundfragen - zum Beispiel: Wie kommen wir zu einem echten Dialog zwischen Basis und Führung im SDS-Berlin? - zu verdrängen.

Die autoritäre Struktur des SDS von Berlin zeigte ihren Höhepunkt darin, dass - wie ich erlebt habe - ein auch nur wenig von der Anschauung der Führenden differierender Gedanke, wenn er nicht von einem Mitglied der Führungsspitze geäußert wird, von den Anwesenden nicht nur nicht diskutiert, sondern mit Buh-Rufen quittiert wird. Das autoritäre Verhalten der Führenden kommt in der gleichen Situation darin zum Ausdruck, dass sie sich ebenfalls nicht auf eine Diskussion einlassen oder sie herausfordern, sondern dass sie im Gegenteil die Buh-Rufe als sie selbst befriedigende Bestätigung aufnehmen. Auch das habe ich mehrfach erlebt. Wird hingegen ein inhaltlich gleicher kritischer Gedanke von einem Angehörigen der Führungsspitze geäußert, dann findet er - vermöge des repressiven Drucks dieser Person - widerspruchslose Akklamation.

Unter diesen Umständen wird einem kritisch Denkenden, der das anti-autoritäre Grundanliegen der politischen Bewegung wirklich ernst nimmt - gerade weil er das tut! - eine produktive Zusammenarbeit mit dem Berliner SDS sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Hinzu kommt eine ausgeprägte persönliche Arroganz bei gewissen führenden Mitgliedern des SDS von Berlin. Sie kommt in einem entsprechenden Verhalten gegenüber anderen Mitgliedern der Basis in der politischen Diskussion zum Ausdruck.

Wer nicht gleich so versteht, wie es diese Führenden wollen, wird überheblich behandelt, kurz zurechtgewiesen, in der weiteren Diskussion einfach übergangen oder auch - mit Hilfe der akklamativen Mitglieder - ausgelacht. Der so Betroffene zieht sich geschlagen in sein Schneckenhaus zurück - er sinkt in die Rolle des reinen Ausführers von Führungsbefehlen ab - oder er wird eines Tages den SDS verlassen...

Diese Arroganz wird durch den formalen Begriff "Genosse" in keiner Weise in ihrer Wirkung gemindert. Sie hat die gleiche Wirkung wie die Arroganz der Leute in führenden Positionen des Establishments und in den Adelskreisen des 19. Jahrhunderts. Sie vermittelt Abschreckung, Unnahbarkeit, unreflektierte Gefolgsgesinnung oder Abwendung. Sie lässt eine pädagogische Haltung, eine Gesinnung der Hilfestellung gegenüber dem Menschen im Prozess der Bewusstwerdung gar nicht aufkommen. Wenn man derartige Fragen mit einem Führer des SDS einmal zwischen Tür und Angel - mehr Zeit nimmt er sich in der Regel nicht dafür - zu erörtern sucht, dann findet man immer wieder die stereotype Antwort: "Das können wir noch nicht leisten" - wenn überhaupt geantwortet wird. Diese Antwort hat den Charakter der bewussten oder unbewussten Abwehr und des Hinhaltens, denn es lässt sich lückenlos nachweisen, dass nichts dafür getan wird, um die Frage zu untersuchen, ob Menschen da sind, die bereit und fähig sind, eine pädagogische Hilfe in diesem Prozess der politischen Bewusstwerdung denen gegenüber zu leisten, die diese Hilfe suchen. Es wären nicht wenige da, die solche Arbeit leisten könnten und wollten. Es besteht aber keine Möglichkeit darüber mit der notwendigen Ausführlichkeit zu sprechen, und so ergibt sich kein Ansatzpunkt für einen vielleicht möglichen konkreten Beginn. Nach meinen Erfahrungen im Berliner SDS zweifle ich daran, dass diese Hilfestellung in Form einer pädagogischen Vermittlung eines Bewusstsein bewirkenden Wissens überhaupt gewollt wird...

Wenn außerhalb der politischen Diskussionen und Entscheidungen die Arroganz der Führenden zurücktritt und einer mehr oder weniger gleichberechtigten Umgangsform Platz macht, so ist das für die politische Struktur des SDS-Berlin ohne Wirkung. Es entspricht das genau der früheren Entwicklungsphase der heutigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands...

Wenn der Berliner SDS die gegenwärtige Struktur beibehält, dann wird sich aus ihm im Falle politischer Erfolge eine Machtelite entwickeln, die im vollen Gegensatz zur ursprünglichen anti-autoritären Absicht sich verhält. Die Macht dieser Elite wird für das sozialistische Ziel - die Selbstbestimmung des Menschen, seine Befreiung aus geistiger Bevormundung und wirtschaftlicher Ausbeutung - um so gefährlicher werden, je größer sie ist. Alle Ansätze für eine solche Entwicklung sind kräftig ausgebildet...

Die autoritäre Struktur des Berliner SDS kommt ebenfalls in dem Verhältnis zu den weiblichen Mitgliedern zum Ausdruck. Bei allen politischen Zusammenkünften ist die Atmosphäre derart einseitig intellektuell - darunter verstehe ich, dass über ein Minimum von Erfahrung ein Maximum von Theorie gestülpt wird -, dass gerade das, was von einer Frau dazu ergänzend gesagt werden könnte, nicht den geringsten Boden für seine Existenz hat. Es würde nicht verstanden und als naiv abgetan - weil es außerhalb des Bereiches einseitiger Intellektualität steht. Es wird hier - bewusst-unbewusst - fast alles getan, um die geistige Emanzipation der Frau zu verhindern. Die Frau tritt hier als helfende Arbeitskraft des Mannes, als Hilfswillige für den Mann auf und zwar auf allen Gebieten, wo der Mann sie braucht...

In der Haltung zu Gruppen, die von den Auffassungen des Berliner SDS abweichen - auch wenn sie der außerparlamentarischen Opposition angehören - zeigen sich die Merkmale, die für den traditionellen Marxismus typisch sind: Unsere Auffassung ist richtig, die Auffassung und Verhaltensweise der anderen ist falsch und wird bekämpft...

Herr Lefèvre sagte bei der Vollversammlung der Technischen Universität, dass die politische Bewegung der Studenten die Isolierung gegenüber der Bevölkerung von Berlin nicht habe überwinden können. Darüber müsse man sprechen. Es ist nicht darüber gesprochen worden. Ich möchte hinzufügen, dass aus einem bis zum reinen Unverstand gehenden Fanatismus oder aus einer idealistischen Naivität heraus alles getan wird, um diese Isolation zu verstärken. Beispiel die Vietnam-Demonstration: Es ist ein taktischer Fehler schlimmsten Ausmaßes, wenn man der Westberliner Bevölkerung zumutet, zu verstehen, dass der Wald von roten Fahnen etwas anderes bedeutet als eine Bejahung des Systems der DDR (Deutschen Demokratischen Republik) und der Sowjet-Union. Wenn man das tut, dann hätte man vorher durch eine großangelegte Agitation die Bevölkerung darüber aufklären müssen, dass die rote Fahne als Symbol der radikal-demokratischen und antiautoritären Studentenbewegung von Berlin etwas sehr anderes bedeutet als die Bejahung der heute noch autoritären Systeme der DDR und der Sowjetunion.

Diejenigen Demonstranten, die das Gespräch mit der Bevölkerung zu führen suchten, wurden leichtfertig in die Situation der Aussichtslosigkeit einer Agitation versetzt und außerdem in sinnloser Weise der körperlichen Misshandlung ausgesetzt. Die Isolation gegenüber der Berliner Bevölkerung ist durch die roten Fahnen der Demonstration erheblich gewachsen, die Möglichkeit einer Agitation im Sinne der Bewusstwerdung ungeheuer erschwert worden. Auch hier wird aus dem Untergrund einer Stimmung, die sich intellektuell-theoretisch formuliert, die Ansicht vertreten, dass eine breitgestreute Agitation nicht zu leisten wäre. Es ist jedoch nachweisbar, dass gar nicht der Versuch unternommen wird, dafür Bereite und Fähige auszubilden und in die Agitation zu schicken. Was den "Führenden" nicht passt, wird höchstens einmal liberal "erwogen", dann anarchisch verschleppt und manipulativ abgewürgt...

Es wäre nur dialektisch richtig, aber der Wirklichkeit nach falsch, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass die Passivität der Mitglieder ihre eigene Schuld sei. Das ist genau so "richtig", wie wenn man sagen würde, die Menschen haben selbst Schuld, wenn sie die Bildzeitung lesen. Die "Führenden" des SDS-Berlin haben eine autoritäre Struktur geschaffen, von ihnen muss zunächst die Auflockerung dieser Struktur ausgehen. Nur wenn sie permanent freie Räume schaffen, und wenn sie dazu ermutigen, dass diese Räume von der Aussage anderer besetzt werden - zum Beispiel zu einer Diskussion über ihren Misserfolg bei der Humanisierung der Struktur des SDS herausfordern -, kann eine Auflockerung und der Weg zu einer wirklichen Demokratisierung beschritten werden. Wo Menschen zusammenarbeiten, wird immer die Tendenz zu einer autoritären Struktur auftreten. Es wäre illusionär, zu verlangen, dass eine solche Struktur nicht vorhanden sein "darf". Die Forderung besteht darin, wirksame Mittel zu ihrer Bekämpfung einzusetzen und die Wirksamkeit dieser Mittel laufend in der Diskussion zu überprüfen...

Es muss bewusst gemacht werden, wenn ein sich nicht "auf der Höhe" befindlicher Beitrag arrogant abgewiesen wird. Es muss die Bemühung unternommen werden, demjenigen, der einmal die Repression überwunden hat und zum ersten Mal spricht, zur klaren Aussage zu verhelfen, wenn er sich zunächst nicht klar genug ausdrücken konnte. Was hier erreicht wird, wirkt real auf die Ermutigung anderer...

Immer dort, wo ein Initiativvorschlag kurzerhand mit dem Bemerken abgefertigt wird: "Das können wir noch nicht leisten", sollte eine Diskussion gefördert werden, in der untersucht wird, ob wirklich keiner da ist, der das Vorgeschlagene versuchen möchte. Ich habe mehrfach erlebt, wie die Aussage "Das können wir noch nicht leisten" als autoritäres Druckmittel eingesetzt wurde, indem sie die Diskussion über vielleicht bestehende Möglichkeiten abschnitt.

Es müsste darüber diskutiert werden, ob Frauen vorhanden sind, die selbständig politische Arbeit - Arbeitskreise und so weiter - übernehmen. Es müsste bewusst gemacht werden, wie notwendig das gerade für den Berliner SDS ist, wenn seine weitere Entwicklung nicht im vollen Gegensatz zu der theoretisch betonten Emanzipation der Frau verlaufen soll. Wenn ein Raum für die politische Emanzipation der Frau im Berliner SDS geschaffen werden soll, dann müsste die Frau dort erleben, dass ihre Anschauungen beachtet und diskutiert werden. Der vorliegende Zustand äußerst starker Repression gegenüber der Frau wird nur durch einen langsamen Prozess abzubauen sein - vor allem dadurch, dass die Führenden mit den Frauen darüber sprechen, aus welchen Gründen ihr Verhalten zu einer derartig bedrückten Position der Frau in politischer Hinsicht geführt hat. Sie müssten ihnen den Raum einräumen, innerlich und äußerlich, der ermöglicht, dass die Frauen darüber sprechen können. Es ist kein Gegenbeweis, wenn Frauen im SDS behaupten, dass sie sich dort wohlfühlen - es sind nach meiner Erfahrung die, die gar keine politische Initiative dort suchen und die mit der ihnen zugewiesenen Rolle zufrieden sind, weil sie sich gar nicht emanzipieren wollen...

Es genügt nicht, die Notwendigkeit des Anti-Autoritären mit dem Verstand zu begreifen und intellektuell auszusprechen - um dann in der Praxis ins alte autoritäre Fahrwasser zu kommen. Es muss der äußerst schwierige Lernprozess begonnen werden, der zur Überwindung des Autoritären führen kann...

Die öffentlichen politischen Veranstaltungen des SDS werden mehr und mehr zu Kundgebungen autoritären Charakters. Ich habe in diesen Wochen keine öffentliche Veranstaltung erlebt, in der auch nur rein zeitlich die Möglichkeit einer wirklichen Diskussion gegeben war. Die Veranstaltungen waren derartig mit Referaten überlastet, dass man sagen muss: Die Veranstalter wollten gar keine Diskussion. Es erübrigt sich fast zu sagen, dass die anti-autoritäre Absicht angesichts solcher Tatsachen absolut unglaubhaft wird.

Es muss bewusst gemacht werden, dass eine öffentliche Veranstaltung, in der durch Referatsüberhäufung eine Diskussion praktisch ausgeschlossen wird, nichts anderes als eine Gegenmanipulation ist...

Ich hatte gehofft, im Berliner SDS wenigstens einen Versuch einer Praktizierung demokratischer Methoden als einen Weg zur politischen Bewusstmachung von Menschen vorzufinden. Ich sehe, dass um den Beginn davon überhaupt erst gekämpft werden muss, und zwar gegen schwerste autoritäre Widerstände, die sich bereits etabliert haben. Meine Aussage will ein Beitrag zu diesem Kampf sein. Die Situation ist nicht absolut überraschend, wenn auch deprimierend: Es gibt keine Revolution, wenn sie nicht permanent in den eigenen Reihen und auch nach außen geführt wird.

 Peter Schilinski im Februar 1968 (Auszüge)

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 Briefwechsel mit Rudi Dutschke

 Am 9. Januar 1975 schrieb Rudi Dutschke an Peter Schilinski: "Habe lange nichts von mir hören lassen. Wie ist eigentlich die Konferenz über den ‚dritten Weg’ ausgelaufen? Hörte von Herrn Ossip Flechtheim etwas, aber wir sprachen nicht lange genug darüber. Vielleicht kannst Du mir mal bei Gelegenheit etwas zukommen lassen. Mein Interesse für die Prager Richtung hat niemals nachgelassen, ganz im Gegenteil. Ich war mitbeteiligt an der Herausgabe eines CSSR-Buches über ‚5 Jahre Normalisierung’. Für CSSR-Genossen/Genoss-innen im Exil habe ich gerade einen Solidaritätstext für J.Müller (im Gefängnis) geschrieben. Naja, jeder von uns wird das ihm Mögliche tun. Von meinem Buch der Kritik an Lenin-Lukacs und der Kommunistische Internationale wirst Du wahrscheinlich gehört haben. An Ärger mangelt es nicht, alle K-Gruppen, von der DKP (Deutsche Kommunistische Partei) bis zur KPD-ML (Kommunistische Partei Deutschlands, Marxisten-Leninisten) sind schwer sauer, kann man verstehen. Das geht bis zur IV.Internationale. Die Debatte wird mit Sicherheit noch fortgesetzt werden, hoffentlich ergeben sich daraus politisch-organisatorische Konsequenzen. Hoffe sehr, daß es Dir und den Freundinnen und Freunden Deiner Umgebung gut geht."

 Peter Schilinski antwortete darauf am 19. Januar 1975 unter anderem:

Über Deinen Brief habe ich mich sehr gefreut. Die Weiterführung Deines Weges in der außerparlamentarischen Opposition ist Dir wahrscheinlich nach Deinem Buch sicher. Damit sind wir von einer grundsätzlichen Seite her wieder gemeinsam auf dem gleichen Dampfer wie damals auf Sylt und in Berlin.

Der 1. Jahreskongress Dritter Weg (1973) fand ein ziemlich großes Echo. Er fiel ja mit dem Datum des Einmarsches zusammen. Da war fast die ganze Prominenz des Prager Frühlings hier. Es zeigten sich da schon Spannungen zwischen den Freunden aus der CSSR, die auch jetzt noch nicht behoben sind. Ota Sik stieg erst sehr engagiert in unser "Institut für Sozialforschung und Entwicklungslehre" ein. Er hat jetzt eine Professur in Sankt Gallen und einen großen Forschungsauftrag und ist für Jahre gebunden. Außerdem gabs wohl einigen Ärger zwischen ihm und einigen älteren anthroposophischen Freunden, die keinen Weg zueinander fanden.

Auch der 2. Jahreskongress 1974 wurde stark besucht, wenn auch die Prominenz sehr viel dünner gesät war. Da gab es Ärger zwischen Wilfried Heidt und mir. Er wollte absolut alles auf das Thema Selbstverwaltung stellen. Nach meinem Verständnis des Selbstverständnisses des Jahreskongresses waren auch andere Themen möglich und gewünscht. Wilfried und ich sind dabei, uns positiv darauf einzustellen, dass wir in Zukunft sehr verschiedene Wege zu dem Ziel einer geistig freien, rechtlich demokratischen und wirtschaftlich assoziativen Wirtschaft gehen...

Der Jahreskongress Dritter Weg 1975 und so fort soll nun in Zukunft so verlaufen, dass zwei Richtungen nebeneinander arbeiten. Gruppe A, mit der Wilfried arbeitet, will sich auf ein Thema konzentrieren, Gruppe B, mit der ich zusammenarbeite, will die verschiedensten Initiativen verschiedener Gruppen zur Darstellung ihrer Ziele und Wege auffordern mit dem Schwerpunkt gegenseitiger Begegnung und gegenseitigen Austausches. So jedenfalls wurde es in einem ziemlich dramatischen Plenums-Treffen 1974 beschlossen.

Nach meiner Ansicht sind es noch viel zu wenig Gruppen, die einen Dritten Weg suchen, überhaupt miteinander bekannt. Die Bewegung ist noch viel zu schmal. An der Spitze steht eine noch sehr kleine Elite von Wissenschaftlern, die noch kein gemeinsames Konzept haben. Und die, die mitmachen, verstehen noch kaum, was die "da oben" wollen und sind mehr oder weniger verwirrt oder beharren auf ihren Anschauungen, ohne Brücken zu suchen. Am wenigsten suchen die Professoren Brücken von dem, was sie sich in Jahrzehnten erarbeitet haben, zu dem, was sich die anderen ebenfalls oft in langen Jahren erarbeitet haben. Es müsste eine ganz neue menschliche Qualität da hinein, die nicht nur von Toleranz spricht, sondern in freundschaftlicher Art fähig ist, den anderen zu verstehen und mit ihm auf lange Sicht gemeinsam zu arbeiten. Nach meiner Ansicht versucht bis jetzt noch jeder zu stark Fische für seine Auffassungen zu ziehen. Es ist noch ein Nebeneinander, kein konkretes Miteinander.

Meine Freunde hier im INKA (Internationales Kulturzentrum Achberg) und ich arbeiten nun seit mehr als einem Jahr schwerpunktmäßig mit kleinen Gruppen (maximal 15). Wir fahren zu ihnen hin oder sie kommen in die "Kajüte" der Alten Post. Wir möchten jetzt noch einmal den Versuch machen, Methoden zu finden, um besser an den Mann und die Frau auf der Straße heranzukommen. Wir nehmen das Persönliche bewusst mit in die politischen Gespräche hinein und haben - bis jetzt - festgestellt, dass sich dadurch haltbarere Arbeitszusammenhänge in den Gruppen ergeben.

Der Graben zwischen Spitze (auch linker Spitze) und Basis ist furchtbar. Der neuen Gesellschaft fehlt es nicht an brauchbaren Konzepten. Was fehlt ist die Vermittlung von Alternativen an die, mit denen sie verwirklicht werden müssen. Darin liegt für mich die größte Bedrückung und zugleich der Ansporn zur Aktivität. Viele wollen nicht mehr durch Hass zusammengehalten werden. Sie wollen die Unterdrückung abschaffen, ohne dabei andere physisch unterdrücken zu müssen. Sie sind auch bereit, nie Gehörtes aufzunehmen, wenn es ihnen auf der Grundlage einer Vertrauensbeziehung von Mensch zu Mensch erklärt wird. Wir erfahren das hier in der Bauerngaststätte "Alte Post", die wir für sieben Jahre gepachtet haben, um in der Nähe des INKA leben und arbeiten zu können. Wir leben zu siebt in einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft. Dazu gehören noch sechs weitere Freunde und Freundinnen in unmittelbarer Nähe.

Die Aufgabe, neue Formen der Vermittlung zu finden, wird mich in den nächsten Jahren vorwiegend beschäftigen. Du wirst das verstehen, auch wenn Dein Weg ein anderer sein sollte. In Deinem Bewusstsein lebst Du so - ich denke an die Tage auf Sylt und in Berlin - als sei Dein ganzes Wesen Vermittlung, selbst dann, wenn Du schwer verständliche Worte verwendest.

Es wäre toll, wenn Du 1975 zum Jahreskongress Dritter Weg kommen könntest.

Rudi Dutschke war dann im Jahre 1977 in Kassel dabei, wo im Rahmen von 100 Tagen freier Hochschule von Joseph Beuys bei der "documenta" auch der Achberger Jahreskongress Dritter Weg an diesem anderen Ort stattfand.

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Mangel an gesprächsbereiten Dreigliederern

 Sehr herzlichen Dank für Ihren Brief vom 17.Dezember. Ich kann ihn nicht weglegen, ohne ihn sofort beantwortet zu haben. Ja, ich war einige male mit Rudi zusammen und wir hatten auch Iängere Gespräche. Das war noch in der Zeit, in der die Aktivität in Berlin und anderswo noch nicht auf vollen Touren lief - vor dem Vietnam-Kongress 1968. Rudi interessierte sich für die Dreigliederung, ich habe ihm auch ein Exemplar der "Kernpunkte" dagelassen und wir wollten dann irgendwann einmal ausführlich darüber sprechen. Rudi interessierte sich ja für alles, eben auch für das, was außerhalb des Marxistischen Raumes gedacht und getan wurde. Aber dann kam die große Aktivitätswelle, in die auch Rudi so eingetaucht ist, dass er buchstäblich keinen Atem mehr hatte. Ich habe damals lange Zeit hindurch regelmäßig die Sitzungen des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) im Zentrum am Kurfürstendamm mitgemacht. Da fiel mir immer wieder auf und es schmerzte mich sehr: Wenn Rudi mit einem Menschen sprach, dann war er ganz menschlich und ganz verständlich. Wenn er dann im SDS-Zentrum in den sogenannten Generalratssitzungen mit den anderen Leuten vom SDS sprach, dann war er eigentlich nur noch Marxist.

Es war ja so, dass der eine den anderen stets überboten hat an wissenschaftlich fundierter, mehr unverständlicher abstrakter Aussage, es war so, dass man sich gerade deshalb in die Haare bekam, weil eigentlich keiner mehr wirklich verständlich sprach. Wir haben dann noch auf Sylt in unseren Witthüs-Teestuben mit Rudi zusammen eine große Veranstaltung durchgeführt,und da war es wieder so, dass Rudi in seinem Referat ziemlich unverständlich war, aber nachher im Gespräch von überströmender Herzensgüte, auch zu denen hin, die, Rudi beschimpfend, den Raum verlassen wollten. Ich höre noch, wie Rudi ihnen nachrief, bleiben Sie doch hier, wir können doch miteinander reden, wir werden sicher einen Weg finden, dass wir uns verstehen! Mancher blieb dann auch und es gab Gespräche bis tief in die Nacht hinein. Wir machten ja damals auf Sylt noch regelmäßig unsere Sonnabend-Gespräche so, wie wir sie jetzt hier in Wasserburg dreimal in der Woche durchführen. Als Rudi wieder fort war und wir das nächste Gespräch hatten, da war es gesteckt voll. Für mich war es wieder erschütternd, wie Leute, die ich als ganz harte   Kapitalisten kannte, doch von Rudi so beeindruckt waren, dass sie einfach sagen mussten, das ist ein guter Mensch, mit dem kann man sprechen.

Entscheidend für die APO damals in Berlin war, ob einer, der eine politische Meinung vertrat, eine zahlenmäßig einigermaßen starke Fraktion sozusagen hinter sich hatte. Rudi sprach mich immer wieder darauf an und sagte, wo bleiben denn deine Dreigliederer! Genau an diesen Punkt liegt eben die ganz große Tragik. Ein paar jugendliche Freunde, die ich damals hatte, die auch die Dreigliederung vertraten, waren im süddeutschen Raum gebunden. Immer wieder fragte ich mich in Berlin verzweifelt, wen ich antelefonieren könnte, wen ich holen könnte, um Rudi auch noch andere Dreigliederer zu zeigen, die wirklich mit dieser Jugend sprechen konnten. Sie wissen vielleicht, dass es ja in der anthroposophischen Bewegung traditionell ganz wenige Vertreter der Dreigliederungsidee gegeben hat und auch noch heute gibt. Und die wenigen, die es gibt, sind im eigenen Raum der Dreigliederung nahezu heillos zerstritten. Ich ging damals in Berlin in meiner Vorstellung alle mir bekannten Vertreter der Dreigliederungsidee durch und kam zu dem Ergebnis: Da ist keiner, den ich nach Berlin holen könnte, keiner ist fähig, mit den Studenten, wie sie eben damals waren, zu sprechen.

Die Anthroposophie hatte diese Leute eben nicht dazu geführt, auch nur annähernd zu verstehen, dass eine junge Generation aus einem vorübergehenden Hass gegen die bürgerlichen Elternhäuser für ihren eigenen Umgang die allergröbsten Worte wählte, eigentlich nur um zu zeigen, wir wollen mit diesen bürgerlichen Spießern auf keinen Fall mehr etwas zu tun haben. Hinter ihren außerordentlich groben Worten, die sich ja ganz besonders gern auf die Intimbeziehung bezogen, stand oft eine ganz schmerzerfüllte und suchende Seele. Das fühlte ich sehr und ich konnte wirklich lachen, wenn ich sie da sah, wie sie wie die ungezogenen Jungen in fürchterlichen Worten fühlten, ich möchte die jetzt hier nicht wiederholen, nur um sich gegenseitig zu zeigen, dass sie wirklich einer ganz neuen Welt angehören wollten. Ich verstand das, ich hatte bei Rudolf Steiner gelernt, es zu verstehen. In irgendeinem Vortrag am Anfang dieses Jahrhunderts sprach er ganz deutlich, dass eine Jugend kommen werde, welche aus dem Erleben in der geistigen Welt heraus mit radikaler Intensität eine Welt würde vorfinden wollen, in welcher das Geistige nicht nur abstrakt, sondern wirklich als soziale Realität eine entscheidende Rolle spiele. Steiner sagt in diesem Vortrag ungefähr so, daß diese Generation, wenn sie abermals eine vollmaterialistische Weit vorfinden würde, wenn die Anthroposophie nicht würde verbreitet worden sein, dann würden sie kaputtschlagen, was sie vorfinden würden und von dem sie deutlich fühlen, dass es sie kaputt mache.

Ich habe damals eine kurze Zeit mit den führenden Anthroposophen in Dornach bewusst einen regen Kontakt gepflegt. Es gab eine ganz kurze Zeit um 1968, in der  einige der führenden Leute in Dornach ein ganz wenig offen waren. Sie ahnten irgendwie dumpf, dass sich da in Berlin und anderswo etwas ereignet, was sie eigentlich hätte auf den Plan rufen müssen. Aber sie hatten weder den Willen dazu und vor allem nicht die menschliche Fähigkeit. Sie wissen vielleicht, dass es kaum einen Anthroposophen der älteren Generation gibt, der mit den, wie man so sagt, saloppen jungen Leuten von damals und heute wirklich sprechen kann. Nach meiner Überzeugung ist es so, dass nach dem Tode Rudolf Steiners eine umfassende Passivität die anthroposophische Szene ergriffen hat. Man begnügte sich mit der Begründung von Institutionen, die man gegen gute Unterstützung mehr als freiwillig von etablierten Kräften umklammern lässt. Grosse, ins Soziale eingreifende Impulse gibt es nicht mehr. Das ist ja auch jetzt mit der Friedensbewegung so, zu guter letzt erscheint dann auch noch ein Buch vor etwa zwei Wochen mit dem Titel "Friedensfähigkeit durch Anthroposophie". In dem Buch ist vom Frieden so gut wie überhaupt nicht die Rede, um so mehr von jener traditionellen Anthroposophie, die wir kennen.

Die Anthroposophie muss in vollkommen neuer Form von ganz anderen Menschen in die Praxis des persönlichen und politischen Lebens hineingebracht werden. Ich bin nun hier in Wasserburg gelandet und bemühe mich darum, vielen jungen Leuten, die uns besuchen, aus der Alternativ-Szene, etwas über Anthroposophie und Dreigliederung zu sagen. Das Bedürfnis danach wird sehr stark geäußert und die Erfahrung, die sie an anderen Orten machen, veranlasst sie immer wieder dazu zu sagen, sie hätten nie geglaubt, dass das, was wir hier aussprechen und leben, auch mit Anthroposophie zu tun haben könnte. Auch Rudi Dutschke hätte sicherlich einen konkreteren Weg in die Anthroposophie gefunden, wenn damals 1968 eine starke Gruppe von Dreigliederern, offen und gesprächsbereit, in Berlin gewesen wäre.

Eine starke gesprächsbereite und offene Gruppe von Menschen, die außerdem noch Dreigliederer waren, das hätte Rudi Dutschke beeindruckt, wie ihn immer Menschen beeindruckt haben. Aber diese Menschen gab es nicht. Irgendwann muss es sie geben. Ich meine, dafür müssen wir tätig sein... Wir werden viel Kraft brauchen!

Peter Schilinski in einem Brief vom 22. Dezember 1982 an Anne Drüke. Sie hatte Rudi Dutschke im Herbst 1979 in der Stadthalle von Bremen erlebt.

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 Rudolf Steiner und Rosa Luxemburg

 Man mag sich wundern, dass Steiner mit großem Elan in diese sozialdemokratische Einrichtung eingestiegen ist. In «Mein Lebensgang» legt er Zeugnis davon ab. Aber auch in «Die Kernpunkte der sozialen Frage...» und in einem Vortrag «Beruf und Erwerb» vom 12. März 1908 äußert er sich über sein Engagement in der Arbeiterbildung. Er hatte es mit einer marxistisch orientierten Arbeiterschaft zu tun und ging darauf ein:

«Man muss bedenken, dass in dem wirtschaftlichen Materialismus, den die Arbeiter durch den Marxismus als materialistische Geschichte in sich aufnehmen, Teilwahrheiten stecken. Und dass diese Teilwahrheiten gerade das sind, was sie leicht verstehen. Hätte ich daher mit völligem Außerachtlassen dieser Teilwahrheiten idealistische Geschichte gelehrt, man hätte in den materialistischen Teilwahrheiten ganz unwillkürlich das empfunden, was von meinem Vortrage zurückstieß. Ich ging deshalb von einer auch für meine Zuhörer zu begreifenden Wahrheit aus. Ich zeigte, wie bis zum 16. Jahrhundert von einer Herrschaft der wirtschaftlichen Kräfte, wie dies Marx tut, zu sprechen, ein Unding sei. Wie vom 16. Jahrhundert an die Wirtschaft erst in Verhältnisse einrückt, die man marxistisch fassen kann, wie dieser Vorgang dann im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt erlangt. So war es möglich, für die vorangehenden Zeitalter der Geschichte die ideell geistigen Impulse ganz sachgemäß zu besprechen und zu zeigen, wie diese in der neuesten Zeit schwach geworden sind gegenüber den materiell-wirtschaftlichen ... »

Steiner hatte beachtliche Erfolge in der Arbeiterbildungsschule. Er scheute sich deshalb auch nicht, auf großen Arbeiterkundgebungen zu sprechen. Anlässlich des 5oojährigen Gutenberg-Jubiläums hielt er vor 7000 Druckern und Setzern am 17. Juni 1900 im Zirkus Schumann die Festrede. So ist es auch nicht verwunderlich, dass er gemeinsam mit Rosa Luxemburg auftrat, als in Spandau eine neue Arbeiterbildungsschule eröffnet wurde. In dem Mitteilungsblatt «Die Laterne» lesen wir:

«Zu einer imposanten Weihefeier gestaltete sich die öffentliche Versammlung, welche aus Anlass der Gründung einer Bildungsschule zum letzten Sonntag einberufen worden war. Die Versammlung, welche auch von Frauen gut besucht war, lauschte aufmerksam dem fesselnden Vortrage unserer Genossin Dr. Luxemburg, die ein anschauliches Bild davon gab, wie schwer jede Wissenschaft von jeher gegen stupides Vorurteil oder die Unterdrückungsversuche der in ihrer Herrschaft bedrohten Gewalthaber hat ankämpfen müssen, wie sie aber trotz alldem, trotz Torturen und Martern aller Art, trotz Zuchthausgesetz usw. sich noch stets siegreich durchgerungen. Die Referentin unterzog dann die bürgerliche Wissenschaft einer Prüfung auf ihren geschichtlichen Wert und kennzeichnete den entschiedensten Gegensatz zwischen dieser und der proletarischen Wissenschaft. Heute, so führte sie aus, steigen bürgerliche Professoren nur deshalb zu dem Volk hinab, um aus diesem gefügige Werkzeuge für Flotten- und Zollvorlagen usw. beim Volke Propaganda zu machen. Rednerin schloss unter lautem Beifall mit der Mahnung, die proletarische Wissenschaft jederzeit hoch zu halten und darum auch die neugegründete Bildungsschule lebensfähig zu gestalten. Hierauf machte Herr Dr. Steiner längere, temperamentvolle Ausführungen, indem er seine vollste Übereinstimmung mit der Referentin kundgab.“

Steiner selber berichtet über diese Veranstaltung: «Der Freiheitsgedanke muss in einer Wissenschaft der Freiheit verankert sein. Dass man das der <durchbölschten> Bourgeoisie nicht leicht beibringen kann, wohl aber dem Proletariat, das hat sich mir manchmal gezeigt. So zum Beispiel zeigte es sich, als ich einmal in Spandau vor den Reihen der dort versammelten Arbeiter zunächst nur ein paar Worte sagen wollte, woraus aber dann eine fünf Viertelstunden lange Rede geworden ist, nachdem Rosa Luxemburg - sie ist ja hinlänglich bekannt - ihre große Rede vor dieser Arbeiterschaft gehalten hatte. Diese bestand aber nicht nur aus Arbeitern, sondern man hatte auch Weib und Kind mitgebracht. Wickel- und kleine schreiende Kinder, Hunde und alles mögliche waren im Saal. Als ich hinterher, nachdem Rosa Luxemburg ihre Rede über „Über die Wissenschaft und die Arbeiter“ gehalten hatte, gerade daran anknüpfte, dass ein wirkliches Fundament schon daläge, das wäre das, Wissenschaft geistig zu erfassen, das heißt, aus dem Geiste heraus nach einer neuen Lebensgestaltung zu suchen, da fand ich mit solchen Dingen immerhin einige Zustimmung ...»

Rosa Luxemburg scheint zu Rudolf Steiner ein gutes Verhältnis gehabt zu haben. Das zeigt jedenfalls ein Brief, den sie neun Monate nach dem gemeinsamen Auftreten an ihn geschrieben hat. In ihrem Schreiben vom 14. Oktober heißt es: «Sehr geehrter Herr Doktor, die Überbringerin dieser Zeilen, eine mir sehr gut bekannte Dame, meine Landsmännin und Genossin, wünscht sich in einigen literarischen Fragen Ihren sachkundigen Rat zu erbeten. Ich rechne auf Ihre Liebenswürdigkeit! Hoffentlich geht es Ihnen gut. Von Ihren Erfolgen in der Arbeiterbildung höre ich immer von Zeit zu Zeit. Neulich hat man mich durch Kautskys Einfluss durchaus in das national-ökonomische Lehrgut anspannen wollen, ich habe aber den Anschlag tapfer, wenn auch mit blutendem Herzen abgeschlagen. Die Popularisierung der Wissenschaft ist für mich eine der schönsten Aufgaben, aber ich ziehe immer noch vor, ich krasser Egoist, selbst an ihren Mutterbrüsten zu saugen! Mit freundlichstem Gruß Dr. Rosa Luxemburg.»

 Renate Riemeck in dem von Angelika Oldenburg herausgegebenen Buch: Zeitgenossen Rudolf Steiners (Verlag am Goetheanum, Dornach 1988)

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 Konkurrenz und Individualität

 Es mag zunächst “weit hergeholt” erscheinen, aber die Lebenskonflikte vieler Menschen sind im Grunde die zwischen Sein und Werden. Ein jeder Mensch hat sein Sein von Natur aus, es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er ist; ob er aber auch die Möglichkeit zum Werden hat, zur Ent-Wicklung, dies hängt vom Zustand der Erde, von den Sozialformen der Menschengemeinschaften und von vielen derartigen Faktoren ab. Gewalt ist z.B. ein Faktor, der das Werden eines Menschen unterdrücken oder gar verunmöglichen kann, und Gewalt wird in vielerlei Formen ausgeübt. Das Sein eines Menschen kann dadurch nicht im Kern zerstört oder ausgelöscht werden (auch wenn sich, z.B. ein Gefolterter, so fühlen mag), aber sein Werden wird behindert oder beeinträchtigt. Das “Werden” konfiguriert sich dann als ein Leiden.

Versucht man, die Situationen des Leidens anzuschauen, so findet man, dass sie zumeist durch Krankheit oder durch soziale Gewalt oder Gewalttätigkeit hervorgerufen werden. Die Geschichte des Christentums, genauer gesagt: die der westlichen Kirche, hat einiges dazu getan, dem menschlichen Leiden einen geradezu verdächtig übermäßigen Wert zuzumessen. Selbst von etwas, was man gerne tut, etwa Briefmarkensammeln, wird als von “Passion” gesprochen, als ob es sich um einen Kreuzweg handele, – so sehr wird dieser geschätzt. Sieht man manchen Freizeitsportler oder Fitness-Aktivisten, so kann man den Eindruck bekommen, dass es auch da eine gewisse Bereitschaft gibt, zu leiden, und dass ohne ein bestimmtes Maß an Selbstkasteiung manche Menschen sich nicht wirklich glücklich fühlen können. Es soll das nicht belächelt werden, denn es kann durchaus etwas Heroisches darin liegen, etwa eine Verachtung der körperlichen Widerstände und Gebrechen.

Indem das Kirchen-Christentum nun einseitig Leiden predigte, konditionierte es den Menschen allerdings auch etwas in Richtung Passivität. Und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Leute, die gern allein führen und bestimmen wollen, am besten dazu Mitmenschen mit passiver Leidensbereitschaft gebrauchen können. Alles mögliche Elend, was schon das Mittelalter, dann Indu-strialisierung und Kriegszeiten durchzog, wurde vielfach nur ertragen in Gedanken und Nachfolgebereitschaft der Passion Christi, woraus allerdings die groteske Situation entstand, dass man glaubte, die “führenden” Leute der Welt müssten allesamt verdorbene Henkersknechte und Schächer sein, denen eben die Aufgabe zugeschustert wird, die gutgesinnte Menschheit zu martern und hinzurichten. Radikale “Verschwörungstheorien”, die partout hinter aller weltlichen Logistik nur das Böse werkeln sehen wollen, haben hier ihren eigentlichen Ursprung: eine Art Kreuzigungserwartung. – Signifikant ist, dass im römisch-katholischen Abendland und in seinen protestantischen Ausläufern vor allem das Weihnachtsfest das zentrale ist, während in der Ostkirche das Osterfest, die Auferstehungsfeier, wichtiger ist. Nicht die passive Empfängnis, schon in Hinblick auf das Hinrichtungsmotiv und das Leiden, sondern die schöpferische Durchdringung und Überwindung des Elends stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Man kann auch sagen: Das Sein hat das Werden, welches durch die Henker und Philister verunmöglicht wurde, überwunden und in eine höhere Stufe heimgeholt, in der das Werden auch wieder am unsterblichen Sein teilhaben kann.

Es mag wiederum entlegen erscheinen, aber gegenwärtig bewegte Fragen zum “Grundeinkommen” kreisen im Grunde darum. Denn die Frage ist: Wird dem grundsätzlich (da) seienden Menschen auch ein Werden ermöglicht? Oder ist die Gesellschaft so beschaffen, dass sie gar keine Werderäume mehr zur Verfügung stellt, also bloß Leiden produziert?

Geht man nochmals auf die “letzten Ursprünge” zurück, so stellt sich heraus, dass die Existenz des Einzelnen und auch der gesamten Welt nicht aus Leiden geboren ist, sondern aus Willen (selbst die “Urknall”-Theorie weist darauf hin), und dass diesem Wollen (mythologisch und personal) die höchste Lust und Seligkeit innewohnt – dies ist die tiefere Bedeutung des Wortes Woll-Lust. Leid und Kritik sind dagegen als Folgeerscheinungen sekundär, dies lässt sich leicht logisch nachvollziehen: Erst muss etwas da sein, damit es angegriffen werden kann, und jegliche Zerstörung setzt das zu Zerstörende voraus, welches selbst aus anderen Kräften als aus denen der Zerstörung hervorgegangen sein muss. Nietzsche ahnte es, als er formulierte: “Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.”

Das Grund-“Einkommen” ist insofern ein etwas irreführender Begriff, weil er reinen Bedarf betrifft, aber das eigentlich Grundlegende jedes Menschen ist zunächst einmal sein Sein, sein bloßes Dasein. Das zu akzeptieren ist noch gar nicht selbstverständlich, denn von allen möglichen Seiten wird ja versucht, das Grundsein wegzubeweisen, und dies hat verschiedenste Formen von destruktivem Zynismus dem Menschen gegenüber gezeitigt. So kre-ierte ausgerechnet der anglikanische Pfarrer Thomas R. Malthus (1766-1834) den Begriff der “Überbevölkerung”, ohne natürlich dabei die nötige Selbstanwendung anzubringen, dass er selbst es sein könnte, der “zuviel” sei. Später setzte sich der Begriff geradezu rassistisch gegenüber sogenannten “Entwicklungsländern” durch, d.h. Ländern, denen ihre ursprüngliche native Kultur und Selbsterhaltung durch Kolonialisten genommen wurde.

Das eigentliche Problem der “Überbevölkerung” hängt vielmehr mit der Stadtentwicklung zusammen. Denn obwohl die frühen Städte (die europäische Stadtentwicklung setzte massiv etwa um 1250 ein) noch etliche Bauernhöfe im Innern beherbergten, wurden diese bald infolge Platzmangels durch Zuzug ausgelagert. Das Verhältnis des einzelnen Menschen zu dem für seine Ernährung nötigen landwirtschaftlichen Raum ist in der Stadt am schlechtesten, in Hochhäusern sinkt es gegen Null. Jeremy Rifkin stellte fest, dass mit dem Jahr 2007 erstmals mehr Menschen weltweit in Städten leben als auf dem Land. Die Stadtentwicklung im Hochmittelalter führte nicht nur zur Heranbildung und Stärkung der Klasse des Bürgertums (also der innerhalb eines Burgfrieds Lebenden), sondern auch zur Steigerung von Handwerk und Handel. Städte wurden Märkte und Messeplätze, und also bildete sich in ihnen auch nach und nach die neuere Dominanz des Wirtschafts- und Bankwesens heraus. Damit aber zugleich das Phänomen der Konkurrenz, denn concurrere (lat.) bedeutet zunächst nichts als “zusammenlaufen”, so wie eben Anbieter und Aussteller auf einem Markt oder einer Messe sich zusammenfinden. Der Begriff der Konkurrenz hatte also zunächst einen positiven Charakter, und der negative stellte sich erst ein, als die “Konkurrenz” (im ursprünglichen Sinne) zu groß wurde. Das tätige Individuum wurde konfrontiert mit dem Typischen der Arbeit und des Handwerks, und mit zunehmendem Zuzug in die Städte begann eine fachbezogene “Überbevölkerung”, und man versuchte, mit Zunftregelungen etwa die Zahl der Meister auf einem bestimmten Gebiet zu beschränken. Dies führte zu darwinistischen Sozialentartungen, wie etwa, dass sich Gesellen an die Meistertöchter heranmachten, da sie bei Erfolg davon ausgehen konnten, den Betrieb und damit das Zunftrecht einmal zu übernehmen. Die Pechvögel Darwins hatten dabei das Nachsehen und wurden “vaterlandslose Gesellen”, gingen auf Wanderschaft (quasi als “Asylanten”), oder dienten sich als “freie” (und entsprechend verwilderte) Söldner, Muntmannen oder Landsknechte an. Die Treffpunkte der “Vogelfreien”, die Herbergen der Wanderschaft, wurden teils zu Gärzellen der Unzufriedenheit und der Wut gegen Obrigkeit und exklusive Ordnung, und manche christlich Gesinnten suchten dem entgegenzuwirken (so entstanden u.a. die Kolpingsfamilien).

Durch Zunahme des Handels und der Großkaufleute entstanden Betriebsvergrößerungen, in denen auch nicht mehr alle Gesellen Meister werden konnten. Schließlich wandelten sich derartige Betriebe in Manufakturen und frühe Industriestätten, deren Arbeitsverhältnisse etwa der Dichter Hartmann von Aue schon im 13. Jh. beklagt. Der Zynismus des “überflüssigen Menschen” entsteht also zweifelsfrei an der Stadtentwicklung und spiegelt sich heute noch im Gegensatz von städtischer Anonymität und persönlichem Interesse am Einzelnen in der Landbevölkerung (wenn auch oft in sonderbarer Form), wo diese noch nicht völlig in industriellen Methoden unterjocht wurde. Der Normungs- und Nivellierungsgedanke von Städten und globalem Großhandel steht heute einem wieder erwachenden kulturorientierten Regionalismus gegenüber, wie ihn die Tourismus- und Kulturbranche allerdings schon länger pflegten. Das Großkaufmannswesen führte zur industriellen Massenproduktion, deren Erzeugnisse jedoch für einen wiedererstehenden Individualismus immer uninteressanter werden. Im gleichen Zuge rebellieren lokale Kulturen gegen übergreifende, ab-strakte und oft gewalttätige Nationalstaaten, das Verhältnis der regionalen Kulturen zum Einheitsstaat ist ungelöst, wie es z.B. die Regionen von Kurdistan, Tirol, des Baskenlandes, Karelien, Nordirland, der Kosovo und manche ähnlichen Gebiete zeigen. Das Zugeständnis einer eigenen Kultur- und Bildungsverwaltung und einer funktionalen Aufgabengliederung würde hier neue Wege zwischen radikaler (und meist illusionärer) Integration oder Autonomie ermöglichen.

Schon beim Spracherwerb zeigt sich, dass der Mensch ursprüng-lich ein kulturelles Wesen ist, und die betont künstlerische Gestaltung früher Kulturzeugnisse bringt dies ebenfalls zum Ausdruck. Als solcher ist er Teilnehmer und Teilhaber an einer schöpferischen Welt, welche unmittelbar mit seiner Individualität verbunden ist. Versuche, ihn zum Arbeitssklaven oder Handelsobjekt zu degradieren (solches bezeichnet ja auch der Begriff Arbeits-“Markt”), dienen der Entwürdigung des Menschen. Die Diskussion um ein “Grundeinkommen” spiegelt mehr als bloß den ökonomischen Bedarf des Einzelnen, sie kann auch als Suche nach einer neuen Selbstdefinition, als Streben nach einer Selbstrestitution begriffen werden. Der Künstler Friedrich Hundertwasser ging einen Schritt voraus, wenn er goldene Türme an die allgemeinen Wohnhäuser anbringen wollte. Die Exklusivität des Luxus, der früher Fürsten, Königen und Zaren vorbehalten war, soll nunmehr dem Einzelnen zukommen, der nicht weniger als Königsrecht hat. Als Nachweis gilt das Potential seiner individuellen Kreativität.  Aus dieser kann ein neues “Konkurrere” entstehen, welches nicht abscheidend oder ausstoßend gegeneinander gerichtet ist, sondern auf einen erneuerten Markt zusammentragend, was Zeugnisse individuellen und regionalen schöpferischen Vermögens sind.

Andreas Pahl, Nov. 2007

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